Als während der Eröffnungszeremonie zu den Olympischen Sommerspielen im Olympiastadion in London plötzlich Dutzende als Krankenschwestern verkleidete Schauspielerinnen auf den Rasen liefen und ihre kleinen Patienten bettfertig machten, lobten die Zuschauer nicht nur in Großbritannien die Veranstalter für die schöne Hommage an das britische Gesundheitswesen, die durch die Blume an den britischen Wohlstandsstaat gerichtet war. In Wirklichkeit aber war nicht nur diese Szene, sondern die gesamte Zeremonie eine Hommage an ein Großbritannien, das inzwischen fast der Vergangenheit angehört. In den idyllischen englischen Landschaften ist nach der Zeit der Imperialmacht die Zeit – so der Regisseur des Spektakels Danny Boyle – zum Abschied vom Wohlfahrtsstaat gekommen, einem weiteren Element der britischen Identität.
Von allen Seiten hören wir, dass das bisherige Modell des Sozialstaates, das nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa aufgebaut wurde, Veränderungen erfordert. Wie nämlich soll man einen starken Staat aufbauen, der nach dem Ausgleich gesellschaftlicher Unterschiede strebt, wenn der Einfluss der Politiker auf das Schicksal der Länder zurückgeht, weil internationale politische und wirtschaftliche Institutionen immer mehr zu sagen haben; wenn die Gesellschaften immer unterschiedlicher werden, was wiederum die soziale Solidarität schwächt; wenn die demografischen Zahlen zeigen, dass die Aufrechterhaltung der Sozialfürsorge auf dem derzeitigen Niveau nicht möglich ist? Seit Jahren wird eine Frage immer wieder gestellt: Wie den immer größer werdenden Staat mit dem – von schließlich fast allen politischen Kräften geschätzten – Ideal der individuellen Freiheit und der Selbstverwirklichung in Einklang bringen?
Ein Teil der auf diese Weise an die Wand gedrückten Linksliberalen antwortet, die einzige Lösung sei die Rückkehr zur aktiven Bürgergesellschaft, die Entmachtung der zentralen Institutionen und ihre Übergabe an die möglichst niedrigste Ebene: an starke, von unten organisierte gesellschaftliche Gruppen. Eine solche Lösung soll zumindest in der Theorie eine Antwort sein auf die Mehrheit der zuvor erwähnten Phänomene, die das bisherige Modell des Sozialstaates untergraben. Erstens führt eine solche Lösung zu Einsparungen, weil der bürokratische Apparat verkleinert wird. Zweitens gibt sie angesichts der wachsenden Unterschiede der modernen Gesellschaften den lokalen Strukturen die bei der schnell wechselnden Zusammensetzung und für die Lebensbedingungen lokaler Gemeinschaften notwendige Flexibilität. Drittens führt die Aktivierung der Bürger auf lokaler Ebene zum Wiederaufbau zerrissener gesellschaftlicher Bindungen und Hilfsnetzwerke. Im Endeffekt schafft es neue Möglichkeiten für die Pflege der jüngsten und ältesten Gemeinschaftsmitglieder, und kann dabei zumindest teilweise zur Änderung ungünstiger demografischer Trends beitragen. Und viertens gibt diese Lösung dem Volk die Macht, dem Individuum mehr Freiheit, und sie macht den Staat nicht nur kleiner, sondern auch transparenter. Gleichzeitig gestattet sie der Linken, dem Vorwurf zu entgehen, sie würde einen zu großen und „überfürsorglichen“ Staat bauen.
Alle oben aufgeführten Argumente sind in Großbritannien auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Ein Teil der dortigen Linken, der enttäuscht ist von der Niederlage von Tony Blairs „drittem Weg“ hat diese Argumente unterstützt, obwohl sie von David Cameron stammten, dem Leader der Konservativen Partei, der mit dem Motto „Aufbau einer großen Gesellschaft“ (Big Society) in die Parlamentswahlen ging. Noch 2010 hatte der ehemalige Abgeordnete der Labour Party und Professor der Universität in Oxford,David Marquand, in Kultura Liberalna den „kritiklosen Etatismus“ seiner früheren Gruppierung angegriffen. Den Regierungen Blair und Brown warf er vor, einen „zwanghaften Sozialstaat zu schaffen, der dem Individuum um keinen Preis die geringste Selbständigkeit gestatten will“. Er verteidigte Cameron, indem er behauptete, dessen Appell sei ein interessanter Gedanke „auf der Suche nach einem Weg, der die individuelle und die soziale Sichtweise verbindet“, und nicht nur ein angenehmer Deckmantel für die radikalen Kürzungen von Sozialausgaben und für die Entlastung der staatlichen Schultern, von denen die Verantwortung für die Geschicke der Gesellschaft genommen wird. Obwohl viele Sympathisanten der britischen Linken und Liberalen bereits damals Big Society für eine umgearbeitete Version des Anti-Etatismus von Margaret Thatcher hielten, sah Marquand in den Reden von Cameron den Einfluss des klassischen britischen liberalen Gedankens, der gerade in der Stärkung der lokalen Gemeinschafen die Möglichkeit zur Verbindung der individuellen Freiheit mit gesellschaftlicher Harmonie und notwendiger Flexibilität für die Anpassung an die sich verändernden Lebensbedingungen sah. Marquand ist wie der Autor des vorliegenden Textes der Meinung, dass anstatt sich auf die Aushängeschilder von Parteien zu konzentrieren, dieser neuen Macht Gelder für die Verwirklichung von Wahlverspechen gegeben werden sollten.
Zwei Jahre später und nachdem Hunderte Millionen Pfund aus dem Budget gestrichen wurden, ist die Idee vom Aufbau eines neuen Wohlfahrtsstaates auf den Fundamenten der Big Society keinen Millimeter weitergekommen. Der Staat zieht sich aus immer mehr Bereichen zurück und hinterlässt im Gegenzug nichts. Die Träume der dem Etatismus abgeneigten Linksliberalen, geringgeschätzt von der Konservativen Partei, landen zum wiederholten Mal in einem ideellen Gefrierschrank. Der Leader der Labourparty hatte seinen Kampf gegen die Krise bereits auf dem – notabene konservativen – Ideal der allgemeinnationalen, und nicht lokalen Solidarität aufgebaut.
Wer auch immer diese lokalen Ideale wieder ans Tageslicht holt, muss die Grenzen zwischen lobenswerter Aktivität von unten und der bequemen Entscheidung, die Menschen sich selbst überlassen, besser definieren.
Die Niederlage von Big Society in Großbritannien sollte nicht nur für die britische, sondern auch die europäische Linke eine Lehre sein. Sie könnte auch für die polnische Linke eine Lehre sein, wäre da nicht die Tatsache, dass die polnische Linke, oder zumindest ihre Repräsentation im Parlament, nicht nur keine schlüssige Gesellschaftsvision für die Welt nach der Krise erarbeitet hat, sondern eine solche große Erzählung nicht einmal zu kreieren versucht. Die linken Politiker die seit Jahrzehnten in der polnischen Politik unterwegs sind – wenn auch seit fast zehn Jahren in der Opposition – sind immer weniger an Ideen, dafür immer mehr an einem zeitweiligen politischen Spiel interessiert.