Felietony

Die Energiewende ist ein irrationales Projekt

Mit Daniel Wetzel sprach Jakub Bodziony · 24 November 2020
Bei der Energiewende wird die Überzeugung vertreten, dass wir in Deutschland 100 Prozent aus Wind und Sonne liefern können. Viele Menschen glauben daran, aber es ist ein irrationales Projekt, sagt Daniel Wetzel.

Jakub Bodziony: Was ist die Energiewende?

Daniel Wetzel: Es handelt sich dabei um einen deutschen Versuch, bis 2050 alle fossilen Brennstoffe durch erneuerbare Energieträger zu ersetzen und die Kernkraftwerke abzuschalten.

Warum will die Regierung Kernkraftwerke schließen?

Es ist sehr schwierig, auf diese Frage eine Antwort zu geben, weil hierbei viele Spekulation entstanden sind, deren Wurzeln in einer spezifischen psychischen Disposition der deutschen Gesellschaft vermutet werden? Ich würde bei Entscheidungen, die auf Emotionen beruhen, keinen rationalen Kern suchen. Einige meinen, dass die deutsche Nation in der Natur geboren wurde, was mit dem Sieg der Germanen über die Römer im Teutoburger Wald symbolisiert wird. Andere behaupten, dass in Deutschland eine Tendenz zur Romantik besteht, die sich in einer Abneigung gegen die Großindustrie und einer Rückkehr zur Solar- und Windenergie manifestiert.

Aber die erneuerbaren Energiequellen sind doch auch Teil einer gigantischen Industrie. Außerdem muss Deutschland, wenn es auf Atom verzichten will, es durch einen anderen Brennstoff ersetzen, d. h. durch Gas, dessen Verbrennung zur Umweltzerstörung beiträgt. 

Tatsächlich stellt dieses Projekt heute keine überzeugende Lösung dar. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass der Gas- und Kraftstoffsektor in Deutschland nicht sehr weit entwickelt ist. Es gibt keine deutsche Exxon oder BP. Darüber hinaus sind Umwelt-NGOs gegen die Verwendung von Gas, gerade weil es ein fossiler Brennstoff ist. Gemeinsam mit den Grünen sind sie es, die nach Kohle und Atom mit dem Gas fertig werden wollen und sich am aktivsten gegen den Bau von Nord Stream 2 aussprechen. Der Ansatz der Befürworter der Energiewende basiert auf der Überzeugung, dass wir in Deutschland 100 Prozent der Energie aus Wind und Sonne landesweit liefern können. Viele Menschen glauben das.

Sie nicht?

Es ist eine irrationale Sichtweise, aber kaum jemand schaut auf die Zahlen. Andernfalls würde man feststellen, dass ohne die Unterstützung von Kohle, Gas oder Atom ein solches Projekt unrealistisch ist. Die meisten Politiker und NGOs ziehen es jedoch vor, die Realität zu verleugnen. Aus meiner Sicht ist das ein Irrglaube.

Gegenwärtig hat die Kernenergie den gleichen Anteil wie die erneuerbaren Energien, d. h. etwa 10 Prozent der weltweiten Energieproduktion. Das bedeutet, dass der Sektor der erneuerbaren Energien nach fast 30 Jahren massiver finanzieller Subventionen und enormer politischer Unterstützung immer noch nicht zur Atomkraft aufgeschlossen hat. In Deutschland wäre die Kernkraft wegen des fehlenden CO2-Ausstoßes ein gutes Instrument zur primären Energieerzeugung, aber die Debatte darüber wurde bereits abgeschlossen.

Das heißt?

Keine der einflussreichsten Parteien will die Atomenergie verteidigen, weil dieses Thema in der Gesellschaft keinen Zuspruch findet. Selbst große Energiekonzerne wie RWE und E.ON erklären, dass sie nicht mehr in den Atomsektor investieren wollen, weil sie die dabei entstehenden wachsenden Kosten und das Investitionsrisiko abschreckt. Sie werden dies möglicherweise in Schweden oder Russland tun, wo es eine stabile politische Unterstützung für die Entwicklung dieses Energiesektors gibt. In Deutschland hat das keinen Sinn mehr. Es entspricht dem politischen Konsens in Berlin. Die Industrie ist um ein gutes Image in der öffentlichen Wahrnehmung bemüht, weshalb sie auf erneuerbare Energien (EE) setzt. Sie wollen auf der guten Seite stehen.

Die bisherige Politik hat in den letzten Jahren zu steigenden Energiepreisen in Deutschland geführt. 

Deshalb fordern diese Unternehmen für Investitionen in Wind- und Solarkraftwerke staatliche Unterstützungen. Doch wenn die Zahlen weiterhin nicht stimmen, werden die Energieimporte nach Deutschland zunehmen. Wir befinden uns in einer bequemen Situation, weil wir uns es leisten können. Unsere Politiker machen das, was die Gesellschaft will, auch wenn es nicht ganz rational ist.

Gleichzeitig muss hervorgehoben werden, dass die Effektivität der EE von Jahr zu Jahr zunimmt, weil die Produktionskosten der Investitionen sinken. Kernkraft ist immer noch sehr teuer. Ein gutes Beispiel dafür ist das Kernkraftwerk Hinkley Point in Großbritannien, welches bei der Stromerzeugung doppelt so teuer ist wie Wind- und Sonnenenergie. Das Problem der Instabilität und die damit verbundene kostspielige Energiespeichertechnologie wirkt sich jedoch nachteilig auf die EE aus.

Wann sollte sich die Energiewende auszahlen?

Nach etwa 30 Jahren riesiger Investitionen. Dann soll unser Energiesystem effizient und kostengünstig sein. Auch wenn sich das bewahrheiten sollte, ist es eher unwahrscheinlich, dass der deutsche Fall für andere Länder wegweisend sein wird. Wir können es uns leisten, weil wir ein sehr reiches Land sind.

Allerdings übt Deutschland Druck auf Länder wie Belgien und die Niederlande aus, dass auch sie ihre Atomkraftwerke abschalten. 

Das stimmt und es fällt mir schwer, es zu erklären. Die Befürworter dieser Forderungen argumentieren, dass diese Kraftwerke nahe der deutschen Grenze liegen, was im Falle eines Zwischenfalls auch der deutschen Bevölkerung schaden könnte. Das fordern die Anwohner der Grenzregionen und werden vom Umweltministerium unterstützt.

Einige Expert:innen meinen, dass mit der Abschaltung von Atomkraftwerken die russischen Gasimporte nach Deutschland steigen werden. Das steht auch in einem Zusammenhang mit dem Pipeline-Projekt Nord Stream 2, das von Berlin forciert wird. 

Sie mögen recht haben, aber die Entwicklung der Energiewende bedeutet nicht unbedingt eine zunehmende Abhängigkeit vom Gas. Ob sie erfolgreich sein wird, wissen wir erst in etwa 10 Jahren. Das beinhaltet zudem eine deutliche Anhebung der Dämmstandards von Gebäuden, wodurch weniger Energie zum Heizen benötigt wird. Es wurde eine Reihe von Programmen entwickelt, um den Austausch von Dämmstoffen in Haushalten zu subventionieren. Auf diese Weise will die Regierung den Gasverbrauch insgesamt reduzieren.

Wenn wir annehmen, dass die deutsche Regierung recht hat. Wozu dient dann Nord Stream 2?

Es handelt sich hierbei um ein Projekt, für das private Unternehmen und nicht die Regierungen aus Deutschland und Russland verantwortlich sind. Manche sind davon überzeugt, dass es immer besser ist, über eine ausgebaute Energieinfrastruktur zu verfügen. Da ist etwas Wahres dran.

Glauben Sie wirklich, dass es ein privates Projekt ist? Angela Merkel und Wladimir Putin haben sich viele Male wohlwollend über diese Investition geäußert und behauptet, dass der zweite Strang der Gaspipeline mit Sicherheit fertiggestellt wird. Darüber hinaus leitet der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den Vorstand in der Nord Stream 2 AG, die für das Projekt zuständig ist. 

Mir ist die politische Konnotation des Projekts bewusst, auch im Hinblick auf die Sicherheit der Ukraine, gegen die der Ausbau der Gaspipeline gerichtet ist. Wenn wir jedoch Kiew unterstützen wollen, das derzeit mit dem Gastransit Geld verdient, können wir diese Mittel jederzeit ebenfalls auf andere Weise zukommen lassen. Man muss dies nicht mit der Frage der Gaspipelines in Verbindung setzen. Weil ich ein Wirtschaftsjournalist bin und nicht aus dem Politikressorts komme, ist es für mich schwierig, an dieser Stelle ein endgültiges Urteil zu fällen.

Aber die wirtschaftliche Begründung für dieses Projekt macht ebenfalls keinen Sinn. Die bestehende Infrastruktur ist immer noch nicht voll ausgelastet und der Ausbau von Nord Stream wird die Gaslieferungen nicht diversifizieren, sondern die Europäische Union noch stärker vom russischen Gas abhängig machen. 

