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Ideen für einen grünen Liberalismus

Kacper Szulecki · 24 November 2020

Alle aus der Geschichte bekannten großen Energietransformationen führten neben technologischen auch zu politischen Veränderungen. Angesichts der gegenwärtigen gigantischen Herausforderung der Dekarbonisierung dürfen wir nicht vergessen, dass diese ebenfalls die Chance auf eine politische Neuaufstellung birgt.

 

Wie könnte eine liberale Antwort auf die Klimakrise und andere Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aussehen? Anstatt künstlich eine neue Form des Liberalismus zu entwerfen, ist es sinnvoller, aufzuzeigen, wie konkrete Antworten auf die gegenwärtigen Krisen aussehen könnten, die Freiheit als zentralen Wert begreifen. Das bedeutet, dass zunächst die wichtigsten Krisen verstanden und diagnostiziert werden müssen.

Ungleichheit, Demografie, Identität und … Umwelt

Seit der Veröffentlichung von Tomas Pikettys „Kapital“ ist viel von den sich vertiefenden ökonomischen Ungleichheiten die Rede (während deutlich weniger dagegen unternommen wird). Sowohl in Industrieländern als auch in sich entwickelnden Staaten treiben Ungleichheiten die Gesellschaften auseinander und führen in einigen Fällen zu Formen sozialer Ausgrenzung mit möglicherweise explosiven Folgen.

Hinzu kommt das Problem des demografischen Wandels, der in seinen Ausmaßen historisch beispiellos ist und daher ein Umdenken in Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft erfordert. Mit diesen Herausforderungen vermengt sich zudem eine Identitätskrise, die mithilfe von Statistiken und makroökonomischen Daten schwieriger zu erfassen ist. Sie liegt der populistischen Politik von rechts und links zugrunde, welche sowohl die liberale Demokratie als auch das politische Zusammenleben verschiedener Kulturen untergräbt.

Über alldem schwebt eine Krise unbekannter Tragweite: es ist die ökologische Krise, zu deren Symptomen der Klimawandel, der dramatische Rückgang der Biodiversität und die Überdehnung anderer Grenzen des Systems unseres Planeten zählen.

Das sind viele Krisen. Es bedeutet jedoch nicht, dass wir in Panik verfallen müssen. Jede dieser vier Krisen entspricht einem Wendepunkt, ist aber noch keine Katastrophe (vielleicht mit Ausnahme der bereits irreversiblen Umweltveränderungen).

Flucht nach vorn

Die Antwort kann weder in einer Rückkehr zur imaginierten idyllischen Vergangenheit liegen, wie es die Konservativen oft vorschlagen, noch in einer Wiederkehr des goldenen Zeitalters des Nachkriegswohlfahrtstaates, wovon manche Sozialdemokraten zu träumen scheinen. Möglich ist nur eine Flucht nach vorn.

Die Richtung sollten drei grundlegende Werte des liberalen Denkens weisen. Zwei von ihnen hat Tomasz Sawczuk in seinem kürzlich erschienen Artikel „W stronę polityki natury.“ [In Richtung einer Politik der Natur] sehr präzise umrissen. Zuallererst geht es um relational verstandene Freiheit, die immer in Beziehung zu anderen und ihren Freiheitsräumen steht. Der zweite Wert ist Solidarität, die man als eine Methode zur Institutionalisierung von Freiheit verstehen kann und damit als Prinzip des gesellschaftlichen Miteinanders die freiheitliche Ordnung regelt. Hierzu muss noch ein dritter, eng verbundener Wert hinzugefügt werden: Verantwortung im Sinne des Auf-sich-Nehmens der Konsequenzen für das eigene Handeln und Nicht-Handeln. Gemeint sind die Konsequenzen gegenüber sich selbst und den anderen. Gegenüber Menschen und Nicht-Menschen, also auch der Natur.

Von der Theorie zur Praxis

Diese drei Werte und ein entsprechendes Verständnis ihrer Bedeutung bilden in turbulenten Zeiten den Rahmen für eine liberale Reaktion auf die ineinandergreifenden Krisen. Das bedeutet nicht, sie einfach in konkrete Handlungsanweisungen zu übertragen – das Übersetzen axiologischer Abstraktionen in praktische Maßstäbe gehört in das Feld der politischen Auseinandersetzung.

Was die Klimakrise betrifft, so können wir schon heute einige Wege aufzeigen. Auf den Seiten von Kultura Liberalna habe ich bereits über die Notwendigkeit geschrieben, die „energiepolitische Xenophobie“ zu überwinden, die die polnische Politik zur Dekarbonisierung beherrscht. Es ist deutlich erkennbar, dass eine angemessene Antwort auf die Klimakrise durch eine – vor allem auf Seiten der polnischen Rechten – verbreitete Identitätskrise blockiert wird. Diese führt dazu, die Energieversorgung allein unter dem Gesichtspunkt nationaler Autarkie anstelle von wechselseitigen Abhängigkeiten zu betrachten. Eine wirksame Dekarbonisierung erfordert jedoch eine Planung auf mehreren Ebenen, vor allem auf regionaler und überstaatlicher Ebene.

Die Europäische Union als Klimaklub 

Ein weiterer Test für Solidarität, Verantwortung und Freiheit auf internationaler Ebene liegt künftig in der unvermeidlichen Entstehung freiwilliger Zusammenschlüsse von Staaten mit einer ehrgeizigen Politik zur Bekämpfung des Klimawandels – sogenannter Klimaklubs. Dabei handelt es sich um Länder, die nicht auf ein weltweit verbindliches Abkommen warten wollen, das trotz des Teilerfolgs der Klimakonferenz in Paris 2015 vielleicht nie zustande kommen wird.

Vieles deutet darauf hin, dass die EU mit ihrem ehrgeizigen Projekt des Europäischen Grünen Deals und ihrer neuen Klimagesetze der erste derartige Klub sein wird. Die weitere Entwicklung eines solchen, durch Europa initiierten Klubs bedarf jedoch der ständigen Unterstützung und demokratischer Legitimation, was bedeutet, dass der Erfolg des Vorhabens von tagespolitischen Auseinandersetzungen abhängen wird, und das auch in Polen. Krampfhaft an einem oberflächlichen Freiheitsverständnis im Sinne der neoklassischen Ökonomie festzuhalten, oder wie die populistische Linke einer Solidaritätsargumentation zu folgen, ohne den Wert der Verantwortung zu berücksichtigen, könnte den Europäischen Grünen Deal untergraben und die Chance auf einen Durchbruch verspielen.

Eine ausgewogene Gesellschaft

Die vier genannten Krisen erfordern eine neue Vision einer ausgewogenen Gesellschaft – einer, die ein neues Gleichgewicht zwischen den Generationen, zwischen den Kulturen und zwischen den Menschen und der Natur findet. Andere, mit den Liberalen konkurrierende weltanschauliche Kreise, werden eigene Zukunftsvisionen vorstellen oder haben dies bereits getan. Von linken Argumenten motivierte Regulierungsforderungen marginalisieren allerdings das Bedürfnis nach Freiheit, während es libertären und anarchistischen Vorschlägen gänzlich an Bewusstsein für die Verantwortung fehlt.

Alle aus der Geschichte bekannten großen Energietransformationen – angefangen mit dem Übergang von Biomasse und menschlicher wie tierischer Arbeitskraft zu einem auf der Verbrennung von Kohle basierenden System, über das Ersetzen von Kohle durch Erdöl im Transportwesen, bis hin zum lokalen Aufstieg von Gas und Atomenergie in der Nachkriegszeit – haben neben technologischen auch zu politischen Veränderungen geführt. Angesichts der gegenwertigen gigantischen Herausforderung der Dekarbonisierung dürfen wir nicht vergessen, dass diese ebenfalls eine Chance für eine politische Neuaufstellung birgt. Die konservativen Gegenvorschläge gründen die Dekarbonisierung auf Technologien, die den politischen und wirtschaftlichen Status quo verteidigen – Atomkraft, CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS), Geo-Engineering und künstliche Atmosphärenkontrolle sind trügerische Ideen, die nur dazu führen, eine tiefgreifende Wende zu verlangsamen.

Die liberale Demokratie muss unter dem Druck populistischer und antiliberaler Kräfte nicht untergehen. Was sie aber unbedingt braucht, ist ein neuer Treibstoff. Die aus Umweltschutzgründen nötige Energietransformation, und die Schwerpunktsetzung auf die Entwicklung dezentral organisierter, erneuerbarer ziviler Energieversorgung (die bereits heute als „demokratisch“ bezeichnet wird) geben Impulse, neu über die Demokratie im Allgemeinen nachzudenken.

Die Utopie einer partizipativen Demokratie, in der alle Lebensbereiche politisiert werden, wird durch den technologischen Wandel praktisch erzwungen und zunehmend durch „assoziative“ Formen der Demokratie ersetzt, in der die Bürger:innen neue Arten der Teilhabe und Bindung in Genossenschaften, Verbänden und Gruppen suchen. Das ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Tocqueville‘schen Wurzeln des Liberalismus keineswegs nur an Bedeutung verlieren, sondern sich im Gegenteil im 21. Jahrhundert wieder als aktuell erweisen können.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki