Jarosław Kuisz: Warum veranstalten Sie kurz vor den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai den Kongress „Solidarity Ukraine“ in Kiew? Geht es darum, auf Politiker und Diplomaten Einfluss auszuüben?
Timothy Snyder: Beginnen wir einmal damit, dass diese Konferenz keine direkte politische Dimension hat. Die Teilnehmer wollen vor allem ihre Kollegen aus der Ukraine treffen, Solidarität für die vor sich gehenden Veränderungen zeigen und ihre Unterstützung für diejenigen Stimmen ausdrücken, die Freiheit und die Achtung der Menschenrechte in der Ukraine fordern. Es gibt verschiedene Formen der Diplomatie. Die „hohe“, die mit der Außenpolitik zusammenhängt, aber auch die Diplomatie von unten, die gesellschaftliche. Wissenschaftler, Journalisten und Künstler begeben sich nach Kiew, um zu zeigen, dass Ereignisse wie eine Konferenz, wie Gespräche zwischen im gesellschaftlichen Leben engagierten Personen, genau jetzt in der Ukraine stattfinden können. Und auch deshalb, um Erfahrungen zu sammeln und die Stimme der Ukrainer besser zu hören. Schließlich kennen die Ukrainer selbst am besten die Situation in ihrem Land. Die Gesellschaften des Westens hingegen kennen diese Situation weniger. Es ist wichtig, dass die Konferenzteilnehmer sich genau hier an diesem Ort und zu dieser Zeit einfinden. Es geht darum zu zeigen, dass man sich in Kiew treffen und über Dinge reden kann, die im Grunde für uns alle grundlegende Bedeutung haben, wie der friedliche Kampf um die Menschenrechte, die Geschichte und das Gedächtnis oder die Bedeutung von Pluralismus und Demokratie im 21. Jahrhundert.
Kann man auf diese Weise versuchen, die Wirklichkeitsdeutung des Kremls, die unter den Intellektualisten im Westen durchaus erfolgreich ist, zu durchbrechen?
Man muss zugeben, dass Putins Wirklichkeitsdeutung eine enorme Kraft hat, weil sie sich überhaupt nicht an Fakten halten muss. Die Personen, die sie schaffen, können ungehindert Bekanntmachungen erstellen und sich der Medien frei bedienen. Ich würde jedoch vorsichtig sagen, dass sich im Westen die Einstellung zu dem Bild, dass der Kreml vermittelt, langsam ändert. Der Konflikt dauert schon so lange, dass sich immer mehr Menschen darüber im Klaren werden, dass es vor unseren Augen zu einem wahren Zusammenprall zweier Wirklichkeitsdeutungen kommt. Das bedeutet im Grunde, dass wir es hier mit ideologischen Kämpfen zu tun haben.
Wir haben in unserer Ausgabe den Text „Die satten Polen schauen auf die Ukraine“ [http://kulturaliberalna.pl/2014/02/25/syci-polacy-patrza-ukraine/] veröffentlicht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man einen ebensolchen Text über jede Gesellschaft in Westeuropa hätte schreiben können. Wie kann man die offensichtliche Gefahr abwenden, dass Intellektuelle aus dem Westen nach Kiew fliegen und die Ukrainer belehren, indem sie ihnen sagen, was sie machen sollen …?
Diese Denkweise begleitet uns seit langem. Heute haben die Intellektuellen aus dem Westen kein Recht, irgendjemanden von oben herab zu belehren. Im Gegenteil, sie können von der Ukraine viel lernen, denn die für uns wichtigsten Ereignisse finden dort statt. Wir haben zu der Konferenz übrigens Menschen aus der ganzen Welt eingeladen, nicht nur Intellektuelle aus dem Westen. Mehr noch, wir haben für die Konferenz jegliche „symbolische“ Dominanz durch eine Konferenzsprache ausgeschlossen. Die Podiumsdiskussionen finden nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Ukrainisch, Russisch, Polnisch, Französisch und Deutsch statt. Es geht uns darum, dass alle die Erfahrung teilen, sich mithilfe einer anderen Sprache auszudrücken, genau so, wie die Ukrainer es tun müssen. Es ist wichtig, dass wir einander auf diese Weise Respekt zeigen und Erfahrungen auf diese symbolische Art miteinander teilen.
Wenn wir davon sprechen, voneinander zu lernen, stellt sich eine ganz konkrete Frage: Wie können die Ukrainer mit ihrem Staat zurechtkommen?
Ich würde diese Frage umdrehen. Das gesamte 19. und 20. Jahrhundert hindurch war der Staat in Europa ein Problem. Der Staat hat in ganz Europa natürliche, anarchistische Tendenzen zum Widerstand gegen sich bekämpft. Heute wissen wir, wie wichtig es ist, dass der Staat seine Bürger davon überzeugen kann, dass er ihnen etwas zu geben hat, dass sie ihn für etwas Konkretes brauchen. Im Westen erweist sich heute als ernstes Problem, dass diese Vorteile allgegenwärtig geworden sind. Man hat aufgehört sie wahrzunehmen, und dadurch hat man aufgehört, seinen Staat angemessen zu schätzen. Er ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, während er für die Ukrainer, die sich die westlichen Staaten ansehen, eine Quelle der Hoffnung bleibt.
Es gibt also Hoffnung für die Ukraine.
Auf jeden Fall.
Dann auf Wiedersehen in Kiew.
Auf Wiedersehen.