Latest / Wie baut man in Belarus eine Rechtsstaatlichkeit auf?

Belarus ist binnen eines Jahres ein totalitärer Staat geworden

Filip Rudnik · 23 November 2021

Am 28. September drangen in eine der Wohnungen in Minsk KGB-Offiziere ein, weil sie einen dort wohnenden Mann der extremistischen Tätigkeit verdächtigt hatten. Nachdem sie die Tür eingetreten hatten, feuerte Andrej Selzer, ein IT-Mitarbeiter, aus einem Gewehr und tötete einen der KBG-Beamten. Es kam zu einer Schießerei, infolge deren auch Selzer ums Leben kam.

Der ganze Vorfall, der durch das Regime als Nachweis für die Existenz eines terroristischen Untergrunds der Opposition dargestellt wird, kann teilweise ein abgekartetes Spiel sein, so die Andeutungen einiger Oppositionellen. Mit Sicherheit lieferte er aber den belarussischen Machthabern den Vorwand, mehr Druck auf die Gesellschaft auszuüben.

Innerhalb von zwei Wochen nach der Schießerei wurden ca. zweihundert Personen festgenommen – sog. Silowiki, Bedienstete des belarussischen Sicherheits- und Militärapparats, für den der Sammelbegriff Machtministerien benutzt wird, starteten Razzias gegen alle, die in sozialen Netzwerken die Schießerei irgendwie kommentiert hatten. Einige dieser Kommentare, in denen angedeutet wurde, Selzer hätte alle Geheimdienstler ohne Reue erschießen sollen, lieferten tatsächlich Anhaltspunkte für eine Festnahme. Es wurden jedoch auch Personen festgenommen, die einfach Mitleid mit den Angehörigen beider Erschossenen zum Ausdruck gebracht haben oder einfach das Tragische an dem Vorfall betont haben.

Für die Behörden war es irrelevant – laut belarussischem Menschenrechtszentrum Viasna sollen sich die Festgenommenen der „Aufstachelung zum sozialen Hass“ bzw. „Beleidigung der staatlichen Beamten” schuldig gemacht haben. Die Inhaftierten können eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren bekommen. Wegen, erinnern wir noch mal, eines Kommentars im Internet.

Rechtswidrige Neuerung

Menschen wegen Kommentaren in sozialen Netzwerken festzunehmen, ist eine Neuerung in der belarussischen „Rechtsordnung”. Früher war so etwas, im Vergleich zu Russland, eher selten – und sicherlich nicht massenhaft – präsent. Sie zielt auf ein konkretes Ziel ab – indem die Meinungsfreiheit gekappt wird, versucht die Regierung, die Gesellschaft noch stärker einzuschüchtern. Damit alle Menschen in Belarus wissen, dass eine jede, auch nur ansatzweise politische Äußerung strafrechtliche Konsequenzen haben kann. Kurzum: denkt, was ihr wollt, aber behaltet es für euch.

Doch es gibt noch einen weiteren Aspekt, der für den Fortbestand des Regimes nicht weniger wichtig ist. Angesichts der beispiellosen Einbindung der sog. Gewaltministerien (bis auf das Militär) in den Repressalienapparat, müssen die Regierenden die Silowiki immer wieder davon überzeugen, dass sie an ihrer Seite stehen. Sie beteuern ihre lebenslange Dankbarkeit dafür, dass die Volkspolizisten gegen die Protestler vorgingen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie formulieren Vorwürfe gegen diejenigen, die es wagen, in irgendeiner Weise das Vorgehen der Beamten zu kommentieren und gleichzeitig übermitteln Dankbotschaften an die Angehörigen der Machtstruktur, also an die Volkspolizisten, an die Ermittler oder an die Geheimdienstler.

Diese Beteuerungen der Sicherheit sind insoweit wichtig, als die Aktivitäten der Opposition für Gefährdungsgefühle innerhalb der Gewaltstrukturen sorgen. „Cyberguerillas”, die die Datenbanken des Innenministeriums systematisch hacken, veröffentlichten in den vergangenen Monaten eine Reihe von Mitschnitten der Telefongespräche, die die Silowiki untereinander geführt hatten – betroffen waren sowohl einfache Volkspolizisten als auch Chefetagen, darunter Offiziere, die die Niederschlagung der Proteste geleitet haben. Neben schockierenden Details, die zeigen, in welchem Ausmaß die Protestierenden „enthumanisiert” wurden, belegen einige Mitschnitte auch die interne Kritik an den Vorgesetzten.

