Felietony

Klimaneutralität Polens – klares Ziel, steiniger Weg

Kacper Szulecki · 24 November 2020
Für Polen hat der gerechte Übergang [im Energiesektor, Anm. d. Übers.] höchste Priorität, denn über uns schwebt nicht nur die Gefahr von Bergarbeiterstreiks, sondern vor allem das Gespenst der Waldenburger „Armenschächte“. [1]

In Polen sind Postulate nach Dekarbonisierung und Klimaneutralität nichts Neues. Aber nie zuvor wurde die Debatte darüber dermaßen intensiv geführt und die Verabschiedung eines verbindlichen Kohleausstiegs so realistisch. Gleichzeitig bleiben viele Fragen offen und es gibt keine klaren Aussagen seitens der Regierung, wann und ob die polnische Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt jemals klimaneutral sein werden.

Aus der Sicht eines Liberalismus, der anders verstanden wird als ein Dogmatismus des freien Marktes und des daraus resultierenden „Schafftmannichtismus“ [niedasieizm], handelt es sich einerseits um eine (wenn es um die Ziele geht) sehr einfache Herausforderung, die andererseits (wenn es um alles andere geht) besonders vielschichtig ist.

Das Klima stellt die Politik auf den Kopf

Der fortschreitende Klimawandel, der kaum mehr übersehen werden kann, macht die Frage des Klimaschutzes immer dringlicher. Sie erfordert seitens der Regierung, der kommunalen Selbstverwaltung und praktisch von uns allen klare Erklärungen und sichtbare Maßnahmen. Die Verschiebung der Naturschutzprobleme ins Zentrum der Politik wird weitreichende Auswirkungen darauf haben, wie wir Politik im 21. Jahrhundert im Allgemeinen verstehen.

Einem Element der Klimapolitik müssen wir besondere Beachtung schenken. Wissenschaftler:innen vieler Disziplinen sind sich darin einig, dass die Beseitigung von Treibhausgasemissionen sowie die Rückführung des Kohlendioxids aus der Atmosphäre eine Notwendigkeit darstellt. Nur so können wir eine Katastrophe vermeiden und die Hoffnung auf eine für den größten Teil der Menschheit erträgliche Welt aufrechterhalten.

Wir stehen damit vor einer für die Politik völlig ungewöhnlichen Situation. Üblicherweise bedeutet in einem demokratischen Land Politik zu machen, gegensätzliche Interessen miteinander zu konfrontieren, bis daraus ein Kompromiss entsteht. Das bedeutet, dass das Ergebnis zunächst eine völlig offene Angelegenheit ist. Die Klimapolitik stellt diesen Prozess jedoch auf den Kopf. Diesmal ist das Ziel der Klimaneutralität bekannt, gut definiert und kein Bestand der politischen Auseinandersetzung. Weil es nur ein Ergebnis gibt, liegt es außerhalb des Verhandelbaren. Die Politik hat daher die Aufgabe, den Weg zu diesem Ziel auszuarbeiten.

Aus diesem Grund ist die Herausforderung außerordentlich einfach, weil das Ziel von vornherein vorgegeben ist und gleichzeitig überaus kompliziert. Anstatt Ziele zu setzen, die es zu erreichen gilt, muss die Politik sehr schwierige und komplexe Entscheidungen verantworten. Mit dieser Form des Regierens kommen die bestehenden politischen Institutionen nicht gut zurecht. In einem pessimistischen Szenario kann es passieren, dass diese unvermeidlichen politischen Veränderungen im 21. Jahrhundert nicht zur Vermeidung der Klimakatastrophe führen, aber unterdessen die Grundlagen der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten politischen Ordnung untergraben. Nachdem die politische Praxis auf den Kopf gestellt wurde, werden viele politische Kräfte, sie wieder umzudrehen versuchen und politische Prozesse wie bisher behandeln, also das eigentliche Ziel der Klimaneutralität in Frage stellen, auch wenn dies absolut irrational und auf lange Sicht unmöglich ist.

Auf welchem Weg zur Neutralität – die Frage nach den Instrumenten

Da das Ziel der Dekarbonisierung dem Anschein nach rein technischer Natur ist, stellen sich als erstes die folgenden Fragen: wie, wann und für wie viel? Die Diskussion über den Pfad, der zur Dekarbonisierung führen soll, entfaltet sich in Polen sehr langsam. Am sichtbarsten ist dabei sowohl das Fehlen einer kohärenten und weitreichenden Vision als auch die geringe Beteiligung breiter gesellschaftlicher Kreise an ihrer Entwicklung. Ein Beispiel für die Verworrenheit unserer öffentlichen Debatte ist die Kontroverse darüber, was die Kohle im Energiemix ersetzen soll. Seit einigen Jahren ist in dieser Auseinandersetzung eine scharfe Trennlinie sichtbar. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die erneuerbare Energiequellen (EE) als Hauptinstrument zur Dekarbonisierung sehen. Ihnen gegenüber befinden sich die Befürworter der Kernenergie.

In Wahrheit ist dies eine falsche Opposition, die in der Oberflächlichkeit der Debatte selbst begründet liegt. Tatsächlich lautet die Frage, „ob EE allein ausreichen, um die gesamte polnische Wirtschaft zu dekarbonisieren, oder ob wir hierfür zusätzliche Energiequellen benötigen?“ Wir werden auf die endgültige Antwort noch lange warten müssen, denn der Energiesektor ist eine Domäne der Praxis und nicht der wissenschaftlichen Theorie. Wir sind nicht in der Lage, die Auswirkungen technologischer Entscheidungen, politischer Veränderungen und wirtschaftlicher Trends auch nur für fünf Jahre im Voraus vorherzusagen, denn die Energietransformation ist ein Feld täglicher Experimente.

Bezeichnend für diese Kontroverse ist, dass sich die Diskussionsteilnehmer:innen selten auf aktuelle Daten beziehen, sogar wenn es um verlässliche Modelle für die kurzfristige Entwicklung des Energiesektors geht. Zudem wird der sozioökonomische und politische Kontext, in dem die Energiewirtschaft operiert, ignoriert. Die Befürworter der Kernenergie meiden wie der Teufel das Weihwasser, eine Berechnung der Kraftwerkskosten und möglicher Energiepreise auf Basis verschiedener Finanzierungsszenarien vorzulegen. Eifrige Aktivisten und aufeinanderfolgende Regierungen, die das Projekt polnischer Kernkraft befürworten, haben bisher immer noch keine Antwort gegeben, warum Polen überhaupt und in welchem Umfang Atomenergie braucht. Darauf wiesen vor kurzem Teilnehmer:innen einer Debatte hin, die nach der Begründung für die Entwicklung der Kernkraft in Polen fragten.

Auf der anderen Seite überschreiten Expert:innen und Institutionen, die den Ausbau von EE unterstützen und annehmen, dass diese für eine vollständige Dekarbonisierung ausreichen, ebenfalls selten den Horizont sehr kurzfristiger Visionen. Wir wissen beispielsweise immer noch nicht, wie sehr das polnische elektroenergetische Netz unterfinanziert ist und welche Investitionen erforderlich sind, damit EE ihr Potenzial entfalten können und das Problem einer instabilen Energieversorgung vermieden wird.

Es fehlt an Wissen, da es sowohl an Expert:innen als auch an Stiftungen und Möglichkeiten mangelt, diese Art von Forschung durchzuführen. Daran erinnerte vor Kurzem ein von der Stiftung Instrat initiierter Appell für offenen Zugang zu Daten aus dem Energiesektor. Energiepolitische Strategien der Regierung befinden sich ewig im Planungsstadium, und wenn sie von Zeit zu Zeit doch auftauchen, weiß man nicht, wie sie eigentlich zustande gekommen sind.

Wenn man all das berücksichtigt, ist es nicht verwunderlich, dass die Energiewende in Polen schlafwandlerisch und langsam verläuft. Viele Regierungsvertreter geben darüber hinaus vor, so wie scheinbar viele unabhängige Expert:innen, das Problem nicht zu sehen, dass die Wahl des Pfades zur Dekarbonisierung keine rein technologische Entscheidung ist, sondern beispielsweise auch über die zukünftige Entwicklung bestimmter Regionen, die Stärkung einiger Interessengruppen auf Kosten anderer und schließlich über die Bildung einer bestimmten Machtkonstellation im Energiesektor entscheidet.

Eine gerechte Transformation oder nie wieder Waldenburg 

Abgesehen von den technischen Entscheidungen, d. h. Fragen „mit welchen Technologien werden wir das Ziel am schnellsten und effektivsten erreichen können?“, betreffen die schwierigsten Entscheidungen die politische Ökonomie, d. h. die Frage, wie wir die Kosten und Gewinne der unvermeidlichen Transformation verteilen werden.

Die von der Europäischen Kommission im vergangenen Dezember präsentierten Umrisse eines Europäischen Grünen Deals und die frühere Erklärung des Klimagipfels in Kattowitz legen einen klaren Schwerpunkt auf eine „gerechte Umwandlung“, d. h. de facto auf die politische Ökonomie der Dekarbonisierung. Das wirft Fragen nach den Kosten und Veränderungen auf, von denen einige Regionen, Sektoren und soziale Gruppen mehr als andere betroffen sein werden. Für Polen ist dies eine Angelegenheit höchster Priorität, denn über uns schwebt nicht nur die Gefahr von Bergarbeiterstreiks, sondern vor allem das Gespenst der Waldenburger „Armenschächte“. Wir sollten diese Folgen der „wilden“ Dekarbonisierung des niederschlesischen Kohlebeckens in den 1990er-Jahren als eine schmerzhafte Lektion begreifen.

Bisher fungiert der Slogan der gerechten Umwandlung vor allem als Rechtfertigung für die schleppende polnische Dekarbonisierung, oder als Versprechen, weitere Milliarden aus dem EU-Haushalt entnehmen zu können. Er kann aber auch einen anderen positiven Einfluss auf die Diskussion über die Klimaneutralität haben. Die gerechte Umwandlung macht es möglich, über „technische“ Frage anders nachzudenken und erinnert die Entscheidungsträger:innen daran, dass eine Dekarbonisierung nicht durchgeführt werden kann, wenn man die sozialen Kosten und die Interessen wichtiger Gruppen ignoriert.

Deshalb ist die Politisierung der Diskussion darüber, wie Polens Klimaneutralität erreicht werden kann, so wichtig. Wir sollten den Fehler der (postsozialistischen) Transformationseliten nicht wiederholen und diesen gigantischen Wandel zu einer Aufgabe für Technokraten machen. Erstens würde er so nicht funktionieren, und zweitens würde er unterwegs riesige soziale Konflikte entfachen. Jeder Konflikt böte einen Angriffspunkt für politische Kräfte, der den Sinn der Dekarbonisierung als solche in Frage stellen würde.

Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass selbst wenn Klimaneutralität das einzige rationale Ziel ist, diese Wahrheit ausreicht, um Veränderungen politisch zu rechtfertigen. In einem Interview von Tomasz Sawczuk auf den Seiten der Kultura Liberalna warnte der Philosoph Stanley Fish kürzlich davor, davon auszugehen, dass die Wahrheit als Argument ausreicht, während nämlich Liberale nach Wahrheit streben, will die populistische Rechte einfach nur die Macht erobern. Sie kann es, in Bruno Latours Worten, so machen wie Donald Trump, der vorgibt, auf einem anderen Planeten als der Rest der Menschheit zu leben und deshalb anderen Regeln zu folgen. Wenn die populistische Rechte aber auf die Erde zurückkehrt, wird sich vielleicht zeigen, dass es nichts mehr gibt, zu dem sie zurückkehren kann.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Im Original: wałbrzyskie „biedaszyby“. Nach der Schließung der Bergwerke in den 1990er-Jahren entstanden im niederschlesischen Wałbrzych (Waldenburg) zahlreiche „Armenschächte“, die meistens von entlassenen Bergleuten betrieben wurden, Anm. d. Übers.

Abb. Max Skorwider

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki