Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Über den Zusammenhang zwischen Finanz- und Erinnerungspolitik

Jarosław Kuisz · 17 September 2013
Als die Finanzkrise aus den USA auf Europa überschwappte, zeigte sich, dass Berlin am besten mit ihr zurechtkommt und nach und nach in der EU die Initiative übernimmt. Die wachsende Dominanz Deutschlands weckte jedoch Assoziationen mit der Vergangenheit. Nichts überzeugt mehr davon, dass Wirtschaftspolitik von einer wirkungsvolleren Erinnerungspolitik begleitet sein muss, als die gegenwärtige Krise.

Als vor der Abreise zum G-20-Gipfel nach Petersburg die Staatsoberhäupter der Welt die letzten Details vorbereiteten, schlugen Joachim Gauck und François Hollande für einen Moment die entgegengesetzte Richtung ein. Die Präsidenten trafen sich in Oradour-sur-Glane, einer Ortschaft, die außerhalb von Frankreich nicht weiter bekannt ist. Im Jahr 1944 hatte die deutsche Armee mit Methoden, die eher an der Ostfront verbreitet waren, fast alle Bewohner ermordet. Nach dem Krieg hatte General Charles De Gaulle entschieden, zum Gedenken an die Opfer des Massakers (642 Menschen) das zerstörte Oradour-sur-Glane nicht wieder aufzubauen. Bis heute stehen auf den Straßen die Überreste verbrannter Autos aus den 30er Jahren; aus der Vogelperspektive kann man in das Innere der ausgebrannten Häuser schauen.

Gegen Probleme hilft Deutschland

Als die Finanzkrise aus den USA auf Europa überschwappte und sich herausstellte, dass Berlin am besten mit ihr zurechtkommt, mehr noch, dass es aus diesem Grund nach und nach die Initiative in der EU übernimmt, machten sich in fast ganz Europa verschiedenste antideutsche Ressentiments stärker bemerkbar. Wie zum Trotze des allgemein verbreiteten Gejammers über das zurückgehende Niveau des Schulwissens bezüglich Geschichte und des Übermaßes an Gesten der politischen Versöhnung, zwingt uns die ökonomische Krise dazu, dieses Problem aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Erstens ist Deutschland zu einem Zerrspiegel für die Misserfolge der Reformen in vielen EU-Ländern geworden. Fast in der gesamten EU erinnern sich die Ökonomen an die Reformen der Regierung Schröder und zerlegen bis heute das Hartz-Konzept und seine Umsetzung in Einzelteile. Die Flexibilisierung der Anstellungsformen in Verbindung mit Steuersenkungen für die Reichsten – in den Kommentaren zum Thema Deutschland war ein neuer Ton der Faszination für das „deutsche Wirtschaftswunder“ zu vernehmen. Worauf aber sind die Ergebnisse der Experten zurückzuführen? Charakteristisch scheint hier die Radiosendung von BBC Analysis zu sein, in der nach allseitiger Analyse der deutschen Arbeitskultur festgestellt wurde, dass sich diese auf Großbritannien nicht direkt anwenden lässt. Zum Trost wurde hinzugefügt, die Situation auf den Inseln sei gar nicht so schlecht. Oxford und Cambridge stehen in den Rankings weiterhin vor den deutschen Hochschulen. Soweit die lehrreiche Schlussfolgerung.

 Der Populismus und der Geist der Vergangenheit

Zweitens hat die wachsende Dominanz Deutschlands Assoziationen mit der Vergangenheit geweckt. Manchmal möchte man meinen, dass alle Versöhnungsgesten zwischen den Völkern Europas für einen Teil der EU-Bevölkerung an Bedeutung verlieren. Aus verständlichen Gründen wird in ganz Europa die aktuelle Krise mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre und der damals herrschenden Atmosphäre verglichen. Dennoch hat mit der Krise der Eurozone und den finanziellen Schwierigkeiten einzelner Staaten eine Welle antideutscher Ressentiments von sich hören gemacht. Das Überangebot an Karikaturen im Internet und an Memen kann man ignorieren, da sie im Grunde keine größere Bedeutung haben. Auch die fremdenfeindlichen Sprüche während der Straßenproteste im Süden Europas könnte man als bedauernswerte Episoden in Stile des unrühmlichen an Martin Schulz gerichteten Auftrittes von Silvio Berlusconi im Europaparlament verbuchen. Anders jedoch stellen sich die Dinge dar, wenn sich heute Politiker der Hauptströmung der politischen Szene in ähnlichen Erwägungen versteigen, die zu Elemente der Debatten über europäische Angelegenheiten werden. Beispielsweise hat der prominente linke Politiker und Minister der amtierenden französischen Regierung Arnaud Montebourg offiziell die Politik Angela Merkels mit der Politik Bismarcks verglichen, der eine dominierende Position in Europa anstrebte (Montebourgs Statement vom 1. Dezember 2011). In Osteuropa lassen sich in den vergangenen Monaten unschwer ähnliche Beispiele finden. Während der letzten Präsidentschaftswahlen in Tschechien hat man sich gefragt, ob Karel Schwarzenberg nicht allzu deutsch sei, um sein Land repräsentieren zu können. Es ist also nicht verwunderlich, dass kürzlich The Economist auf seinem Cover den deutschen Adler platziert hat, wie er schamvoll seinen Schnabel mit dem Flügel verdeckt. Der Titel des Sonderberichts „Der unwillige Hegemon“ ist im Prinzip selbstredend.

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All das geschieht in einem Moment, da die deutsche Politik von Personen repräsentiert wird, die die Erfahrung gemacht haben, im Kommunismus zu leben. Es ist paradox, dass das Odium auf Personen fällt, die diese Geschichte am eigenen Leibe erfahren haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat fast 35 Jahre lang in der DDR gelebt; ihre Biografen schreiben, dass für sie das Jahr 1968 mit dem Prager Frühling verbunden ist, und nicht mit den Barrikaden in Paris. Joachim Gauck hingegen ist zum Symbol des anständigen Abschlusses der Abrechnung mit dem Kommunismus geworden. Ihre Erfahrungen sind den Erfahrungen derjenigen näher, die sich an die Staaten der Volksdemokratie mit ihrer fehlenden Meinungsfreiheit, an die Geheimdienste und an die Verwaltung des Mangels erinnern. Erst kürzlich wies Timothy Garton Ash darauf hin, dass an diesem Ort noch immer die Quellen des großen Enthusiasmus für das Projekt Europa sprudeln – eines Enthusiasmus, nach dem man in Westeuropa regelrecht suchen muss (ein lehrreiches Beispiel ist Großbritannien).

Es ist also kein Zufall, dass Menschen wie Gauck die Bedeutung der Vergangenheit für die heutige Politik zu schätzen wissen und zu Gesten wie der in Oradour-sur-Glane fähig sind. Nichts überzeugt mehr davon, dass Wirtschaftspolitik von einer wirkungsvolleren Erinnerungspolitik begleitet sein muss, als die gegenwärtige Krise. Mit der historischen Ignoranz kommender Generationen der Europäer braucht man nicht zu rechnen.