Es genügt zu sagen, dass alleine die Veröffentlichung der Aufnahmen panikartige Zustände im Ministerium auslöste – kurze Zeit nach dem Leak nahm der Innenminister drei Tage lang keine internen Anrufe ab und die ministerielle Post wurde auf Papier umgestellt.

Ins Internet gelang auch eine Liste der Konfidenten der Volkspolizei. Sie trug zu seiner Art Vergeltungsmaßnahme bei, als der so genannte „Untergrund“ in den Treppenhäusern Sticker mit Hinweisen auf dort wohnende „zivile Quellen“ angebracht hat, um die Nachbarn zu informieren, dass sie quasi unter einem Dach mit einem „Kollaborateur” wohnen.

Straflosigkeit mit Fragezeichen

Interessanterweise bekunden selbst die Anhänger von Lukaschenko die Notwendigkeit, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die ihre Befugnisse überschritten haben. In einer neulich veröffentlichten sozialen Studie des britischen Chatham House haben 32 Prozent der Befragten, die sich als Anhänger des Diktators ausgegeben haben, die Vorstellung von tiefgründigen Ermittlungen zu allen Rechtsverletzungen der Mitarbeiter der Gewaltstrukturen begrüßt.

Allerdings kann die Umfrage u.U. nicht ganz zuverlässig sein – sie wurde im Internet durchgeführt. Es ist jedoch zu betonen, dass eine jede Meinungsforschung angesichts der aktuellen Lage – in der die soziologische Arbeit ohne eine offizielle Erlaubnis einfach verboten ist – goldwerte Erkenntnisse liefert. Zusätzlich weisen die Studien auf eine hohe Dosis an Misstrauen gegenüber sämtlichen staatlichen Organen außer Militär hin, das zur Niederschlagung der Proteste im August nicht herangezogen wurde und als ein unpolitisches Bollwerk gilt.

Dies wurde übrigens durch die Exilopposition erkannt, als nach dem Tod von Raman Bandarenko, der nach seiner Festnahme von den Volkspolizisten misshandelt wurde, Swetlana Tichanowskaja die Initiative des „Nationalen Tribunals” gegründet hat und dann unter Beteiligung von Pavel Latuschka die Internetplattform „Buch der Verbrechen” im Internet eingerichtet wurde, in der sämtliche Informationen zu den von staatlichen Behörden begangenen Straftaten erfasst werden. Das zusammengetragene Material wird anschließend an Interpol, an OSZE und an andere internationale Organisationen weitergeleitet.

Zunehmend zahnlose Opposition

Doch ohne Fall Lukaschenkos scheint eine Sanierung der staatlichen Gewaltstrukturen und der Justiz nicht möglich. Zumal der „Gründungsmord” – eine gesamtschuldnerische Mittäterschaft an der Niederschlagung der Proteste durch das Heer der Bediensteten – Loyalität gegenüber dem System garantiert, da sich alle seit August ununterbrochen die Hände schmutzig machen.

Das Szenario, Lukaschenko tatsächlich zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag fliegen zu lassen, wird sich bei zweispurig umzusetzenden Maßnahmen bewahrheiten, was der Opposition – nach eigenen Angaben – bestens bewusst sei. Gemeint ist hier einerseits, die Gesellschaft im Inland zu erreichen und ein breites Verlangen nach Abrechnung mit dem Verbrechen zu wecken. Zweitens gilt, die Angehörigen der Gewaltstrukturen zu erreichen, die sich unsicher fühlen und bei der Formulierung der Vorwürfe gegen andere Bedienstete helfen könnten. Das wird übrigens bei dem „Buch der Verbrechen” vorgesehen, das die Möglichkeit einräumt, Vorwürfe im Falle der Zusammenarbeit zu mildern.

Das Problem besteht darin, dass die Opposition – trotz aktiver internationaler Präsenz und trotz Zusicherungen, dass eben darauf hingearbeitet wird – immer weniger Möglichkeiten hat, die Lage im Lande zu beeinflussen. Das widerspiegelt die vorgenannte Umfrage von Chatham House. Nur 24 Prozent der Befragten haben von einem EU-Hilfspaket für Belarus gehört, das im Falle eines demokratischen Wandels freigegeben werden soll und als Erfolg von Tichanowskaja und Exilaktivisten stark umworben wird. Mit diesen Daten wird das oppositionelle Narrativ untergraben, man würde die Lage „kontrollieren” und in der Zukunft das Regime zu Fall bringen. Und das Regime wird ohne gesellschaftlichen Druck und gleichzeitigen Rissen in den Strukturen nicht verurteilt.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

 

 

 

Fot. Jana Shnipelson.Source: Flickr.