Man kann sich das nicht in Form einer Planwirtschaft vorstellen. Wenn Unternehmen in Frankreich, Österreich und Deutschland dies für eine gute Investitionsmöglichkeit halten, liegt die Entscheidung bei ihnen. Unternehmen gehen Risiken ein und verdienen entweder Geld oder müssen Verluste hinnehmen.

Wir wissen, dass die Rohstoffreserven in Westeuropa zur Neige gehen und die Nachfrage nach Gas steigen könnte. Daher gibt es eine Lücke, die dieses Projekt füllt. Es besteht jedoch keine Abhängigkeitssituation, da es immer möglich ist, flüssigen Gas auf dem Seeweg zu importieren, was durch den Ausbau von LNG-Terminals ermöglicht wird. Wenn der russische Rohstoff zu teuer wird, werden wir ihn von anderen Produzenten kaufen können. Dieser Mechanismus wird die Gaspreise auf einem vernünftigen Niveau halten, und verdeutlicht, dass es auf diesem Markt keine Monopolisten mehr gibt.

Kommen wir zurück zur Energiewende. Was sind die größten Risiken für dieses Projekt?

Dass es auf irrationalen Hoffnungen und nicht auf Fakten beruht. Ein großes Problem ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Windenergie, auf der das gesamte Projekt fußt. Gegenwärtig ist der Bau neuer Windkraftanlagen gestoppt, weil viele Menschen nicht wollen, dass sie in ihrer Nachbarschaft aufgestellt werden. Sogar Umweltschützer sind gegen mehr Windräder und viele Fälle landen vor Gericht. Und wir müssten die Zahl der Anlagen pro Jahr verfünffachen, um unsere Ziele zu erreichen.

Wie reagiert die Regierung?

Die Behörden versuchen, Wege zu finden, um die Menschen dazu zu bewegen, Windparks zu akzeptieren. Zusätzliche Gelder werden an die Ortschaften überwiesen, die sich in der Nähe der zukünftigen Anlagen befinden werden. Die Gesetze zum Schutz von Vögeln und Wäldern werden ebenfalls abgeschwächt, sodass sie überall platziert werden können, sogar in bedrohten natürlichen Tierlebensräumen und anderen Schutzgebieten. Ich denke, dass dies nicht ausreicht, um die Ziele zu erreichen.

Welche Änderungen müssen in Deutschland vorgenommen werden, sodass dieses Projekt umgesetzt werden kann?

Zunächst wäre da die Kernenergie, obwohl hier die gesellschaftliche Gegenwehr unüberwindbar zu sein scheint. Es bestehen auch andere Möglichkeiten wie z. B. die CO2-Sequestrierung, dabei wird das Kohlendioxid aus der Atmosphäre ferngehalten und in punktuellen Verschmutzungsquellen gelagert. Auch hier gibt es in der Öffentlichkeit starken Widerstand, obwohl Wissenschaftler des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen die Entwicklung dieser Technologie für notwendig erachten, um die Ziele der Dekarbonisierung zu erreichen. Wir sollten die Streitfragen so schnell wie möglich lösen, um Industriezonen zu schaffen, in denen CO2-Abscheidung und die anschließende Lagerung unter der Erde möglich wird.

Ich denke, dass das Emissionshandelssystem (eng. emission trading system, ETS), d. h. der Handel mit Emissionszertifikaten auf europäischer Ebene das effektivste Instrumentarium ist, das wir entwickeln konnten. Die Schließung der deutschen Kohlekraftwerke sind vor allem auf Marktentscheidungen und nicht auf politische Interventionen zurückzuführen. Deshalb sollten wir uns nicht zu sehr einmischen und dabei nur eine Technologie fördern. Ich glaube an den Markt, der die meisten aktuellen Probleme lösen wird.

Das Europäische Parlament stimmte kürzlich für eine Verschärfung der EU-Klimaziele. Die Abgeordneten fordern eine Reduzierung der CO2-Emissionen in der EU bis 2030, gemessen an den Zahlen von 1990, nicht mehr um 40 sondern um bis zu 60 Prozent. Ist das eine gute Entscheidung?

Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist. Es ist wichtig, dabei nicht zu vergessen, dass dies nur ein Ziel ist. Politiker sind gut darin, Ziele zu setzen, erreicht werden sie selten. Auf lange Sicht frustriert es die Menschen. Wir wissen nicht einmal, ob wir die bisherigen Ziele erreichen, und wir sprechen bereits von einem noch höher gesteckten Vorhaben. Man sollte sich nicht auf Ambitionen, sondern auf Lösungen konzentrieren.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abb. Jem Sanches, Quelle: Pexels

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki