Jakub Bodziony spricht über die Geschichte des sog. letzten Diktators in Europa mit Dr. Pavel Usov, einem seit Jahren in Warschau wohnenden hervorragenden Politikwissenschaftler.
Jakub Bodziony: Ihr Studium begannen Sie 1993, als demokratisches und unabhängiges Belarus in Formung begriffen war und waren damit 1998 fertig, als das autoritäre Lukaschenko-Regime etabliert war. Wie hat sich in dieser Zeit Belarus geändert?
Pawel Usov Das war eine gesellschaftliche und akademische Evolution. Ich erinnere mich, dass ich als Student das Gefühl enormer Möglichkeiten hatte. Nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht war Belarus damals weltoffen und die ganze Welt war gewissermaßen in Belarus vertreten.
Ich stamme aus einer regionalen, im Osten des Landes gelegenen Stadt Mogiljow, die als Vorposten Russlands galt. In den 90-ger Jahren waren junge Menschen von der belarussischen Sprache und von dem Unabhängigkeitsgedanken fasziniert. Die Mehrheit der Gesellschaft teilte diese Ansprüche leider nicht, denn wie in jedem Staate träumt der einfache Bürger von normalen, stabilen Lebensverhältnissen und von einem Job. Es sind Studenten, die häufiger etwas mehr wollen und manchmal das Materielle zugunsten des Intellektuellen ignorieren.
Die Zeit bis 1996 war eine Zeit der akademischen Freiheit. Alexander Lukaschenko absolvierte die Historische Fakultät an der Staatlichen Universität zu Mogiljow. Wir studierten bei den gleichen Professoren. Als Lukaschenko 1994 in den Präsidentschaftswahlen kandidierte, waren diese von ihm nicht gerade begeistert…
Halten wir etwas inne. Wir schreiben das Jahr 1991, da erlangt Belarus Unabhängigkeit und nur drei Jahre später finden Präsidentschaftswahlen statt, in denen Lukaschenko mit Abstand gewinnt. Wie kam es dazu?
Es soll darauf hingewiesen werden, dass ein Teil der demokratischen Opposition gegen die Einführung des Präsidentenpostens war. Die im Jahre 1993 beschlossene Verfassung wurde durch die mehrheitlich vertretene postkommunistische Nomenklatura [ehem. Staats.- und Parteifunktionäre, die dank ihrer Beziehungen an wirtschaftliches Vermögen und politischen Einfluss kamen] unterstützt, was eine der Ursachen der Machtergreifung Lukaschenkos war.
Vertreter dieser postkommunistischen Nomenklatura war der damalige Ministerpräsident Wjatschaslau Kebitsch. Eben die postkommunistische Nomenklatura wollte Kebitsch zum ersten Präsidenten machen und seinetwegen wurde die Funktion des Präsidenten in die Verfassung eingeführt. Die Vollmachten und Handlungsspielräume waren jedoch einigermaßen eingeschränkt.
Warum?
Weil Belarus in den Jahren 1993 – 1996 in der Tat eine parlamentarisch-präsidentielle Republik war, also die wichtigsten Befugnisse hatte das Parlament.
Lukaschenkos Weg an die Macht war zweispurig. Erstens hatte er vor den Wahlen in einer Kommission zur Korruptionsbekämpfung unter den höchsten Beamten den Vorsitz inne. Es war damals ein sehr tragfähiges Thema und er konnte damit soziales Kapital schlagen. Mehr noch, die Medien waren damals unabhängig und über Lukaschenko berichteten damals alle bedeutenden Zeitungen, was ihm schnell zur Popularität verhalf.
Er wurde also eine Art Volkstribun, der zivilgesellschaftliche Freiheiten nutzte, um die Macht zu ergreifen?
Durchaus ja. Die zweite Eigenschaft, die für ihn sprach, war die Jugend. Vor dem Hintergrund der alten Nomenklatura wie Wjatschaslau Kebitsch sah er ziemlich ehrgeizig und… roh aus. Und das gefiel den Menschen.
Die belarussische Gesellschaft war in dieser Zeit agrar. Die Zahl der Stadtbewohner überstieg die der auf dem Lande Lebenden bereits in den siebziger Jahren, es waren aber Zuzügler aus Dörfern und Kleinstädten. Die Mentalität änderte sich nicht – sie blieb agrar und autoritär.
Lukaschenko vermochte es, in dieser Kultur primitive Erwartungen zu nutzen, die diese Kultur hervorbrachte. In Belarus war lange Jahre der Spruch Tscharka und Schkwarka, [sinngemäß: Glas (Wodka) und Speck], also die einfachsten Dinge für einfache Menschen und einfache Bürger, für welche die Begriffe Freiheit, Demokratie oder Unabhängigkeit keinen Wert hatten.
Wenn es also möglich war, solch abstrakte Slogans gegen Greifbares zu tauschen, war die Mehrheit gewillt, es anzunehmen. Deswegen haben sie Lukaschenko gewählt und später in weiteren Referenden unterstützt, mit denen seine Macht gestärkt wurde.
Da entschieden sich die Menschen, Demokratie, historische, kulturelle und sprachliche Werte aufzugeben. Belarussische Gesellschaft war im hohen Grade russifiziert und sowjetisiert, es war ein erfolgreiches Projekt der Kommunisten. In den neunziger Jahren konnte man sehen, worauf ein sowjetischer Mensch basiert, für den die Unabhängigkeit und der eigene Staat ohne Bedeutung sind.
Ein wichtiger Aspekt ist die sehr schwierige wirtschaftliche Lage, die es möglich machte, Werte wie Demokratie, Freiheit oder Pluralismus mit dem gesellschaftlichen Chaos und Anarchie gleichzusetzen. Ähnliche Prozesse gab es übrigens zu gleicher Zeit in Russland.
Absolut. Den gemeinsamen Nenner für die Mehrheit der belarussischen, aber auch der ukrainischen oder russischen Gesellschaft bildete der mit der Demokratie verbundene Chaos. In Wirklichkeit war er eine Folge des Niedergangs des autoritären Systems. Vor 1991 waren die Bürger an den Entscheidungsprozessen nicht beteiligt. Diese Verantwortung lag immer irgendwo da oben, in den Händen der Regierenden.
Belarussische Gesellschaft wusste nicht, wie man mit den neuen Rechten umgehen, in dem neuen Staat und im Rahmen der neuen politischen Wirklichkeit funktionieren soll. Zumal diese Periode der Unstabilität sehr schnell und effektiv die zuvor der kommunistischen Nomenklatura nahestehende, sog. goldene Jugend zu nutzen wusste, die mit der Zeit zu einer Gruppe der Oligarchen wurde.
Ähnlich war es bei den Vertretern der ehemaligen Geheimdienste, die sich der Banken und Unternehmen bemächtigt hatten. Wegen dieser Plünderung, die zu dem Demokratisierungsprozess keinerlei Bezug hatte, hatte die Gesellschaft nichts mehr und andererseits identifizierte sie sich nicht mit dem neuen System. Die Menschen wurden um die Möglichkeit gebracht, normal zu funktionieren. Ihnen fehlten Absicherung, Stabilität und Zukunftsperspektiven.
Gerade dies machte sich Lukaschenko zunutze, indem er versprach, all diejenigen, die gestohlen und geraubt haben, hinter Gitter zu bringen. Er versprach ebenfalls, staatliche Kontrolle in der Wirtschaft wiederherzustellen. Er wollte Instrumente aus den UdSSR-Zeiten nutzen. Der Staat sollte den Wirtschaftssektor, die Industrie und den Agrarsektor direkt steuern. Bis heute gibt es in Belarus Kolchosen, so wie es in Polen vor der Wende landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gab. Lukaschenko selbst war früher ein Direktor einer solchen Genossenschaft.
Diese Schritte führten keine Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Lande, aber die Sozial- und Wirtschaftspolitik in Belarus wurde – vor dem Hintergrund dessen, was sich lange Zeit in der Ukraine und in Russland abspielte – positiv eingeschätzt. Das ist der Grund für die langjährige Unterstützung und Legitimation Lukaschenkos Machtausübung. Solange er den sog. sozialen Vertrag erfüllte, der auf Absicherung des materiellen Wohlstands stützte, genoss er einen breiten und stabilen Zuspruch von bis zu 50 Prozent.
Dann haben wir einen ehemaligen Kolchoseleiter, der zum Superstar der Politik der Korruptionsbekämpfung wurde und, von dieser Welle getragen, die Wahlen gewinnt. Sowohl dem politischen Establishment, als auch anderen Gruppierungen durfte wohl klar gewesen sein, dass nun auf die Bühne eine Person kommt, die das politische System einverleiben will.
In dieser kurzen, knapp fünfjährigen Phase der Demokratie, konnte keine neue politische Elite entstehen, die in der Lage wäre, an die Macht zu kommen, diese Mach zu erhalten und den Staat effizient zu führen.
Es regierten Postkommunisten, die an der Idee der Sowjetunion hingen und davon träumten, dass deren Wiederaufbau möglich sein wird. Als Kebitsch die Wahlen 1994 verloren hat, begann die Mehrheit der Elite nach einem anderen, starken Anführer zu suchen. Lukaschenko war in ihren Augen ein geeigneter Kandidat.
Es gab aber auch einen Augenblick des Widerstands. Nach Lukaschenkos Machtübernahme verbarrikadierten sich einige Abgeordneten in einem der Parlamentsgebäude aus Protest gegen die eingeführten Änderungen. Lukaschenko zeigte damals, dass er vor nichts zurückschrecken wird, um seine politischen Gegner zu beseitigen.
Damals stimmte die parlamentarische Mehrheit dem ersten Referendum zu, in dem über Änderung der Staatssymbole und über die Befugnis des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, entschieden werden sollte. Belarussische politische Klasse beschloss, dieses Spiel mit Lukaschenko mitzumachen. Lediglich eine kleine Gruppe mit Sjanon Pasnjak an der Spitze verbarrikadierte sich aus Protest im Parlamentsgebäude. Lukaschenko schickte gegen sie Spezialeinsatztruppen. Die Protestierenden wurden zusammengeschlagen und auf die Straße rausgeworfen.
Es gab keine Reaktion: weder von Seiten der Gesellschaft, noch von den staatlichen Strukturen: Staatsanwaltschaft, Gerichte oder gar von Seiten des Parlaments, in dem es zu dieser Auseinandersetzung kam. Es gab sie nicht, da diese prosowjetische Mehrheit die Entscheidung über Gewaltanwendung befürwortete.
Diese Situation löste einen bedeutenden psychologischen Effekt aus und führte zu einer Wende zugunsten von Lukaschenko. Er zeigte seine Stärke und Bereitschaft, um den Machtkampf allen Mitteln zu führen. Andererseits wurden Schwäche und Unentschlossenheit der Gesellschaft und der demokratischen Institutionen offenbart. Sie konnten nicht richtig funktionieren, wenn sich Personen an deren Spitze immer noch von postsowjetischer Mentalität leiten ließen.
Wir sprachen über die prosowjetische Wende Lukaschenkos, der bemüht war, an die Vergangenheit anzuknüpfen, indem er die Wirtschafts- und politische Krise ausnutzte. Auf welche Art und Weise wurde Russland Lukaschenkos Stütze und Bürge? Und was waren die Beweggründe der Entscheidungsträger in Kreml?
Die Unterstützung für Lukaschenko rührte vor allem daher, dass die Kreml-Eliten verstanden hatten, dank Lukaschenko Belarus weiterhin kontrollieren zu können. Russland manipulierte mit der Idee eines Bundesstaates, die man bereits in der zweiten Hälfte neunziger Jahre zu implementieren begann, und wollte sicherstellen, dass Minsk unter dem militärischen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss bleibt.
Lukaschenko war an der Erarbeitung und Umsetzung der einschlägigen Abkommen sehr aktiv beteiligt. In diesem Zeitraum fiel die Russische Föderation auseinander und es war auch von großer psychologischer Bedeutung, Belarus beizubehalten. Russland bekam die Chance zu zeigen, es kann immer noch anziehen und nicht nur verlieren.
Die Integration war für Lukaschenko auch ein Weg, eigene Ambitionen und Interessen durchzusetzen. In seinen Reden machte er keinen Hehl daraus, dass er Präsident eines Bundesstaates werden möchte. Er wollte nach Russland und nach Kreml eben dank diesem Projekt kommen, indem er Belarus – und zwar an Russland – verkauft.
Glauben Sie, dass es realistisch war? Also wenn es Wladimir Putin nicht gegeben hätte, könnte dann Lukaschenko heute in Kreml regieren?
Ich kann es nur schwer sagen, inwieweit so eine Entwicklung wahrscheinlich gewesen wäre. Ich bin aber sicher, dass Lukaschenko selbst daran stark glaubte und alles machte, um sie zu verwirklichen. Es genügt, sich daran zu erinnern, welch aktive Rolle Lukaschenko einst in der Innenpolitik Russlands spielte. Er informierte nicht nur Boris Jelzin und die Präsidialverwaltung, er bereiste diverse Regionen Russlands und traf lokale Amtsträger.
Im Vergleich zu dem alternden Boris Jelzin sah Lukaschenko, zumindest für einen Teil der russischen Wählerschaft, sehr attraktiv aus. Ein Teil der Gesellschaft glaubte, er könne auch für Ordnung in Russland sorgen, wenn er es in Belarus geschafft hatte. Trotzdem bezweifle ich, ob er tatsächlich in der Lage gewesen wäre, solch ein Riesengebiet zu führen.
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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.