Latest / Wie baut man in Belarus eine Rechtsstaatlichkeit auf?

Chancen für politische Transformation und erfolgreiche Demokratisierung von Belarus

Pavel Usov · 7 December 2021

Die belarussische Nation hat einen langen und beschwerlichen Weg zur Demokratie vor sich. Diesen Weg zu gehen, wird eine tiefgreifende Mobilisierung und bewusstes zivilgesellschaftliches Engagement erfordern. Dies ist eine notwendige Voraussetzung nicht nur für den Sturz des autoritären Machthabers, sondern vor allem für eine Demokratisierung des Staates im Wege der politischen und wirtschaftlichen Reformen.

  • Den Prozess der erfolgreichen Transformation und der demokratischen Konsolidation werden viele externe und interne politische Einflussfaktoren bestimmen. Bei den wichtigsten von ihnen handelt es sich um: Zustand des politischen Systems in Belarus, Lage der belarussischen Gesellschaft und Opposition, geopolitische Lage während des Machtwechsels und der Systemwende.
  • Ob die Wende erfolgreich verläuft, wird vor allem von der politischen Verantwortlichkeit und Reife der Eilten sowie der Gesellschaft abhängen. Studien, die die unabhängigen Denkfabriken versuchen zu führen, zeigen eine ziemlich komplexe und uneindeutige soziale und politische Landschaft in Belarus.
  • Je tiefer sich das Land in die Integrationsprojekte mit Russland engagiert, desto kleiner werden die Chancen für demokratische Veränderungen. Schon jetzt ist die geopolitische Lage von Belarus sehr gefährlich und für rasche politische Veränderungen im Lande nicht förderlich und darüber hinaus schafft die Ausgestaltung der Verhältnisse mit der Russischen Föderation Voraussetzungen für den Fortbestand des autoritären Systems.
  • Vorausgesetzt, dass Lukaschenko innerhalb von nächsten fünf Jahren gehen wird, kann Kreml ein beliebiges Szenario der Machtwende unterstützen, mit dem autoritäres Regime in Belarus erhalten bleibt, vorausgesetzt, dass sich die neuen Machthaber an Russland orientieren und russische strategische in ihrem Land verteidigen.
  • Rasche und positive Veränderungen in Belarus können dann erfolgen, wenn die strategische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau nachlässt, was bei einer sehr schnellen Machtwende in Belarus, auf die Russland nicht vorbereitet wäre, oder bei innerpolitischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in Russland selbst möglich ist, soweit eigene Probleme (Krise) Russland zwingen, seinen Einfluss in Belarus abzuschwächen.

 

Die belarussische Nation hat einen langen und beschwerlichen Weg zur Demokratie vor sich, gespickt von vielen Herausforderungen, deren Bewältigung eine tiefgreifende Mobilisierung und bewusstes zivilgesellschaftliches Engagement der gesellschaftlichen Mehrheit erfordern wird. Dieses Engagement und Maßnahmen werden nicht nur eine notwendige Voraussetzung nur für den Sturz des autoritären Machthabers, sondern vor allem für eine erfolgreiche Demokratisierung der Staatsordnung im Wege der politischen und wirtschaftlichen Reformen darstellen.

Nach der Regimewende in Belarus wird von grundlegender Bedeutung sein, den Staat und die Gesellschaft nicht in einen permanenten Prozess der Transformationen und innerpolitischen Reibungen fallen zu lassen – was in unterschiedlichem Grade in Georgien, Moldau und in der Ukraine der Fall ist. Wellen von Krisen und inneren Konflikten in diesen postsowjetischen Staaten führen bei den Belarussen zu Befürchtungen und zum allgemeinen Misstrauen gegenüber Veränderungen. Lukaschenko-Regime nutzt wiederum Ängste und Klischees, um die Bürger zu manipulieren und stärkt die Überzeugung, Veränderungen würden unvermeidlich zu negativen Folgen und zur Destabilisierung des Staates, vielleicht sogar zum Bürgerkrieg führen. Eine solche Gefahr darf jedoch nicht ignoriert werden, falls sich die neue Regierung in Belarus in Korruption und interne Intrigen verwickeln sollte. Beim Prozess einer permanenten Transformation (Lähmung der Institutionen, andauernder Regierungswechsel) bliebe Belarus in der „Grauzone” und gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krisen könnten die Gefahr des politischen Revanchismus von Seiten des autoritären Systems von Alexander Lukaschenko mit sich bringen.

Den Prozess der erfolgreichen Transformation und der demokratischen Konsolidation werden viele externe und interne politische Einflussfaktoren bestimmen. Am wichtigsten sind hierbei: 1) Zustand des politischen Systems in Belarus, 2) Lage der belarussischen Gesellschaft und der Opposition, 3) geopolitische Lage während des Machtwechsels und der Systemwende.

Die vorstehend genannten Faktoren werden weitgehend darüber entscheiden, ob Belarus tatsächlich vom autoritären Machtsystem zur stabilen demokratischen Staatsordnung wechselt, oder im Lande Prozesse stattfinden, die letztendlich in eine autoritäre interne Machtübergabe münden.

Ob die Wende erfolgreich verläuft, wird vor allem von der politischen Verantwortlichkeit und Reife der Eilten sowie der Gesellschaft abhängen. Einerseits weckt das Erwachen der Gesellschaft im Jahre 2020 Hoffnung, dass die Belarussen enormes Verlangen nach Demokratie im westlichen Stil behalten und sich nicht zu einer russischen „souveränen Demokratie” umorientieren. Andererseits bleibt die belarussische Gesellschaft immer noch dabei, sich national zu konsolidieren und ihrer geopolitischen Bedeutung, der politischen Werte bewusst zu werden, sowie eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ihr Land sein soll.

Studien, die die unabhängigen Denkfabriken versuchen zu führen, widerspiegeln eine ziemlich uneindeutige soziale und politische Landschaft in Belarus.

Nach Angaben des Zentrums für politische Studien Chatham House aus der Hälfte des Jahres 2021 bewerten 56 Prozent der befragten Belarussen Wladimir Putin positiv, 17 Prozent bleiben neutral und 27 Prozent schätzen ihn negativ ein. 32 Prozent der Befragten sprechen sich für eine Integration mit Russland aus und nur 9 Prozent – mit der EU. 11 Prozent der Befragten sind für eine enge institutionelle Union mit der Russischen Föderation und 7 Prozent für den Beitritt in die Russische Föderation (sollte dies auf die Stimmberechtigten bezogen werden, kann diese Zahl sogar über 300 Tausend Personen betragen), 44 Prozent der Belarussen sind für eine enge wirtschaftliche Integration mit Russland. Etwa 60 Prozent der Befragten sind der Meinung, Belarus sollte nach dem Machtwechsel Mitglied in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS – diese Organisation ist ein Sicherheitssystem und militärische Allianz einiger Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten). Diese Umfragen zeigen, dass die meisten Bürger des Landes keine klare Vorstellung von der Zukunft ihres eigenen Landes haben, was auf eine schwache Artikulation der nationalen Interessen und demokratischen Werte im Bewusstsein der Belarussen hindeutet.

Mehr noch, die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass in der belarussischen Gesellschaft weiterhin Bedarf an Autoritarismus besteht. Es ist möglich, dass dieses Bewusstsein mit einem inneren Verlangen nach Stabilität und Vorausschaubarkeit in politischen und wirtschaftlichen Prozessen verbunden ist. Solche Denkschemata beruhen auf einer Überzeugung, dass eine starke Regierung und eben ein solcher Führungsstil und nicht die intakten staatlichen Institutionen eine Garantie des allgemeinen Wohlergehens darstellen. Damit sollte die mythologisierte Wahrnehmung Putins und Russlands als Beispiel des fortschrittlichen Autoritarismus erklärt werden. Eine solche Vision kann auf dem Gefühl des eigenen staatlichen Provinzionalismus, des fehlenden Glaubens daran, dass Belarus ein eigenständiger Staat ist, beruhen.

Schon jetzt kann gesagt werden, dass der Wandel der Staatsordnung in Belarus unter schwierigen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen verlaufen wird und man kann nicht vorausschauen, wie das Endergebnis dieses Prozesses aussehen wird. Sicherlich wird es sehr schwer fallen, Systemveränderungen ohne tiefe Veränderungen in der politischen Kultur und im Bewusstsein der Belarussen, insbesondere angesichts der zunehmenden Integration mit Russland, einzuführen.

Auf der Grundlage der Entwicklungen in Belarus können folgende Szenarien der politischen Veränderungen in diesem Land und deren mögliche Folgen in den kommenden Jahren skizziert werden.

 

І. Szenarien des Wandels 

 

  1. Geopolitischer Rahmen eines politischen Wandels n Belarus 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass in den nächsten Jahren die wirtschaftliche Lage den Charakter und das Wesen der politischen Änderungen bestimmen wird. Je tiefer sich das Land in die Integrationsprojekte mit Russland engagiert, desto kleiner werden die Chancen für demokratische Veränderungen. Schon jetzt ist die geopolitische Lage von Belarus sehr gefährlich und für rasche politische Veränderungen im Lande nicht förderlich und darüber hinaus schafft die Ausgestaltung der Verhältnisse mit der Russischen Föderation eher Voraussetzungen für den Fortbestand des autoritären Systems.

Wie die Entwicklungen des Jahres 2020 gezeigt haben, hat Moskau den wichtigsten direkten Einfluss auf die politischen Prozesse in Belarus. Das wirtschaftliche, politische und militärische Bündnis mit Russland verschafft uneingeschränkte Möglichkeiten, direkt in die belarussischen Angelegenheiten einzugreifen. Allgemeine Tendenzen der letzten Monate zeigen, dass es Moskau daran liegt, die Souveränität des Nachbarstaates möglichst zu schwächen. In einer intakten Bundesstruktur mit Russland kann die Demokratisierung von Belarus eigentlich nicht stattfinden, selbst wenn Lukaschenko gezwungen wird, zu gehen.

Heutzutage zählt für die russische Regierung ausschließlich, Einfluss in Belarus zu behalten, was nur bei einem autoritär regierten Belarus möglich ist. Selbstverständlich kann Kreml daran interessiert sein, den Machthaber auszutauschen (Machttransformation), aber nicht den Staat zu demokratisieren (Systemtransformation). Moskau verfügt über enorme Mittel zur Durchführung einer Machtübergabe innerhalb des autoritären Systems, ist sich aber nicht sicher, ob es in der Lage sein wird, den Prozess des Machtwechsels in Belarus während einer politischen Krise entsprechend zu kontrollieren und Proteste der Gesellschaft zu vermeiden. Deswegen hat es Moskau bei Entscheidungen über radikale Maßnahmen nicht so eilig.

Vorausgesetzt, dass Lukaschenko innerhalb von nächsten fünf Jahren gehen wird, kann Kreml ein beliebiges Szenario der Machtübergabe unterstützen, mit dem autoritäres Regime in Belarus erhalten bleibt, vorausgesetzt, dass sich die neuen Machthaber an Russland orientieren und russische, strategische Interessen in ihrem eigenen Land wahren. Das Ergebnis des an Erwartungen Moskaus angepassten Machttransfers sollten sein:

  • Beibehalten enger, integraler militärisch-strategischer Systeme (regionale Truppenverbände, vernetztes Luftverteidigungssystem, Standorte neuer militärischer Einrichtungen / Standorte für das Militärkontingent in Belarus);
  • wirtschaftliche Abhängigkeit, Privatisierung großer Unternehmen, Stärkung russischer, zu Oligarchen gehörenden Gruppen in Belarus;
  • Bildung starker prorussischer politischer Träger in Belarus (Parteien und Organisationen, die sich aktiv an politischen Prozessen während der Machtübergabe beteiligen können);
  • Fortführung der Entnationalisierung wichtigster staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen sowie der staatlichen Sicherheitsstrukturen, die weiterhin schwer als national zu bezeichnen sind.

 

Während des Machttransfers in Belarus kann Russland zwei Szenarien realisieren:

 

Direkte politische Kontrolle (möglich in der langfristigen Perspektive, unter den Bedingungen einer dynamischen Entwicklung der Integrationsprozesse):

In dieser Option wird es vor allem auf die prorussischen Machteliten in Belarus und auf die Benennung des neuen Präsidenten ankommen. Zum Verfechter der russischen Interessen kann eine auf der Basis des Sicherheitsrates entstandene Übergangsregierung werden. Der Sicherheitsrat bekam bereits außerordentliche Befugnisse und kann selbständig die eine oder andere Politik während der Machtübergabe realisieren.

Gleichzeitig kann dieser Prozess durch supranationale Organe des Bundesstaates von Belarus und Russland, oder sogar durch russische militärische Präsenz, die sich in den kommenden Jahren entwickeln kann, kontrolliert und unterstützt werden. Der Raum für politische Aktivitäten wird eingeschränkt und der nächste „Präsident” kann entweder ein Vertreter des Klans von Lukaschenko (aserbaidschanisches Szenario) oder ein Mitglied der Nomenklatura [meistens ehemalige kommunistische Parteifunktionäre, die sich dank ihrer Beziehungen und dank ihrer finanziellen Ressourcen nach dem Fall des Kommunismus arrangiert und in der Politik, aber auch in der Wirtschaft etabliert haben] oder ein Militärvertreter (usbekisches Szenario) werden. Ein solches Gefüge wird zur intensiven Desintegration des belarussischen Staatswesens und zur Verbrennung dessen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen beitragen.

Indirekte Kontrolle, möglich unter den Bedingungen des Integrations-Status quo (armenisches Szenario)

Dieses Szenario setzt einen moderaten autoritären Transit voraus, in dem, bei geschwächter Kontrolle über interne politische Prozesse, der Erhalt strategischer Präsenz Russlands in Belarus garantiert wird, Belarus Mitglied von schlüsselwichtigen geopolitischen Projekten OVKS, SOZ (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) – in einem Bündnis mit Russland – bleibt. Ein solches Szenario könnte eine größere politische Autonomie der Zivilgesellschaft begünstigen, indem (obwohl sehr eingeschränkte) Voraussetzungen für einen Kompromiss zwischen der Opposition und der regierenden Nomenklatura geschaffen werden. Dies schließt eine scheinbar demokratische Vertretung im Parlament und auf der kommunalen Ebene, jedoch ohne eine systematische Demokratisierung der staatlichen Strukturen, nicht aus. Eine solche Option würde die volle Akzeptanz der Opposition für den als Präsident genannten, durch Moskau kontrollierten Vertreter der Nomenklatura voraussetzen. Gleichzeitig würde der Abbau der nationalen Fundamente und der belarussischen Staatsordnung fortschreiten. In Wirklichkeit würde ein hybrides Regime mit starken prorussischen Einflüssen der Oligarchen entstehen. Eine antinationale Politik wird gesellschaftlich-kulturelle Verhältnisse verschlechtern und die Chancen für die Entstehung einer starken antirussischen Bewegung untergraben und eine schnelle Konsolidierung der belarussischen und russischen Interessen sowie Ausbreitung der Korruption werden zu einem weiteren Zerfall von Belarus führen.

Eine nationale Revolution scheint meines Erachtens, angesichts der Integration mit Russland, undenkbar, denn sie würde zu einer sofortigen Intervention Moskaus führen. Eine ähnliche Situation lag gleich nach den Wahlen 2020 vor, als Putin die Bildung einer militärischen Reserve angekündigt hat, die in Belarus bei aktiven Maßnahmen der Protestierenden Verwendung finden könnte. Eine weitere Herausforderung für eine nationale Revolution und eine demokratische Machtübergabe stellt der starke Hang der uniformierten Strukturen und der Nomenklatura zu Moskau. In der Tat sind sie bereit, russische Präsenz und die Einschränkung der Souveränität zu unterstützen – nicht aber eine nationale Revolution.

Somit bleibt ein autoritäres Russland immer eine zivilisatorische Herausforderung für Belarus und es wird sich immer bemühen, Änderungen in diesem Land für eigene Zwecke zu nutzen.

Schnelle und positive Entwicklungen können dann stattfinden, wenn strategische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland nachlässt, was unter folgenden Voraussetzungen möglich wäre:

a) bei einer sehr schnellen politischen Machtübergabe in Belarus, auf die Russland nicht vorbereitet sein wird,

b) bei innenpolitischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in Russland selbst, wenn eigene Probleme (Krise) Russland zwingen, seinen Einfluss in Belarus zu vernachlässigen.

So oder so wird eine konsolidierte national-demokratische Front mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung notwendig sein, um die eine oder andere Situation in Belarus zu nutzen und den Prozess eines demokratischen Wandels anzustoßen.

Momentan sollte sich die demokratisch orientierte Gemeinschaft in Belarus darauf konzentrieren, russische Expansion in ihrem Land zu verlangsamen. Und dazu braucht man:

  • eine gesamtnationale Konsolidierung der Gesellschaft und der Opposition in Belarus. Versuche, sich bei Kreml „einzuschmeicheln” und Unterstützung aus Russland zu bekommen, werden die Position der neuen Opposition nicht stärken,
  • Gestaltung der einerseits antirussischen und andererseits proeuropäischen Gesinnung und Orientierung in der belarussischen Gesellschaft,
  • Systematische Unterstützung des Westens (insbesondere der UE) für die Entwicklung der belarussischen nationalen Institutionen und international angelegte Entgegenwirkung der bundesstaatlichen Integration von Russland und Belarus. Belarus sollte zur geopolitischen Priorität Europas werden.

Die letztgenannte These sollte zum Grundstein der allgemeinen Strategie der Europäischen Union gegenüber Belarus werden, unabhängig davon, wie sich die Entwicklungen innerhalb dieses Landes gestalten.

  1. Politisches System während des Machttransfers 

Der Charakter und die Ausrichtung der politischen Veränderungen hängen sicherlich von dem Zustand der Staatsordnung und dem der Machteliten ab. Interne Konsolidierung der Machtstrukturen wird die Fähigkeit des Systems bestimmen, sich den Veränderungen zu widersetzen, der Zerfall der staatlichen Strukturen wird die regierenden Gruppen wiederum zwingen, nach Kompromissen und Zugeständnissen zugunsten der Gesellschaft zu suchen. Die jetzt umrissene Politik des Regimes wird im großen Umfang den Charakter künftiger Änderungen bestimmen. Ständige Repressionen, Terror und Unrecht vertiefen die gesellschaftliche Polarisierung, steigern den gegenseitigen Hass und Gewaltbereitschaft, was den Nährboden für radikale revolutionsartige Erschütterungen im Land und für eine andauernde politische Konfrontation in der Gesellschaft darstellen kann, wenn die politische Kontrolle abzuebben beginnt.

Selbstverständlich ist die Stabilität eines Systems nur relativ, es gibt eine Reihe nicht vorausschaubarer Faktoren, die den politischen Inhalt und die politischen Verhältnisse in Belarus verändern können. Zu solchen Faktoren gehören eine unerwartete Erkrankung Lukaschenkos, sein plötzliches Ableben, ein Militärputsch und auch systemische Probleme in Russland, Zuspitzung der außenpolitischen Konfrontation usw.

In diesem Beitrag soll jedoch eingeschätzt werden, wie sich aufgrund der heutigen politischen und psychologischen Rahmenbedingungen die Lage der regierenden Eliten und der belarussischen Gesellschaft entwickeln kann.

Die tatsächlich vorliegende Lage in Belarus lässt die Behauptung zu, dass Lukaschenko nicht die Absicht hat, in absehbarer Zeit zurückzutreten, im Gegenteil – er wird alles Mögliche machen, um seine Position nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch die Staatsleitung an jemand aus seiner Umgebung zu übergeben, höchstwahrscheinlich an den jüngsten Sohn Mikalaj. Zu diesem Zweck muss er Machtstrukturen schaffen, die die Stabilität seiner Macht und die Stabilität des Systems langfristig, für mindestens 7–10 Jahre gewährleisten. Die politische Krise brachte Lukaschenko und sein Umfeld in eine tiefe Transformation des Regimes in Richtung Totalitarismus, mit einer Zerstörung der zivilgesellschaftlichen Autonomie.

Gleichzeitig kam es zu interner Konsolidierung der regierenden Nomenklatura und der Sicherheitskräfte. Diese neue politische Elite wird auf Kosten der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ihren Machteinfluss sichern und eine Kontinuität in der autoritären Führung anstreben wollen. Verbrechen der Regierenden bewegen sie zu noch mehr Konsolidierung und noch strengeren Repressionen, denn nur der Machterhalt garantiert ihnen Sicherheit und Straffreiheit. Mit anderen Worten ist der Erhalt des neototalitären Systems ein psychologisches Bedürfnis der Menschen, die das aktuelle Regime aufrechterhalten und ihm dienen. Es bedeutet ebenfalls, dass diese Gruppe in dieser Phase zu keinerlei Kompromissen bereit ist.

Aufgrund der Kenntnisse der Lage innerhalb des politischen Systems in Belarus können folgende Szenarien einer autoritären Machtübergabe aufgezeigt werden:

  1. Transfer innerhalb des Klans. Machterhalt innerhalb der regierenden Eliten. Das Ziel besteht darin, konsolidierte Macht in den Händen eines der Söhne von Lukaschenko, Wiktar oder Mikalaj. Zu diesem Zweck werden spezielle Verfassungsänderungen (2022–2023) eingeführt, die Alexander Lukaschenko den Machterhalt für weitere 5–7 Jahre sowie die Möglichkeit eines klaninternen Transfers gewährleisten sollen. Eine solche Änderung ist nur möglich, soweit der Diktator an der Macht bleibt und der Machtapparat der Familie Lukaschenko vollumfänglich treu bleibt.
  2. Transfer unter Beteiligung von Militär und Nomenklatura (usbekisches Szenario). Es besteht darin, dass die Familie in ihrem Einfluss eingeschränkt wird oder gar gestürzt wird (nach Ausscheiden von Lukaschenko) und alle politischen und wirtschaftlichen Instrumente in den Händen einer Gruppe der höchsten Staats- und Sicherheitsfunktionäre gebündelt wird. Das neue Regime wird die Vorgehensweise des alten fortsetzen, denn dies ist die Hauptbedingung für dessen Überleben. Nichtsdestoweniger ist eine Politik des Terrors längerfristig nicht haltbar und eine Legitimation der neuen Regierung ist für ihre Stabilität notwendig. In diesem Fall kann ein beschränkter Kompromiss mit der Opposition (deren einzelnen Gruppen) nicht ausgeschlossen werden, soweit sich die Opposition längerfristig als einflussreiche Kraft erweist. Es fällt schwer, jetzt einzuschätzen, inwieweit ein solcher Kompromiss möglich ist und ob dessen Ziel Systemänderungen sein werden oder die Rolle der Opposition auf irrelevante politische Funktionen mit Schmuckcharakter reduziert wird, insbesondere dann, falls die Opposition zersplittert werden sollte.

Je länger wiederum Aleksander Lukaschenko an der Macht bleibt, desto schwieriger der Prozess des Wandels und der Demokratisierung des Landes sein wird, unabhängig vom künftigen Szenario der Veränderungen. Lange Regierungsjahre Lukaschenkos tragen einerseits zur weiteren internen Festigung des Systems, zur Zerstörung der öffentlichen Institutionen, zum beruflichen Burnout der belarussischen Gesellschaft sowie zur allgemeinen Degradierung der Gesellschaft bei. Andererseits wird sich ein Teil der Gesellschaft, die Schichten, die die neototalitäre Politik unterstützen, vollumfänglich dem demokratischen Transfer widersetzen für den Erhalt des Status Quo sorgen und somit negative Tendenzen in der Gesellschaft und in der Wirtschaft beschleunigen.

So steigen wirtschaftliche und politische Kosten der Wende. Wäre die Wende 2020–2021 gekommen, getragen von der Woge des enormen psychologischen Impulses, der menschlichen Fachressourcen, des mehr oder weniger stabilen Finanzsystems und der industriellen Produktion gekommen, dann hätte eine Transformation der Staatsordnung und der Wirtschaft weniger Zeit und Anstrengungen (Konsolidierung der Gesellschaft) sowie Finanzauflagen bedürft. Nach 2021 (sollte die Wende etwa 2025 kommen) wird – bei der Aushöhlung der intellektuellen und professionellen Ressourcen, also des Reformantriebs des Landes, bei der Zerstörung der öffentlichen Institutionen, bei der Zerstörung der wirtschaftlich aktiver Mittelschicht, beim Anstieg der Krisensymptome im staatlichen Produktionssektor, beim Anstieg der verdeckten Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit usw. – die Implementierung der Systemreformen größerer wirtschaftlicher und sozialer Opfer, größerer Auflagen und folglich: auch Zeit bedürfen. Mit anderen Worten ist ein mehr oder weniger stabiles gesellschaftliches und wirtschaftliches System einfacher als ein desolates System zu reformieren. Es ist auch zu bedenken, dass sich die Politik der Wirtschaftssanktionen und der politischen Isolation von Belarus destruktiv auf die belarussische Wirtschaft auswirkt.

Opposition und Gesellschaft: Schwungrad der Veränderungen 

Eine Chance auf demokratische Transformation in Belarus ist gegeben, kann aber nur bei einer starken Konsolidierung der Opposition und der Gesellschaft sowie bei direkter Beteiligung an politischen Prozessen genutzt werden. In der heutigen Phase der historischen Entwicklung von Belarus beobachten wir negative Tendenzen, die sich in der Gesellschaft und in der Opposition bemerkbar gemacht hatten und eine Folge der destruktiven Politik des Terrors und der Stärkung des bestehenden Regimes sind.

Mit der Zeit werden sich Frust, Passivität, Misstrauen und soziale Konflikte anhäufen und die Zersplitterung und Unentschlossenheit innerhalb der Opposition werden zunehmen. Neue Oppositionsstrukturen waren und sind immer noch auf eine systemrelevante und langfristige Konfrontation mit dem Regime nicht vorbereitet. Ihre Aktivitäten bleiben auf dem Niveau der international nur schwach präsenten Nichtregierungsorganisationen und Partien. Gleichzeitig kann die Opposition kein vollberechtigter Akteur der Veränderungen in Belarus werden, wenn sie bis zum Machttransfer nicht zu einer starken, konsolidierten Kraft wird. Es besteht die Gefahr, dass die Opposition ihr Potential der Einflussnahme verliert, insbesondere wenn sie keine breite gesellschaftliche Unterstützung bekommt. Obendrein wird das Fehlen einer globalen, einheitlichen Strategie die Durchführung einer demokratischen Transformation in Belarus unmöglich machen.

  • Im jetzigen Stadium, solange die Gefahr besteht, dass die politische Krise und Konfrontation eine nicht absehbare Zeit dauern werden, steht die Opposition vor folgenden strategischen Zielen:
  • interne Konsolidierung, Erhalt einer breiten national-demokratischen Front,
  • Institutionalisierung – Bildung einer Matrix von politischen Institutionen und Führungsmechanismen,
  • Aufbau der Personalressourcen, die während der Machtübernahme und in der Phase der Transformation auf der Makro- und Mikroebene eingesetzt – unter Berücksichtigung der im Exil lebenden Belarussen,
  • Erhalt einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung in Belarus,
  • Stärkung des nationalen Diskurses, um stufenweise Umdenken in Belarus herbeizuführen und die mit der nationalen Wiedergeburt verbundenen Phobien zu überwinden.

Anders gesagt sind es die Bildung und Entwicklung einer institutionellen Matrix sowie Konzentration der Bemühungen zur Bildung des nationalen Selbstbewusstseins der Belarussen, die aufgrund der Veränderungen im Bereich der politischen Kultur und der Werte die Grundlagen der künftigen Veränderungen stärken. Nur so kann die Opposition ihre Positionen halten und ein Akteur bleiben, den die Behörden während der Transformation achten müssen. Nur so kann die Mehrheit der Bürger eine zivilgesellschaftliche Basis für fundamentale Reformen werden.

Im Idealfall sollte in Belarus eine national orientierte, professionelle und verantwortungsvolle politische Elite an die Macht kommen, die personell entsprechend aufgestellt ist und über finanzielle Mittel für die Durchführung zügiger und wirksamer Reformen verfügt. Ein solches Szenario ist allerdings wenig wahrscheinlich, und selbst wenn es denkbar wäre, dann nur bei einer revolutionären Entwicklung und dann würde sie einer einheitlichen politischen Front sowie der Bereitschaft, radikal zu handeln, bedürfen. Voraussetzungen für ein solches Szenario könnten sein:

  • plötzliches Ausscheiden (Tod) von Alexander Lukaschenko, nach dem die Machteliten desorientiert sind und nicht wissen, was weiter zu tun wäre. Die Opposition müsste sehr schnell innerhalb von einem oder zwei Tagen Druck auf die Regierenden im großen, revolutionären Ausmaß ausüben und Zugeständnisse erzwingen,
  • infolge des Wechsels des autoritären Machthabers wird die Nomenklatura im kritischen Moment in der Lage sein, Einflussmacht zu behalten, aber angesichts des fehlenden politischen Willens (Problem der Kontrolle und der starken Führung) kann sie die bisherigen Machteliten zu Verhandlungen mit der Opposition zwingen. Unter solchen Umständen werden demokratische Kräfte mit Massenprotesten und Sperren die Regierenden zum Dialog zwingen und die Landesführung vollständig übernehmen können.

Aufgrund der Kenntnisse der derzeitig vorliegenden Lage können wir längerfristig über zwei politische Konfigurationen mit Beteiligung der Opposition sprechen: Nomenklatura–Opposition und Opposition–Nomenklatura.

А. Das Szenario für das Gefüge NomenklaturaOpposition bedeutet, dass es der Nomenklatura / den Sicherheitskräften gelungen ist, Macht und Einfluss zu behalten, um aber innerstaatliche Spannungen zu reduzieren, um Legitimation für die Machtausübung zu erlangen, werden sie die Opposition für eigene Zwecke missbrauchen. Unter diesen Umständen wird eine volle Demokratisierung unmöglich sein und das Regime wird die Eigenschaften einer hybriden, oligarchischen Machtausübung bekommen.

В. Das Szenario für das Gefüge Opposition-Nomenklatura kann Wirklichkeit werden, wenn es eine starke, einflussreiche Opposition gibt, die in der Lage sein wird, regierende Eliten zu Zugeständnissen zu zwingen und einen Teil des Machtapparates beim Aufbau des neuen Systems mitzunehmen, um eine institutionelle Stabilität zu erhalten. Einerseits scheint unvermeidlich, dass ein Teil des Personals in der Verwaltung und im Managementbereich ihren Job nicht verliert. In Belarus gibt es ca. 200 Tausend Beamte und die Opposition ist noch nicht in der Lage, ihren eigenen, breiten Machtapparat zu bestellen, auch nicht, um die Schlüsselpositionen neuzubesetzen. Andererseits kann ein solcher Kompromiss bei der gegebenen Beamtenkultur den Demokratisierungsprozess verlangsamen, wenn der Einfluss der Nomenklatura in den obersten Machtetagen erhalten bleibt.

Das Szenario B scheint am meisten konstruktiv zu sein und ließe radikale staatliche und gesellschaftliche Einbrüche vermeiden. Dies würde allerdings auch die Implementierung von Mechanismen erfordern, die das Risiko der Sabotage von Entscheidungen, der Korruption und des autoritären Revanchismus minimieren.

Es ist noch einmal zu betonen, dass „sanfte” Szenarien der Veränderungen – vom Transfer bis zur Transformation – nur dann möglich sind, wenn Russland „Beobachter” der internen politischen Prozesse in Belarus bleibt. Anderenfalls ist bei einem jeden Szenario wenig wahrscheinlich, dass eine Intervention Moskaus vermieden werden kann. Unbekannt bleibt nur die Form dieser Intervention.

II. Strategie der Transformation

In den letzten Jahren erarbeiteten diverse oppositionelle Gruppierungen eigene Handlungspläne und diverse Projekte wirtschaftlicher und institutioneller Reformen in Belarus. Im weiteren Teil des Textes sollen grundlegende Richtungen aufgezeigt werden, ohne die eine gelungene Transformation wenig wahrscheinlich ist.

Wie bereits vermerkt, sollte für die Reformen interne Konsolidierung und Einheit der Opposition betr. Ansatz und Methoden der Einführung der Systemwende das Startkapital sein. Dadurch würde sich die politische Energie nicht auf interne Streitigkeiten und Konflikte (Verteilungskampf) sondern auf die Erreichung der gemeinsamer Ziele und des gesellschaftlichen Wohlstandes konzentrieren. Die Einheit garantiert auch eine breite gesellschaftliche Unterstützung und schränkt den Raum für populistische Politiker ein. Es ist auch zu betonen, dass gemeinsame Mobilisierung und kollektive Verantwortung menschliches, berufliches, intellektuelles Potential der demokratischen Gemeinschaft bündeln ließen, um die für den Staat und für die Gesellschaft wichtigen Belange anzugehen. Wesentlich ist, dass den neuen politischen Eliten höchstwahrscheinlich nicht viel Zeit bleiben wird, um Systemänderungen einzuführen, es werden buchstäblich 6 bis 12 Monate sein und dann kommt eine Systemkrise mit Anhäufung von Widersprüchen und ggf. autoritärem Revanchismus.

Demokratische Kräfte sollten dann schon eine fertige Analyse der möglichen Szenarien der weiteren Entwicklungen in Belarus haben sowie psychisch und politisch, und vor allem praktisch auf unerwartete Entwicklungen im Lande vorbereitet sein. Darüber hinaus sollte schon eine Kaderbasis in Bereitschaft bleiben, die man als „Personalreserve für Verwaltung und Management” bezeichnen kann. Eine Kaderreserve erlaubt es, ein stabiles Management in der Zentrale sowie vor Ort für die Zeit bis zur Wahl sicherzustellen. Gleichzeitig ist es notwendig, Kontrolle über das Militär und Geheimdienste zu sichern, um Ordnung und Sicherheit des Staates bei externen Gefahren aufrechtzuerhalten.

Tatsächlich könnte sich schon jetzt die Opposition darauf konzentrieren, ein Schattenkabinett und alternative staatliche Strukturen zu bilden, die zum Fundament vom zukünftigen Belarus würden.

Die Transformation des politischen Systems kann in mehreren Phasen stattfinden.

  1. In der ersten Phase, einige Monate nach dem Machtwechsel, wird eine Verbesserung der Arbeit schlüsselwichtiger politischer Institutionen durch die Rückkehr zur demokratischen Verfassung von 1994 notwendig sein, mit der eine parlamentarisch-präsidentielle Republik eingeführt wurde. Anschließend – Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen. Gleichzeitig, angesichts der Probleme in der Übergangszeit, Risiko der Rache oder Sabotage von Seiten der lukaschenkotreuen Nomenklatura, Geheimdienste und Wirtschaft. Einem Teil dieser Gruppen sollte das passive Wahlrecht entzogen werden. Es ist eine befristete aber notwendige Maßnahme zur Einschränkung der politischen Rechte für eine Übergangszeit von bis zu 5 Jahren, um Korruption und Dauerkonflikte in zentralen und regionalen Behörden zu vermeiden. Am Beispiel von Ukraine, Georgien und Moldau kann festgestellt werden, wie schnell demokratische Institutionen zur politischen, gegen Demokratie gerichteten Waffe werden und das System der Oligarchie formalisieren.
  2. Unter Lukaschenko bildete sich eine mehr oder weniger konsolidierte Geschäftsgruppe der Nomenklatura, die ihren Einfluss in enger Verbindung mit dem bestehenden politischen System aufgebaut hatte. Alexej Alexin (Energo-Oil und Belneftegas), Alexander Schakutzin, Mitglied des Republikrates der Volksversammlung von Belarus, Alexander Sajzew (Bremino Group), Michail Maschensky (JV Santa Bremar) und viele andere. Diese Gruppe verfügt über enorme politische und finanzielle Ressourcen, die in der Zeit der Transformation der Aufrechterhaltung eigener Einflüsse und politischer Kontrolle dienen werden. Zu diesem Zweck wird die Postlukaschenko-Geschäftswelt Parteien und Organisationen, Mediengruppen bilden oder unterstützen sowie in die politische Verwaltung eingreifen, was zur „Privatisierung” der Politik und zur Entstehung eines oligarchischen Systems führen kann. Ohne präventive Maßnahmen zur Einschränkung der politischen Einflüsse dieser Gruppe kann Belarus mit einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, Korruption und Schwächung der neuen staatlichen Institutionen konfrontiert werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die belarussischen Oligarchen Unterstützung in Moskau suchen werden. Deswegen sollen sie für die Übergangszeit mit Einschränkungen bei politischen Aktivitäten und Finanzierung der politischen Organisationen belegt werden.
  3. Die Rolle der ehemaligen Angehörigen der belarussischen Geheimdienste darf ebenfalls nicht missachtet werden. In Russland hat so eine Missachtung zum Revanchismus und im Jahre 2000 zur Wiederherstellung des autoritären Regimes unter Wladimir Putin geführt. Im Zusammenhang damit sollte einer der Absicherungsmechanismen für den Transformationsprozess die Lustration sein. Vordergründig wird es notwendig sein, die Gesellschaft zu heilen und das Gerechtigkeitsgefühl wiederaufzubauen. Vor allem ist es aber sehr wichtig, dass Personen, die an den Repressionen und Fälschungen beteiligt waren, keine Positionen in staatlichen Institutionen und Organen wie Gerichte, Staatsanwaltschaften, Strafverfolgungsbehörden, Regierungsinstitutionen und Bildungswesen bekleiden dürfen. Selbstverständlich kann es zu Personalmangel führen, aber ohne umfassende Lustration wird es schwierig sein, intaktes Rechtssystem, intakte staatliche und kommunale Institutionen aufzubauen.
  4. Unverzüglich sollten regimetreue Organisationen aufgelöst werden wie Belarussischer Jugendverband [BRSM], Belarussische Organisation der Pioniere [BRPA], die Organisation „Weiße Rus”. Dies gilt auch für die „staatliche Ideologie”. Notwendig ist es, Medienpolitik des Staates umfassend zu revidieren, uneingeschränkte staatliche Kontrolle im Informationsraum abzuschaffen, Medienvielfalt wiederherzustellen und den nationalen Diskurs der belarussischen Massenmedien zu stärken
  5. Zur Stärkung der demokratischen Institutionen sind Änderungen in der politischen Kultur und im Bewusstsein der Bürger sowie Änderung der Einstellung zur Politik notwendig. Und dies ist bei einer aktiven Beteiligung der Bürger am politischen Leben auf der kommunalen und staatlichen Ebene möglich. Diese Aktivität wird dadurch zum Ausdruck kommen, dass Vereine und Bürgerinitiativen, Einwohnervertretungen am Wohnort und Elternvertretungen in den Schulen gegründet werden, eine der Formen dieser Aktivität sind Studentenvertretungen an den Hochschulen. Im Allgemeinen sollte in Belarus akademische Freiheit an den Hochschulen eingeführt werden und eine zügige Integration des belarussischen mit dem europäischen Bildungswesen gewährleisten.
  6. Unabdingbar ist die Einberufung eines Instituts für Nationales Gedenken [etwa: Gauck-Behörde], welches für erfolgreiche allgemeine Entkommunisierung und Entsowjetisierung der Gesellschaft sowie für den Erhalt von und Zugang zu Archiven aus Sowjet- und Lukaschenko-Zeiten sorgt. Die Tätigkeiten eines solchen Instituts hätten zum Ziel, historische Wahrheit wiederherzustellen und Verbrechen gegen die belarussische Nation zu untersuchen.
  7. Die Transformation der Staatsordnung kann nicht positiv abgeschlossen werden, wenn sie nicht auf das nationale Bewusstsein und demokratische Werte der gesellschaftlichen Mehrheit in Belarus baut. Unterstützende Maßnahmen zu diesem Prozess wären die Popularisierung der Sprache und der nationalen Kultur, stufenweise, aber systematische Einführung der belarussischen Sprache auf der Ebene der Staatseliten, Stärkung der nationalen Bildung und Fokussierung auf den Aufbau eines nationalen Staates.

 

In der jetzigen geopolitischen Lage, geprägt durch aggressive (imperiale) Politik Russlands, ist im Prozess der politischen Wende eine Konfrontation mit Moskau unausweichlich. Der Nachbar im Osten beeinflusst die Entwicklungen im Lande destabilisierend. Darunter ist die Abstreitung der Opposition in der belarussischen Gesellschaft und in der internationalen Öffentlichkeit zu verstehen. Einerseits können neue belarussische politische Eliten Beziehungen zu Russland auf Basis der Neutralität und der gleichberechtigen Beziehungen sowohl zum Westen als auch zum Osten aufgebaut werden, aber andererseits brauchen sie dann Garantien der internationalen Institutionen, die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit von Belarus schützen werden. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass Länder, die sich außerhalb der Europäischen Union entwickeln, ernsthafte Probleme bei einer Systemtransformation und bei der Stärkung der demokratischen Institutionen haben. Die Europäische Union bildet eine starke Basis bei einem Übergang zur Demokratie, wirkt autoritären und korruptionsartigen Entwicklungen entgegen sowie zwingt die regierenden Eliten, Rechtsnormen einzuhalten. Wenn wir über heutiges Belarus reden, müssen wir bedenken, dass nach einer langjährigen autoritären Realität, in einer labilen Rechts- und Demokratiekultur, bei ausbleibenden Aussichten auf eine Integration mit der EU sowie ohne eine wirtschaftliche und politische Unterstützung der EU ein erfolgreicher Übergang vom Autoritarismus zur Demokratie für dieses Land sehr schwierig sein wird.

***

Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

Fot. Max Katz. Src: Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)