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Drei Herausforderungen, die Angela Merkel nicht bewältigt hat

Yascha Mounk · 25 January 2022

Angela Merkel hat – obwohl sie die Menschenrechte und die wichtigsten demokratischen Werte zweifellos bewegen – in ihren vier Legislaturperioden als Kanzlerin eigentlich nicht viel getan, um sie zu verteidigen. Auch ihre Nachfolger werden in diesem Bereich höchstwahrscheinlich mehr reden als tun und obendrein werden sie manchmal in Versuchung geraten, faule Kompromisse mit Aurokraten zu schließen.

Vor einer nicht allzu zu langen Zeit, an den dunkelsten Tagen der Trump-Ära, schien Angela Merkel die wirklich letzte ernste Person auf der politischen Bühne zu sein. In einer Welt, in der die Vereinigten Staaten von einem Extremisten regiert wurden, Großbritannien immer tiefer in Chaos versank, Indien sich in Richtung Autokratie bewegte und Russland und China waren als Staaten immer repressiver, wurde eben die deutsche Kanzlerin fast einstimmig „Anführerin der freien Welt” genannt.

Als sie vor sechzehn Jahren das Amt der Kanzlerin übernommen hat, waren ihre Pendants im Ausland George W. Bush, Tony Blair, Jacques Chirac und Silvio Berlusconi. Jetzt geht sie in die Rente und die ganze Welt grübelt, wie es weiter geht – steht Deutschland vor Trumpisierung? Wird das Image eines Landes, das sich immer für den Schutz demokratischer Werte eingesetzt hat, in Vergessenheit geraten?

Diese Fragen stützen sich aber auf falsche Annahmen. Merkel war tatsächlich eine besonnene und humane Leaderin, sie war aber nie die letzte Hochburg des Anstandes in der Weltpolitik. Wenn sie ihren Posten räumt, wird Deutschland wahrscheinlich weiter von einem maßvollen Leader der Mitte regiert. Was noch betont werden soll, hat Merkel, obwohl sie zweifellos um die Menschenrechte und die wichtigsten demokratischen Werte tief besorgt war, in ihren vier Legislaturperioden als Kanzlerin eigentlich nicht viel getan, um diese Werte zu verteidigen. Und auch ihre Nachfolger werden in diesem Bereich höchstwahrscheinlich mehr reden als tun und zusätzlich werden sie manchmal in Versuchung geraten, faule Kompromisse mit Aurokraten zu schließen.

Merkels Abgang als Kanzlerin scheint nahezu den Lauf der Geschichte zu durchschneiden. Aber sowohl zum Guten als auch zum Schlechten wird sich ihr Land nach ihrem Abschied nicht viel ändern.

Dreifache Outsiderin

Um die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses einschätzen zu können, bedienen sich die Sozialforscher der statistischen Modellierung. Hätte jemand vor Jahren einschätzen wollen, welche Chance Merkel hatte, Bundeskanzlerin zu werden, würde die Antwort lauten: bestenfalls 1 zu 1 Million.

Als Frau, als Protestantin und dazu noch jemand aus der DDR, war Merkel in einer von Katholiken aus Westdeutschland dominierten Partei eine dreifache Outsiderin. Sie hatte weder Charisma noch oratorische Begabung – langen und geschwollenen Reden zog sie kurze und sachliche Statements vor. Selbst nachdem ihr geistiger Ziehvater Helmut Kohl sie zur Ministerin für Frauen und Familie ernannte, nannte er sie immer noch öffentlich „mein Mädchen”.

Der Status einer Outsiderin stellte sich aber überraschend als Merkels Trumpf heraus. Ende Neunziger Jahre – Anfang Nullerjahre brach in Deutschland ein Finanzskandal aus, in dem – wie es sich herausgestellt hat – führende CDU-Politiker verwickelt waren. Obwohl die meisten Christdemokraten damals schwere Zeiten erlebten, konnte die Öffentlichkeit anscheinend nicht glauben, dass das „kleine Mädchen“ Kohls irgendwas von den schmutzigen Geschäften der Jungs wissen konnte, die in der Partei an den Stricken zogen. Und eben dann – mit Entschlossenheit und kühlem Kopf, die ihr die Parteikollegen nicht zutrauten – nahm Merkel kategorisch Abstand von ihrem langjährigen Mentor und machte sich den Weg an die Parteispitze frei.

Nachdem sie die Wahl gewonnen und die Mehrheit erlangt hat, hat sie ziemlich schnell ihren eigenen, charakteristischen politischen Stil entwickelt. Ohne den großen Ehrgeiz, politische Agenda zu gestalten, hat sie taktisch alle großen Debatten ihrer Zeit „ausgesessen“, bis offensichtlich wurde, wie der Wind weht. Frei von Eitelkeit hat sie ihre Auftritte und die Teilnahme am öffentlichen Leben auf das Minimum reduziert. Merkel blieb so konsequent im Hintergrund, dass die Wähler:innen keine Gelegenheit hatten, von ihr müde zu werden, was mit ein Grund für die Dauer ihrer Karriere sein konnte.

Die Geschichte von Angela Merkel hilft uns, ihre politischen Stärken zu verstehen. Sie wuchs in einer Diktatur auf, konnte also glaubwürdig und mit tiefer Überzeugung über die Bedeutung der Freiheit und der Demokratie erzählen. Sie war „anders” und somit fähig, sich in die Lage der Ausgeschlossenen und an den Rand der Gesellschaft Gedrängten einzufühlen. Als Mensch der Mitte kam sie nicht in die Versuchung, mit der konservativen Wählerschaft ihrer Partei zu liebäugeln und ihnen zuliebe aggressive Äußerungen über Migranten oder Flüchtlinge zu machen.

Ein Teil dieser Geschichte hilft uns aber auch, ihre politischen Schwächen zu erläutern. Gemessen an ihrem Worten war Merkel eine bewundernswerte Leaderin. Gemessen an ihren tatsächlichen Maßnahmen – nicht immer. Unter Ihrer Regierung hat nämlich Deutschland drei größte Herausforderungen in den letzten zwei Jahrzehnten nicht gemeistert.

Foto: German Federal Government;

Drei Herausforderungen der Ära Merkel

Erste große Herausforderung kam nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008, als südeuropäische Staaten in eine gefährliche Schuldenspirale gerieten. Ein entschlossener Leader hätte ihnen ein großzügiges Rettungspaket angeboten oder, alternativ, sie aus der Eurozone verdrängt. Stattdessen robbte die Europäische Union unter Merkels Führung durch ein tief destruktives Jahrzehnt ihrer Geschichte. Selbstverständlich blieb das schlimmste Szenario der „Verdrängung“ aus der Eurozone aus, aber die sozialen Kosten dieses „Erfolges” waren viel höher als es angesichts der Lage erforderlich war. Zusätzlich können die bis heute ungelösten strukturellen Probleme dazu führen, dass sich der Tragödie bei der nächsten Wirtschaftskrise wiederholt.

Zweite große Herausforderung war mit der Machtergreifung durch autoritäre Populisten in Mitteleuropa verbunden. Als Viktor Orbán seine ersten Wahlen gewonnen hat, konnte die Europäische Union Ungarn mit schmerzhaften Sanktionen belegen und das Abrutschen in Richtung Diktatur stoppen. Merkel sprach sich damals gegen entschlossene Schritte aus, und ließ Orbáns Partei in der christlich-demokratischen Fraktion im Europäischen Parlament bleiben. Jetzt ist Ungarn kein freies Land mehr. Mehr noch, andere rechtsextreme Leader gehen den von Orbán vorgezeichneten Weg – im Endergebnis können Autokraten in der EU einander schützen. Solidarisch sprechen sie ihr Veto gegen sämtliche Sanktionen aus, die Brüssel gegen sie verhängen könnte. Die EU hat den Augenblick verpasst, an dem angehende Diktatoren hätten gestoppt werden können – im Endergebnis sind wir kein „Club der Demokratie” mehr.

Bei der dritten großen Herausforderung handelt es sich natürlich um den Krieg in Syrien, der dazu geführt hat, dass Millionen Menschen angefangen haben, Schutz in Europa zu suchen. Dank den warmen Worte an die Flüchtlinge und dank der (anfänglichen) Verweigerung der Grenzschließung hat Merkel Anhänger in der ganzen Welt gewonnen – sie war aber nie richtig eine radikale Verteidigerin des Rechts auf Asyl, wie sie von internationalen Medien dargestellt wurde. Ihre Entscheidung, die Grenzen offen zu lassen hatte genauso viel mit ihrer eigenen, übrigens charakteristischen Art zu zögern die Entwicklungen abzuwarten sowie mit den bürokratischen Funktionsschwächen des Landes wie mit ihrer tiefen Verbundenheit mit der Idee des Schutzes der Menschenrechte gemeinsam. Und obwohl sich Merkel die ganze Zeit geweigert hat, zu sagen, dass sie die Flüchtlingswelle stoppt, was zur steigenden Popularität der rechtsextremen Alternative für Deutschland beigetragen hat, hat sie alles Mögliche gemacht, um es doch zu tun. Über eine Serie von Verträgen, die sie in all den Jahren mit Autokraten wie Recep Tayyip Erdoğan abgeschlossen hat, hat Deutschland gewisses Outsourcing der schmutzigen Arbeit, hier: der Grenzsicherung vollbracht. Und obwohl Deutschland weiterhin Flüchtlinge aufnimmt, haben die meisten von ihnen nun ein Problem, ins Land zu kommen.

Offenes aber langweiliges Rennen

Um Merkels Platz kämpfen jetzt drei Kandidaten und obwohl die Wahl immer näher rückt, scheint der Ausgang immer noch offen.

Theoretisch gibt es unter ihnen große Unterschiede. Armin Laschet, ein sanftmütiger Katholik aus Nordrhein-Westfalen, ist der Spitzenkandidat der CDU – Merkels Partei. Olaf Scholz, eloquenter ehemaliger Hamburger Bürgermeister – Kandidat des historischen Rivalen, also der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Die letzte Kandidatin ist Annalena Baerbock, junge Juristin aus Hannover, an der Spitze der Grünen, die als Bewegung des zivilen Widerstandes der achtziger Jahre entstanden ist.

Obwohl ihr Alter, Biografien und politischer Hintergrund offensichtlich unterschiedlich sind, positionieren sich alle drei erfolgreich als Politiker der Fortsetzung. Alle drei vertreten liberale Weltanschauung – aber ohne Radikalismus. Alle drei glauben an einen starken Betreuungsstaat, versprechen aber eine verantwortliche Steuerpolitik. Und alle drei verteidigen das Projekt NATO und halten USA für einen engen Verbündeten – aber nicht eng genug, um in das deutsche Militär so stark zu investieren, damit es zum ernsten Akteur in der Welt wird. Bei den Debatten haben die Moderatoren verzweifelt nach Fragen gesucht, die strittig wären und eine Diskussion auslösen könnten. Hinzu kommt, dass alle drei, als man sie gebeten hat, ihre Gegenkandidaten zu kritisieren, es höflich abgelehnt haben.

Im Endergebnis beobachten wir einen sehr spezifischen und von Handlungswenden gespickten, aber paradoxerweise auch außerordentlich langweiligen Wahlkampf. Obwohl die Wähler keine Ahnung haben, wer der nächste Bundeskanzler wird und welche Koalition entstehen kann, scheinen sich die meisten einig zu sein, dass es eh ohne größere Bedeutung bleibt.

Momentan sieht es so aus, dass die Sozialdemokraten gewinnen können, deren Untergang in den letzten Jahrzehnten unzählige Male prophezeit wurde – sooft ihre Umfragewerte nach und nach sanken. Scholz, der Anhänger linker Mitte nach dem Vorbild von Bill Clinton ist, hat seit dem Start des Wahlkampfes fest angenommen, dass sich die Wähler:innen langsam von seiner Ruhe und Kompetenz überzeugen lassen. Da sowohl Laschet als auch Baerbock ihren Wahlkampf „von einem bis zum anderen Fettnäpfchen” führen, kann diese anfangs geschmähte Strategie von Scholz mit Wahlsieg enden.

Zu Beginn des Wahlkampfes ging aus den Umfragen hervor, dass die Sozialdemokraten weit hinten am dritten Platz – hinter den Günen und den Christdemokraten landen. Jetzt haben sie die Nase vorne.

Noch Anfang August gab PredictIt – ein Online-Vorhersagemarkt – Scholz 1:20 Chancen, dass er der nächste Kanzler wird. Jetzt ist er der Favorit.

Können diese Wahlen Deutschland ändern?

Die gute Nachricht ist, dass die kommenden Wahlen das Land nicht wesentlich verändern werden. Unabhängig davon, ob die nächste Kanzlerin Annalena Baerbock bzw. der nächste Kanzler Armin Laschet oder Olaf Scholz wird, bleibt Deutschland – mindestens in der nächsten Zukunft – ein offenes und demokratisches Land. Die vorgenannten Personen haben nämlich weder den Hang noch die Lust, autoritäre Populisten nachzuahmen, die in den letzten Jahren in vielen Ländern dominierten. Zusätzlich ist die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD), die vor vier Jahren ihr Rekordhoch in den Wahlen erreicht hat, wird dieses Mal wahrscheinlich Stimmen verlieren.

Aber die schlechte Nachricht lautet genau gleich: diese Wahlen werden Deutschland nicht wesentlich verändern. In den letzten sechzehn Jahren war Deutschland keine so starke Hochburg der Demokratie und der Menschenrechte, für die es von den meisten internationalen Kommentatoren gehalten wurde. In der Ära Merkel wurden die Wirtschaftsbeziehungen zu China enger, der Bau einer Pipeline, auf die es Kreml ankommt, wurde forciert, die Position der in Polen und in Ungarn aufsteigenden Autokraten wurde gestärkt und es wurde eine Reihe von unmoralischen Verträgen mit Diktatoren, u. a. mit der Türkei geschlossen. Die gleiche Heuchelei wird wahrscheinlich weiterhin den festen Bestandteil der deutschen Außenpolitik darstellen – auch nach Merkels Abschied.

Wer viel Wert auf die Demokratie und Menschenrechte legt, hat keinen Grund zur Sorge. Er sollte aber auch keine allzu großen Hoffnungen auf die deutschen Leader setzen – weder die ehemaligen, noch die gegenwärtigen, noch die zukünftigen.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

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Die Grünen weden über die Zukunft der deutschen Regierung entscheiden

Ein Gespräch mit Piotr Buras. Von Tomasz Sawczuk · 25 January 2022

Merkel war über ein Jahrzehnt lang die dominierende Persönlichkeit der politischen Szene in Deutschland. Nun stellt sich die Frage, wer denn ihre Kragenweite hat.

Tomasz Sawczuk: In Deutschland dauert der Wahlkampf, am 26. September findet die Bundestagswahl statt. Worüber wird gestritten? 

Piotr Buras: Von Anfang an hatte der Wahlkampf eigentlich kein Leitmotiv. Er drehte sich um die Frage nach der Person des zukünftigen Kanzlers. Die Frage lautete, wer der bessere Nachfolger oder die bessere Nachfolgerin Merkels wäre. Mit der Zeit traten einige Kandidaten ins Fettnäpfchen und vor diesem Hintergrund hat Olaf Scholz von der SPD (Sozialdemokraten), der jetzige Finanzminister, gepunktet, nun führt er in den Umfragen. Vor einem eher dürftigen Hintergrund ist er der Verlässliche und Glaubwürdige.

Warum ist die Frage der Persönlichkeit des Kanzlers im Wahlkampf so wichtig? Sind die Unterschiede zwischen den Parteien so gering oder ist es die Ausstrahlungskraft der Angela Merkel? 

Selbstverständlich war Merkel über ein Jahrzehnt lang die dominierende Persönlichkeit der politischen Szene in Deutschland, es stellt sich also nun die Frage, wer ihre Kragenweite hat. Zweitens hatte Merkel aber ihre eigene Wählerschaft, also Wähler:innen, die eher Merkel selbst als CDU (Christdemokraten) als Partei gewählt haben – sie haben also CDU wegen Merkel gewählt. Höchstwahrscheinlich werden eben sie jetzt die Wahl entscheiden.

Deswegen wollen also die Kanzlerkandidaten wie Merkel sein? 

So ist es. Für die CDU ist es eine dramatische Nachricht, aber laut Umfragen gibt es relativ wenig Wahlberechtigte, die eine feste Bindung zur Partei selbst und nicht zur Frau Kanzlerin empfinden. Ohne Merkel fallen die Umfragewerte der CDU sogar unter 20 Prozent.

Dann beginnen wir mit der CDU/CSU (Christdemokraten). Ihr Kanzlerkandidat ist Armin Laschet. 

Laschet ist CDU-Chef. Ein Kanzlerkandidat konnte auch Markus Söder, Chef der bayrischen Schwesterpartei CSU, sein. Aber für die große CDU wäre es fatal, deswegen war Laschet dran. Das Problem besteht darin, dass Laschet ein Kandidat der Parteieliten ist und sich sonst keiner großen Beliebtheit erfreut. Die Basis hat sich eher für den bayerischen Ministerpräsidenten Söder ausgesprochen, der weit größere Popularität genießt. Daher werden die Christdemokraten von einem weniger versprechenden Kandidaten angeführt.

Laschet schneidet in den Umfragen schlechter als die CDU ab – die Deutschen wollen ihn anscheinend nicht wirklich als Kanzler. Welche Ideen vertritt er?

In aller Kürze – es soll einfach so bleiben, wie es war. Er steht für die Fortführung der Politik Merkels, aber ohne Merkel. So hat er es vermarktet und so ist die Resonanz in der Bevölkerung. In der Praxis ist das ein enormes Problem, denn es ist im Grunde unmöglich. Weder ist die Zeit geeignet, Merkels Politik fortzusetzen, noch hat er die Position von Merkel.

Dann haben wir die Grünen, die sagen, man solle die Politik der kleinen Schritte von Merkel verwerfen und Deutschland brauche eine richtige Wende. Sie können momentan mit knapp 20 Prozent Stimmen rechnen. Annalena Baerbock ist die jüngste Führungskraft in der deutschen Politik, in die Politik kam sie erst vor drei Jahren. 

Die Grünen sind am meisten berechtigt, über eine Wende zu sprechen, denn in den letzten Dutzend Jahren waren sie in Opposition. In Deutschland regierte dann die meiste Zeit die große Koalition CDU / SPD, einige Jahre waren auch die Liberalen von der FDP an der Macht. Die Grünen galten obendrein als eine innerlich zerstrittene Partei – Teilungen, Fraktionen, Flügel… Währenddessen macht die neue Parteiführung, also eben Baerbock und der Co-Vorsitzende Habeck einen sehr ernsten Eindruck. Das sieht wie ein eingespieltes Team aus. Das hat ihnen bestimmt sehr geholfen.

Hinzu kommt, dass in der Politik das Thema der grünen Wende absolut führend geworden ist – und das ist ein Thema, bei dem die Grünen am meisten glaubwürdig sind. So ist es auch auf der Ebene der Expertenanalyse. In letzter Zeit erschien ein sehr interessanter Bericht, in dem Programme politischer Parteien darauf geprüft werden, inwieweit sie es möglich machen, Ziele der deutschen Klimapolitik zu erreichen, also klimaneutral im Jahre 2045 zu werden. Die Grünen schneiden hier mit Abstand am besten aus. Das haben sie bis zu einem gewissen Punkt ausgezeichnet ausgespielt, denn momentan läuft ihr Wahlkampf eher nicht wirklich…

Bis zu einem gewissen Zeitpunkt führten sie in den Umfragen. Nun sind sie aber auf den dritten Platz, hinter SPD und CDU, zurückgefallen.

Der Wahlkampf ging in die Brüche aus eigentlich unbedeutsamen Gründen – bei Baerbock wurden irgendwelche Unstimmigkeiten in ihrem offiziellen Lebenslauf festgestellt, es kamen Plagiatvorwürfe, da sie in ihrem Buch Passagen ohne entsprechende Quellenverweise zitiert hat. Also ehrlich, es war nicht wirklich so sehr belastend. Die Grünen kamen aber mit der Kritik nicht zurecht. Momentan werden sie von ca. 16–17 Prozent der Deutschen unterstützt.

Früher konnte man sagen, die Grünen sind eine Partei der neuen Linke. Heute sind sie aber eher in der Mitte angekommen und können eine Koalition sowohl mit der SPD als auch mit der CDU bilden.

Die Grünen sind heute in sehr günstiger Lage. Sie sind wirklich zu einer Partei der Mitte geworden, selbstverständlich einer linksliberalen, bürgerlichen Partei, die vor allem besser ausgebildete, wohlhabende Menschen, die Mittelklasse vertritt. Es ist in Deutschland eine große Gruppe, sie haben also großes Potential und vor allem haben sie ein enormes Koalitionspotential – sie können mit allen außer AfD koalieren. Im Prinzip kann man sich heute eine deutsche Regierung ohne die Grünen nicht vorstellen.

Und wie kommen die Liberalen von der FDP über die Runden? Das ist die zweite kleinere Partei, die in die neue Regierung nach den Wahlen kommen kann. 

Die Liberalen haben sicher eine Chance, mitzuregieren. Nach den Wahlen werden eben die Grünen und die FDP entscheiden – von ihrer Strategie wird die Zukunft der deutschen Regierung abhängen.

Die Liberalen würden gerne mit der CDU, und die Grünen mit der SPD koalieren.

FDP plädiert sehr stark für die freie Marktwirtschaft. Momentan wird darüber sehr viel gesprochen, aber selbst wenn die CDU die Wahlen gegen die SPD verlieren und den zweiten Platz belegen würde, werden die Liberalen versuchen, eine Koalition mit der CDU und den Grünen zu bilden.

Am Anfang haben wir nach den wichtigsten Themen im Wahlkampf geschaut. Ein sehr wichtiges Thema, das die politische Szene teilt, sind Steuern und Investitionen. Soll man nämlich die Steuern erhöhen oder senken? Sollen öffentliche Investitionen auf Kosten der höheren Verschuldung getätigt werden? Hier sieht man die Spaltung sehr genau. CDU und FDP möchten die Steuern senken und die Schuldenbremse im Grundgesetz aufrechterhalten. SPD und Grüne meinen wiederum, aus heutiger Sicht ist das völlig sinnlos, denn Deutschland braucht enorm viel Geld für die Energiewende.

Man kann also entweder Steuern erhöhen, oder Schulden machen?

Ja, während FDP und CDU die Steuern erheblich senken möchten.

Foto: Maheshkumar Painam, die Quelle: Unsplash;

Bevor wir zur SPD übergehen, möchte ich noch einmal auf den Rand der deutschen politischen Szene schauen. Welche Rolle spielen momentan die rechtsextreme AfD und die postkommunistische Die Linke?

AfD ist schon ein fester Bestandteil der deutschen Szene. Ihre Umfragewerte bewegen sich im Bereich von 10–12 Prozent. Sie ist wirklich eine Partei der Extreme – sie kann auf Stimmen von Personen rechnen, die stark establishmentkritisch, rechtsextrem, nationalistisch und vor allem systemkritisch sind. Deswegen ist sie nicht in der Lage, ihr Potential auszubauen. Andererseits sind ihre Wähler:innen für die Mainstream-Parteien praktisch nicht zuurückzuholen.

Und niemand will mit der AfD koalieren.

Diese Partei wird isoliert. Die Linke regiert hingegen in drei Bundesländern – Thüringen, Bremen und Sachsen-Anhalt – mit.

Gemeinsam mit der SPD?

Mit der SPD und den Grünen. Es ist eine Partei mit extrem linkem Sozial- und Wirtschaftsprogramm. Sie betont vor allem die Bedeutung der Umverteilung und möchte die Topverdiener steuerlich sehr stark belasten. Aber im Hinblick auf ihre Regierungsfähigkeit stellen die Außenpolitik und die Sicherheitsfragen ein größeres Problem dar. Die Linke ist gegen die NATO-Mitgliedschaft, sie hat sich in der Abstimmung über Bundeswehreinsatz während der Evakuierung aus Afghanistan der Stimme enthalten, was in Deutschland als Skandal gewertet wurde, denn es ging um Menschenleben. Sie ist auch sehr kritisch gegenüber der UE als einer neoliberalen Kraft sowie sehr stark antiamerikanisch und prorussisch. Sie gilt also als ein sehr schwieriger, nicht zuverlässiger Koalitionspartner – das sagen übrigens offen die SPD und die Grünen, also diejenigen Parteien, mit denen Die Linke theoretisch nach den Wahlen koalieren könnte. Damit will eben die CDU in ihrem Wahlkampf Angst machen.

Die Grünen sind wiederum antirussisch und möchten sich mit den Amerikanern für den Wettbewerb gegen China engagieren. 

Außenpolitisch sind die Grünen sicherlich am interessantesten aufgestellt und streben hier die größte Korrekturen an. Sie sind tatsächlich besonders kritisch gegenüber Russland. Sie sind vielleicht nicht besonders proamerikanisch – sie sind auch gegen die Beteiligung Deutschlands am Raketenabwehrsystem der NATO – unterstützen aber in bestimmten Punkten die Agenda von Joe Biden, etwa in Sachen Demokratie, Menschenrechte und Klimaschutz.

SPD führt in den Umfragen und 50 Prozent der Deutschen meinen, deren Spitzenkandidat Olaf Scholz wäre der beste Kanzler. 

Scholz ist vor allem stark, weil die Konkurrenten schwach sind. Als Politiker hat er wenig Charisma, was gerade in Deutschland sein Vorteil sein kann. Als seine Stärke hat sich der Aspekt erwiesen, den man anfangs für seine Schwäche gehalten hat – er gehört zu dem rechten Spektrum der SPD. Sein Wirtschaftsprogramm ist viel näher an der Mitte, als es bei der Parteiführung der Fall ist – Scholz ist nicht der Parteichef und eben deswegen ist er es nicht geworden. Die Partei hat einfach als Kanzlerkandidaten einen Politiker nominiert, der populär war und als aktueller Finanzminister politisch mehr Ernst ausstrahlte.

Man konnte vermuten, dass es im Wahlkampf Probleme geben wird und die Partei seine Position in Frage stellen wird, da er das Partei-Mainstream nicht vertritt. Aber die SPD unterstützt ihn eindeutig, denn sie sieht keine andere Option und der moderate Scholz gefällt den Wähler:innen Merkels.

Auf den Wahlplakaten präsentierte er sich sogar als „Kanzlerin”. 

Man muss aber auch sagen, dass die SPD in den Umfragen keinen Höhenflug absolviert. Sie können auf ca. 25 Prozent der Stimmen hoffen – noch vor wenigen Jahren wäre es eine Katastrophe. Noch vor zehn Jahren landeten sie in den Umfragen bei etwa 40 Prozent.

Wie würde sich die Politik Deutschlands ändern, wenn die SPD die Wahlen gewinnt und eine Regierung bildet?

Die wichtigsten Themen sind dann die Staatsausgaben und das Steuersystem. Das wird dann ein Versuch neuer Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik sein. Bis jetzt hielt Deutschland streng am Sparkurs, selbst auf Kosten von absolut notwendigen Investitionen in die Infrastruktur, Digitalisierung und Energiewende. Dieses Modell der Wirtschaftspolitik entspricht den Herausforderungen nicht. Linksorientierte Parteien sagen es offen. Fragt sich, ob sie es wagen, tatsächlich eine Kurskorrektur vorzunehmen. Das wäre eine einschneidende Zäsur.

Und in der Europäischen Union? 

Wohl möglich, dass es eine ähnliche Bedeutung hätte. Als Politiker ist Scholz kein Revolutionär. Man kann nur schwer erwarten, dass es zu fundamentalen Änderungen in der deutschen Außen- oder Europapolitik kommen würde – hier herrscht in Deutschland eher ein breiter Konsens. Aber eine Zustimmung für höhere Ausgaben könnte auch Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik der EU haben, insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussionen über Lockerungen der Schuldenbremse im EU-Fiskalpakt. Sozialdemokraten und Grüne wären dafür, dass z.B. Aufwendungen für grüne Investitionen nicht mitgerechnet werden. Sollte es dazu kommen, würde es eine wesentliche Änderung des deutschen Standpunktes bedeuten und es wäre ein schlüsselwichtiger Schritt aus der Sicht der gesamten Union. Diese Frage gilt aber in Deutschland als besonders heikel und da hat selbst Scholz aufgehört, darüber laut zu sprechen…

Welche Koalition wäre für die deutsch-polnischen Beziehungen am besten?

Das hat, ehrlich gesagt, keine größere Bedeutung. Es hängt eher davon ab, was in Polen passieren wird, und nicht davon, welche Koalition in Deutschland entsteht. Bestimmt würde eine linke Koalition mit der SPD und Der Linken Diskussion über die Sicherheitspolitik Deutschlands, über die deutsche Teilnahme am atomaren Abschreckungssystem der NATO oder über künftige militärische Einsätze eröffnen. Es würde auch einen sanfteren Kurs gegenüber Russland bedeuten – das wäre für Polen auch nicht gut. Aus Sicht der Sicherheitspolitik wäre wohl eine schwarz-grüne Koalition am besten. Die scheint aber wenig wahrscheinlich.

Welche Koalition scheint denn am wahrscheinlichsten?

Wenn wir uns die Umfragen anschauen, dann hätte rot-grün-gelb die meisten Aussichten.

Werden es die Liberalen hinnehmen? Sie möchten doch lieber mit der CDU koalieren.

Sie werden wohl dafür plädieren, da haben sie aber schlechtere Karten. Und sie können auf die Regierungsbeteiligung nicht verzichten, wenn so eine Möglichkeit kommt. Man kann sich doch schwer die Situation vorstellen, in der eine Koalition SPD–Grüne–Die Linke nur deshalb entsteht, weil die FDP nicht mitregieren wollte. Ein solches Szenario ist einfach schlechter für die FDP. Hinzu kommt, dass die Grünen eine Koalition mit der SPD bevorzugen, weil sie in einer CDU-Regierung bei den Themen weniger zu sagen hätten, die ihnen am wichtigsten sind.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

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Angela Merkel und die Liebe zum Geschäft

Karolina Wigura · 25 January 2022

Wenn in Kürze ein Kanzler den Platz der Kanzlerin nimmt, ändern sich die Emotionen in der deutschen Öffentlichkeit. Für Outsider kann es eine beunruhigende Perspektive werden.

Sozialwissenschaftler seines Zeichens, wohnhaft in Berlin: Georg Simmel schrieb am Anfang des 20 Jahrhunderts ein Essay unter dem Titel „Der Fremde”. Er interessierte sich schon immer für die in sozialen Rollen eingeschlossenen Widersprüche. Und eben die Figur dieses Fremden fokussiert besonders viele Widersprüche. Ein Fremder verbindet, so Simmel, Nähe und Distanz, Gleichgültigkeit und Engagement. Das gibt ihm die Scharfsinnigkeit bei der Beobachtung und die Objektivität.

Selbstverständlich schrieb Simmel gewissermaßen über sich selbst. Er verwies darauf, dass ein klassisches Beispiel für einen Fremden, ein assimilierter Jude ist, und er war selbst ein solcher. Doch sein Essay ist auch heute interessant, da es zeigt, wie man über den persönlichen Rahmen des Autors hinausgehen kann. Simmel bemerkte, dass im Lebenslauf vieler Personen eine besondere Erfahrung vorkommt, die einen befähigt, mehr zu sehen – mindestens eine Zeit lang nach dem Umzug in ein anderes Land, bevor die Reize am neuen Ort alltäglich werden.

Eben aus dieser Position möchte ich nachstehend einige Bemerkungen zur deutschen Politik vor der Bundestagswahl festhalten. Deutschland ist mir seit fast fünfzehn Jahren nah, aufgrund des häufigen Kontakts zur Kultur, auch zur politischen Kultur, sowie durch mein episodisches Wohnen in Deutschland. Gerade jetzt wohne ich in Berlin und es ist eine höchst interessante Zeit hier, die letzten Vorbereitungen vor der Bundestagswahl. Ich bin also eine Art Fremde im simmelschen Sinne und möchte darüber berichten, was ich aus dieser Perspektive sehe.

Was bedeutet das Ende der Ära Merkel?

Nach sechzehn Jahren scheidet Angela Merkel als Kanzler aus (oder eher Kanzlerin, wie man es  hierzulande zu sagen pflegt). Im Rennen um den Regierungssessel im großen, mit dem Kokoschka-Gemälde von Konrad Adenauer verzierten Arbeitszimmer, sind mehrere Politiker. Überwiegend machen sie den Eindruck, sie wären als Kandidaten mittelmäßig und was noch schlimmer ist – wenig ernst, insbesondere im Vergleich zu Frau Merkel. Unabhängig davon bringt diese Zeit eine Anregung zur tieferen Reflexion, mit der die sog. „Ära Merkel” resümiert werden kann und uns vielleicht auch in die Zukunft der Bundesrepublik (und dadurch auch die der Europa und die unseren Landes) schauen lässt.

Für Emotionen in der Politik interessiere ich mich beruflich und ich kam nach Berlin, um sie zu untersuchen. Man könnte sagen, einen schlechteren Ort für die Untersuchung von Emotionen als das deutsche öffentliche Leben gibt es kaum. Diese Überzeugung ist hier übrigens allgegenwärtig: deutsche Politik ist mit Höflichkeiten wie mit einem Airbag gefüllt. Sie ist strategisch, vernünftig und frei von Polarisierung, von der viele Länder, darunter Polen, geplagt sind. Wie es kürzlich die Journalisten „Des Spiegels” formuliert haben, schwebt diese Politik irgendwo zwischen Zuverlässigkeit und Langeweile.

Diese Überzeugung wird zusätzlich durch das Verhalten der Kanzlerin selbst bestätigt. Merkel gilt als eine vollkommen rationelle Politikerin. Der Kern ihres politischen Stils besteht in der Suche nach gemeinsamen Interessen und nach Pragmatismus. Bloß keine Leidenschaften.

Dass Merkel pragmatisch ist und dass die deutsche Politik ein wenig langweilig ist, hat schon seine Richtigkeit. Man kann allerdings nicht behaupten, dass die deutsche Politik emotionslos ist. Sie stützt einfach auf deren bestimmten Bandbreite, die Merkel in den letzten dutzend Jahren gewaltig mitgeprägt hat. Momentan ist von „nahtloser Machtübergabe” und einer „Kontinuität der Verwaltung” die Rede. Das ist klar. Aber das Ende der Regierung Merkel wird unausweichlich eine emotionale Neustrukturierung der deutschen Politik bedeuten. Ein Ende der Ära ist ein Wandel im Herzen.

Dominierende Emotion

Um es richtig erklären zu können, worauf die Emotionalität in der deutschen Politik der Ära Merkel beruht, muss man auf die vereinfachten Feststellungen verzichten, die übrigens selbst die Kenner dieser Politik verbreiten.

Erstens: es herrscht die Meinung, dass die deutsche Nachkriegspolitik grundsätzlich dank dem Verzicht auf Emotionen möglich war. Es konnte nicht anders sein, nachdem die Emotionen von den Nazis zynisch ausgespielt wurden. Deswegen wirkten Konzepte wie das von Habermas überzeugend: durch eine Verfassung garantierte demokratische Kommunikation; verfassungsortientier Patriotismus. Anderenfalls droht die Rückkehr zur ungewollten Vergangenheit. Oder in einer milderen Version – zum polnischen Chaos nach 2015.

Zweitens: Frau Merkel ist eine rationale Person, die dem deutschen Argwohn gegen Emotionen im öffentlichen Leben das logische (und gefühlsmäßige) Ende bereitet hat. Während andere Kanzler, Gerhard Schröder etwa, schon mal mit Tränen in den Augen fotografiert wurden, hat sich Merkel fast nie ergriffen gezeigt. Selbstverständlich wird auf Ausnahmen hingewiesen. Ihre Ergriffenheit, als sie 2018 auf den CDU-Parteivorsitz verzichtet hat. Ihre Entscheidung über die Aufnahme der Flüchtlinge 2015 und die damalige Weihnachtsansprache voller Dank an die deutsche Gesellschaft für die Solidarität. Anfänge der Corona-Krise und ihre berühmten Worte: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst”. Diese Beispiele scheinen allerdings Ausnahmen von der Regel zu sein. Sie reichen nicht aus, um von „Emotionalität” zu reden.

Um davon zu erzählen, greife ich tiefer, zu zwei Gedanken der politischen Philosophie, in denen sich Ära Merkel wie im Spiegel betrachtet. Der erste Gedanke ist das Konzept der Apathie, apatheia, etwa im Sinne des neuzeitigen Stoikers Baruch de Spinoza. Der zweite Gedanke ist die Doktrin der dominierenden Emotion in der jeweiligen Staatsordnung, wie sie Tomas Hobbes oder Montesquieu beschriebenen haben. Würde Merkel selbst solchem Gedanken gutheißen? Das ist nicht sicher. Wenn sie in diesem Sinne gefragt wird, gibt sie häufig zu verstehen, man möchte sie nicht belästigten. Notabene, sie selbst zitiert Spinoza gern, obgleich dies eher den Eindruck macht, als ob sie aus einer Zitatensammlung im Internet schöpfen würde. Aber sei es drum. Mir geht es darum, einen zusätzlichen Auslegungsschlüssel darzustellen, die Auslegung der Ära Merkel zu bereichern.

Kein Verstand ohne Emotionen

In der Vergangenheit meinten große Philosophen, Emotionen gestalten die Politik nicht, sondern sie eilen ihr voraus. Sie seien wie die erste Schicht der Wirklichkeit. Heute würden wir sagen: sie sind nicht ganz bewusst, bilden aber doch Grundlagen von allem. Alles stützt sich darauf und alles hängt davon ab. Auch der Verstand. Wenn also Merkel eine rationelle Politikerin ist, muss diese Haltung eine emotionale Grundlage haben.

Welche? Hobbes meinte, der Verstand brauche die Emotionen, um richtig zu funktionieren, aber nicht jede Emotion ist hierzu geeignet. Nur gut gewählte Emotionen veredeln den Verstand, der sonst Fehler macht, in Übermut, übertriebene Eigenliebe, Eifersucht und Ähnliches verfällt. Seines Erachtens gibt es zwei Emotionen, deren Dominanz die Bildung einer stabilen politischen Gemeinschaft möglich macht. Es sind Angst und Hoffnung. Die Angst bezieht sich auf eine dramatische Vergangenheit, zu der man nicht zurück will (bei Hobbes war es der Englische Bürgerkrieg). Die Hoffnung bezieht sich auf ein – in materieller Hinsicht – besseres Leben in der Zukunft. Nur wenn sie dominieren, kann der Verstand Gesetze schreiben. Zur Wahl kann mehr stehen als nur Angst und Hoffnung – Philosophen wie Montesquieu, Tocqueville, Smith haben eigene Tipps.

Liebe zum Geschäft

Was ist also die dominierende Emotion, die der Politik von Angela Merkel zugrunde liegt? Kann man wirklich eine grundsätzliche Emotion einer Politikerin zuordnen, die auf eine Frage, was ihr Wunsch für Deutschland wäre oder worauf sie stolz ist, ziemlich banale Sachen nennt? Laut einer Anekdote über die junge Merkel aus der Zeit der Jahreswende 1989/1990 sei sie in den Veranstaltungen der neuen politischen Gruppierungen in der ehemaligen DDR still und im Plenum nicht aktiv gewesen und als sie endlich ein paar Sätze in einem Nebengespräch gesagt habe, habe sie festgesellt, in der DDR habe sie am meisten die Tatsache gestört, dass man keinen normalen Joghurt kaufen konnte. Als man sie irgendwann fragte, worauf sie in der heutigen Bundesrepublik stolz ist, sagte sie, sie wäre darauf stolz, dass die Deutschen dichte Fenster haben.

In diesem Zusammenhang können wir Montesquieu, einen Philosophen aus dem achtzehnten Jahrhundert, nennen, der viel Wert auf Emotionen legte und auch das Konzept einer Handelsrepublik entwickelte. Eine Handelsrepublik ist nämlich eine besondere Staatsordnung, in der die Menschen von unterschiedlichen Emotionen getrieben werden, aber eine Emotion ist ihnen gemeinsam: die Liebe zum Geschäft. Montesquieu meint, das Glück sei der Zustand, in dem die Leidenschaften zwar die Menschen zu bösen Taten verleiten würden, aber die Menschen haben ein Interesse daran, diese Taten nicht zu begehen. Wenn man Merkels Aussagen über Fenster und Joghurt ernst nimmt, ist Deutschland womöglich eine Art Handelsrepublik nach Montesquieu. Die Leidenschaft, Interessen zu machen – ob es sich um den eigenen hohen Lebensstandard, um die gute Schulbildung für die Kinder, um die Karriere oder um die Entwicklung von neuen Technologien handelt– all das macht eine Gesellschaft aus, die das Geschäft liebt und deswegen nicht durch tiefe Polarisierung geplagt wird sowie – auch wenn ein wenig langweilig – vermögend ist.

Foto: German Federal Government;

Apathische Energie

Hervorragende Politiker, die an der Macht nicht dank Gewalt und Betrug, sondern dank mehrfachem Sieg in allgemeinen Wahlen bleiben, müssen die Gabe haben, Emotionen der Gemeinschaft zu heben und mitzugestalten. Auf rätselhafte Art und Weise sind sie in der Lage, eigene Gefühlslage mit der zu verbinden, die in der jeweiligen Gesellschaft stark ist. Es muss nicht unbedingt eine einzige Emotion sein, sie muss aber stark genug sein, so dass man darauf bauen kann.

Das ist dieses berühmte „soziale Ohr” – einst in Polen Donald Tusk zugeschrieben, dessen „Politik der Liebe” dem Bedürfnis nach Ruhe und der Möglichkeit entsprach, sich um eigene Dinge kümmern zu können. Heute wird behauptet, ein solches soziale Ohr habe Jarosław Kaczyński, der wiederum nach 2015 es geschafft hat, eine Beziehung zwischen eigener Trauer und eigenem Verlustgefühl einerseits und Frustrationen sowie Orientierungslosigkeit der Wählerschaft andererseits aufzubauen.

Es gibt solche Gesellschaften, in denen politische Anführer auf dem Boden der „thymotischen Energien“ gedeihen, wie es einmal ein deutscher Philosoph, Peter Sloterdijk, nach thymos, also griechisch für „Zorn“, benannt hat. Thymos kann die Grundlage für eine breite Palette von Emotionen bieten. Mir persönlich gefallen einige von ihnen besser. So sehe ich die USA unter Joe Biden, der um sich herum die Aura des „gerechtfertigten Zorns” kreiert, des moralischen Zorns in der richtigen Sache, etwa im Kampf um offene Gesellschaft und neulich im Kampf um die Corona-Impfquote. Eine andere Möglichkeit besteht darin, Emotionen als Resentiment-Zorn, als Frustration, als Empörung auszudrücken. Die Art der thymotischen Energien nutzen Populisten aller Art, von Kaczyński, über Orbán, bis hin zu Bolsonaro.

Doch Angela Merkel bezieht sich nicht auf  thymos. Alte Stoiker, ähnlich wie Spinoza, nannten als Gegensatz zum Zorn die Apathie. Entgegen der verbreiteten Meinung gemeint ist hier nicht die Aufforderung, überhaupt auf Emotionen zu verzichten. Apatheia ist ein emotionaler, durch Wissen und Verstand gestalteter Zustand. Zu verstehen, wie die Welt tickt, wie ihre Physik funktioniert, heißt Weisheit zu erlangen. Nur sie erlaubt es, in sich ein neues Spektrum der Emotionen zu entwickeln: apathische Energie. Eben eine solche Energie der abgestumpften Emotionen, durch Interesse, Erfahrung und Wissen geordneten Leidenschaften sehe ich in Merkels Politik. Nicht unbedeutend kann auch die Tatsache sein, dass die Kanzlerin selbst Physik studiert hat, bevor sie sich der Politik gewidmet hat.

So würde ich mit eben die Fähigkeit Merkels erklären, mit einem blauen Auge bei zahlreichen Situationen der drohenden Demütigung davonzukommen. So ist z. B. Wladimir Putin dafür bekannt, Merkel aus dem Gleichgewicht bringen zu wollen. Von Mitführen von großen Hunden, von denen Merkel angeblich Angst hat, bis hin zur notorischen Verspätungen, versucht Putin immer wieder zu zeigen, er stünde höher in der Hierarchie. Doch für eine Demütigung sind zwei Personen erforderlich. Wenn die eine Person Ruhe bewahrt, hat die zweite ihr Ziel nicht erreicht. Parteigenossen Merkels haben sie wiederum von herben Bemerkungen nicht verschont, dass beispielsweise nur eine Frau den politischen Pflichten so schlecht nachkommen kann. Um aber jemand bloß zu stellen, braucht man wieder einmal zwei Personen.

Zukunft: Deutschland und Polen

Was denke ich, wenn ich mir die deutsche Politik aus dem Blickwinkel einer Outsiderin anschaue? Grundsätzlich zwei Dinge. Erstes Ding ist der Vergleich der Emotionalität in der polnischen und in der deutschen Politik.

Modernes Deutschland fällt mit seiner apathischen Energie und mit seiner heißen Leidenschaft zu den – individuellen und gemeinsamen – Interessen auf. Auffallend sind ebenfalls die ausbleibende Polarisierung, die Einheit, die Stabilität, auf die jetzt viele Nationen neidisch sind. Parteien, die diesen grundsätzlichen Konsens verworfen haben, wie etwa die Alternative für Deutschland (AfD), forderten diese emotionale Struktur heraus. Nach und nach bröckelten aber ihre Umfragen, insbesondere unter dem Einfluss der Pandemie, als die im deutschen Mainstream vorhandene Vernunft für die Wähler:innen überzeugender als die zentrifugalen Tendenzen war.

In Polen ist es sicherlich nicht langweilig. In unserer Polarisierung sind wir voll von thymotischer Energie, die unter dem Einfluss einer populistischen Regierung zusätzlich in Richtung einer auf Ressentiments basierenden Frustration hochgepeitscht wird. Das gibt nicht nur eine Vorstellung davon, wie unterschiedlich unsere politischen Kulturen sind, es bewegt aber auch, danach zu fragen, welches emotionale Gefüge für unser Land besser wäre und welches denn überhaupt möglich wäre. Eher konsensorientiert und apathisch, oder aber nach Bidens Vorbild eher thymotisch, aber doch moralisch?

Ich bin keine Anhängerin des Determinismus, wenn es darum geht, politische Fundamente eines Landes zu benennen. Zum Teil gibt es etwas, was man den nationalen Charakter oder einfach die Kultur der kollektiven Kommunikation, eine Sammlung von charakteristischen, aus der Geschichte her entstandenen kollektiven Gewohnheiten nennen kann. Die Politik bedeutet aber etwas mehr. Ein Politiker hört nicht nur zu, er gestaltet auch mit. Als Beispiel: im Jahre 2015 waren der Zorn und die Enttäuschung von der demokratischen Wende nach 1989 vielleicht die stärksten Gefühle in unserem Land. Das bedeutet aber noch gar nicht, dass wir den Punkt erreichen mussten, an dem wir uns jetzt befinden: am konsequenten Entfachen und Festigen der Abneigung gegen das Anderssein, am neurotischen Verlangen nach dem Schutz des Eigenen, am wahnsinnsartigen Souveränitätsgedanken. Dass dieser Zorn so eingespannt wurde, ist ein Werk der Regierenden. Man kann sich ganz andere, für unsere Gemeinschaft viel positivere Szenarien vorstellen.

Die Emotion vergeht

Aus dieser Sicht ist die in Bezug auf die heutige Bundesrepublik am meisten brennende Frage die Frage der Stabilität. Wie stabil ist diese emotionale Struktur? Emotionen, auch die kollektiven Emotionen, sind nicht von alleine stabil. Sie währen so lange, wie lange sie sorgfältig gepflegt und gestaltet werden. Eine Emotion, die heute dominiert, kann morgen in tausend anderen Emotionen aufgehen.

Für die Outsider kann diese Perspektive beunruhigend sein. Die Beobachter erfuhren mit Erschrecken von den der Selbstjustiz ähnelnden Vollstreckungen an kommunalen Politikern, wie es bei dem mit Kopfschuss umgebrachten Bürgermeister Walter Lübcke der Fall war, oder von den Angriffen gegen Synagogen. Ja, solche Dinge passieren auch hier. Mehr noch, einer Studie aus dem Jahre 2019 zufolge sagen 60 Prozent der Deutschen aus Angst vor Ostrazismus nicht laut, was sie tatsächlich denken. Die Liebe zum Geschäft kann in Deutschland dominieren, aber die dominierende Stellung der jeweiligen Emotion bedeutet nicht das Monopol. Fortwährend kommen Versuche, den Konsens anzufechten.

Angela Merkel hat einen grundsätzlichen Fehler, ähnlich wie früher Donald Tusk, gemacht. Sie hat nämlich auf die eine oder andere Art und Weise in ihrem Umfeld – und einige meinen, insgesamt in der deutschen Politik – alle Personen ins politische Abseits geschickt, die auffallen. Immer lauter werden heutzutage Stimmen, dass es ein großer Fehler war, als Kanzlerkandidaten Armin Laschet zu benennen. Würde er gewinnen, wäre er Ewa Kopacz von Angela Merkel – das wird sich aber eher nicht bewahrheiten.

Aber auch Olaf Scholz von der SPD, der sein politisches Kapital mit der kuriosen Idee schlägt, Merkels Stil – einschließlich der berühmten Raute – nachzuahmen, erscheint eher als eine Attrappe denn als ein Kanzler für anspruchsvolle Zeiten. Frau Annalena Baerbock von den Grünen ist potenziell die interessanteste Kandidatin von den drei Hauptrivalen, den Umfragen zufolge hat sie jedoch keine Aussichten auf einen Wahlsieg.

Wenn auf dem Sessel der Kanzlerin ein Kanzler sitzt, beginnt in Deutschland ein ernster und unausweichlicher Umbau der emotionalen öffentlichen Struktur, vermittelt von einer neuen Person, die den ehrwürdigen Platz einnimmt. Wie es ausgeht – ist wahrlich schwer zu sagen. Es beginnt aber die Entfremdung, die Simmel als Verlust der Einzigartigkeit versteht. Sicherlich wird eine Einzigartigkeit durch eine andere ersetzt. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass wir die Zeiten Merkels – stabile, pragmatische, apathisch energische und für das Geschäft leidenschaftliche Zeiten – bald sehr vermissen werden.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

Latest / Auswirkungen von Klima und Pandemie auf die Demokratie

Die Deutschen wollen seit Jahrzehnten keine Atomkraft, so finden sie also Polens Pläne überraschend

Ein Gespräch mit Oldag Caspar. Von Aleksandra Sawa · 25 January 2022

„Entscheidungen über die Energiepolitik werden in Polen zum großen Teil kulturbedingt getroffen – es wird konservativ, in das Altbewährte, investiert. Bekanntlich funktioniert die Atom- und Kohleenergie, logischerweise wird es auch in Polen funktionieren. Diese Logik ist jedoch irreführend”, sagt Oldag Caspar, Experte der deutschen Denkfabrik Germanwatch.

Aleksandra Sawa: Bis 2022 wollen die Deutschen alle Atomkraftwerke schließen – diese Entscheidung wurde 2010 getroffen, als die Grundlagen für das Projekt Energiewende erarbeitet wurden. Woher kam die atomkritische Wende in Deutschland?

Oldag Caspar: Momentan beobachten wir die zweite „Welle” dieser Wende. Die erste Welle des Atomausstiegs kam 1990. Schon damals war die Bürgerbewegung sehr stark, mit Unterstützern und Sympathisanten aus diversen Gruppen: von Dissidenten über Demokraten bis hin zu konservativen und kirchennahen Kreisen. 1990 schloss sich dieser Bewegung die Antiatombewegung aus Westdeutschland, die sehr enge Beziehungen mit linken Grünen hatte. Atomgegner wurden auch vor Ort von Landwirten unterstützt, die Bedenken wegen der Sicherheit der Atomabfälle hatten.

Alle diese Gruppen handelten gemeinsam und bildeten Ende der 80er Jahre eine starke Widerstandswelle, die die Stilllegung der für den erheblichen Teil der Energiewirtschaft der DDR relevanten Atomkraftwerke herbeiführte. Diese Stimmung war die Gründungsstunde der Grünen, die 1998 in die Bundesregierung kamen. Etwas spätester wurde die Stilllegung aller Atomkraftwerke beschlossen. Diese Entscheidung traf natürlich auf einen starken Widerstand des sog. Atomlobbys, also Firmen, die in die Atomenergie viel investiert haben. In damaliger Zeit waren einige konservative Politiker – Angela Merkel, Helmut Kohl – immer noch für die Atomenergie, nachdem also CDU an die Macht kam und Angela Merkel Kanzlerin wurde, versuchte man zurückzurudern.

2005?

Ja. Nach der Machtübernahme versuchten sie, diese Entscheidung zu kippen, aber Erfolg hatten sie – und dann nur teilweise – erst 2010.

CDU wollte sich als Volkspartei positionieren, sie musste dafür sorgen, für sehr unterschiedliche Zielgruppen attraktiv zu sein, und damals war schon sogar ein Teil konservativ gesinnter Wähler:innen teilweise gegen die Atomkraft. Wegen des parteiinternen Widerstandes wurde der Prozess der Reaktorabschaltung gegenüber den ursprünglichen Plänen verlängert, aber nicht gestoppt.

Dann kam Fukushima [2011 – Anm. d. Red.] und wir wurden daran erinnert, dass sich diese Technologie nicht hundertprozentig kontrollieren lässt. Aber selbst wenn es Fukushima nicht gegeben hätte, wäre die Stilllegung der Atomkraftwerke in Deutschland in frühen 2030-ger Jahren abgeschlossen.

Was steckt hinter einer so stark ausgeprägten öffentlichen Meinung? In Frankreich etwa stützt die Energiewirtschaft überwiegend auf Atom und eine Antiatombewegung dieses Ausmaßes ist da nicht zu sehen.

Die Geschichte der deutschen Anti-Atomkraft-Bewegung geht auf die 70-ger Jahre zurück. Nach dem Krieg vertraute die deutsche Öffentlichkeit der Regierung nur sehr eingeschränkt. Sie folgte der Überzeugung, dass man selbst einer demokratisch gewählten Regierung ständig auf die Hände schauen muss, sonst werden die Regierenden das machen, was in ihrem Interesse und nicht unbedingt im Interesse der Menschen liegt. Gewissermaßen kann man es als einen „positiven” Nachlass des Zweiten Weltkrieges, der Erfahrungen der Machtergreifung durch NSDAP anerkennen.

Ich glaube, eben deswegen fiel es in Deutschland den Personen, die diese Bewegung in Gang gebracht haben – den Landwirten, den Umweltschützern – viel leichter, als es z.B. in Frankreich der Fall war, andere davon zu überzeugen, dass Atomkraftwerke hohes Risiko für die ganze Gesellschaft mit sich bringen. Die Bewegung der Kernkraftgegner wuchs hier über Jahrzehnte. Nun sind 75–80 Prozent der deutschen Gesellschaft für die Schließung der Atomkraftwerke.

Foto: Petar Avramoski, Pexels

Außenstehende könnten meinen, die deutsche Politik sei sich hier einig. Gibt es tatsächlich niemand mehr, der sich für die Atomkraft engagieren möchte?

In der Tat, jetzt verteidigen es nur noch die liberalen Demokraten (FDP), die eine Wählergunst von ca. 5–10 Prozent genießen. Und die populistische, rechtsextreme AfD [voraussichtlich mit 10–11 Prozent Stimmen in den kommenden Bundestagswahlen – Anm. d. Red.], die gerne neue Atomkraftwerke bauen würde. Aber dieses Thema ist in der öffentlichen Debatte nicht mehr besonders stark präsent.

Man muss allerdings anmerken, dass die Atomkraftindustrie nicht ohne Kampf aufgegeben hat. In den 90-ger Jahren hatten Siemens und andere Firmen, für die es ein wichtiger Bereich war, in der Bundesregierung Lobbyarbeit betrieben und versucht, den Bau von weiteren Atomkraftwerken zu veranlassen. In den Nullerjahren wurde sogar eine weit angelegte Propaganda-Maßnahme durchgeführt, um die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Atom den einzigen wirksamen Weg zum Klimaschutz bieten kann. Sie haben die These forciert, dass erneuerbare Energiequellen nie in der Lage sein werden, mehr als ein paar Prozent des bundesweiten Strombedarfs abzudecken. Selbstverständlich erscheint diese Kampagne heute, vor dem Hintergrund dessen, was wir über die erneuerbaren Energien bereits wissen, sehr dumm und naiv. Damals war es aber recht gefährlich – die Kampagne war sehr breit angelegt, es wurden enorme Mittel aufgewendet. Damals wurden Politiker, insbesondere die eher konservativen und wirtschaftsorientierten – CDU- bzw. FDP-Mitglieder – sehr stark unter Druck gesetzt. Letzten Endes hat das Atomlobby doch verloren. Ihr Sargnagel war dann Fukushima.

Sollten wir also vor dem Hintergrund der klar atomskeptischen Einstellung Deutschlands politischen oder wirtschaftlichen Druck zur Verhinderung der Atomkraftwerke in Polen erwarten?

Die Bundesregierung äußerte bereits ihre Beunruhigung im Zusammenhang mit den polnischen Plänen, ein Atomkraftwerk zu bauen, genau wie es Vertreter einiger Bundesländer im Osten der Republik taten. Es soll aber darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei um keinerlei antipolnische Komponente handelt. Solche Versuche, Druck auszuüben, gab es bereits und gibt es nach wie vor gegenüber anderen Staaten. Im Westen der Bundesrepublik protestieren die Menschen gegen französische oder belgische Atomkraftwerke, indem sie sich z. B. in Form von Briefaktionen an französische Politiker und Medien wenden. Für die Deutschen ist es also irrelevant, welcher Staat gemeint ist – ist es ein Anrainerstaat, der ein AKW relativ nah an der Grenze bauen will, werden die Menschen Angst vor den Konsequenzen dieser Investition haben und wahrscheinlich ihren Widerspruch zum Ausdruck bringen. Es wird sicherlich für die deutsch-polnischen Beziehungen nicht förderlich sein, aber andererseits glaube ich nicht, dass es ein enormes Problem darstellen könnte.

Wenn ich die Entwicklungen in Polen beobachte, habe ich den Eindruck, dass über die Energiepolitik in Polen zum großen Teil kulturbedingt entschieden wird – es wird konservativ, in das Altbewährte, investiert. Das kann man auch auf dem Balkan sehen, wo immer noch in die Kohle investiert wird, oder in der Ukraine, die ebenfalls auf die „traditionellen” Energiequellen setzt. Kohle und Atom sind Lösungen, die es auf dem Markt seit Jahrzehnten gibt. Bekanntlich funktionieren sie, die Denke ist also, dass „sie in Polen auch funktionieren werden”. Aber diese Logik ist falsch.

Warum?

Die Lage auf dem Energiemarkt ist dynamisch, deswegen muss man nach vorne und nicht nach hinten schauen. Mittel, die in Polen höchstwahrscheinlich für den Bau eines Atomkraftwerkes aufgewendet werden, in den Aufbau und die Entwicklung der erneuerbarer Energiequellen zu investieren, wäre klüger und für die ganze Wirtschaft vorteilhafter. Eine Investition in die Windenergie, in die Fotovoltaik oder in ganz bestimmte, ausgewählte Industriezweige rund um die erneuerbaren Energien, z.B. in die Energiespeicherung, ist eine Investition in etwas, was sich sicherlich auch in dreißig oder fünfzig Jahren der Nachfrage erfreuen wird. Polen könnte auch in die in Entwicklung begriffenen Energiequellen investieren, sich als Exporteur einer konkreten Technologie positionieren, die momentan noch nicht marktfähig ist. Was Dänemark mit den Offshore-Windparks gemacht hat, könnte Polen mit einigen Arten der Wärmepumpen oder mit Technologien zur Energiespeicherung machen.

Ein anderer Aspekt, in dem die Investitionen in die erneuerbaren Energien die Atomkraft zweifellos trumpfen, ist der Arbeitsmarkt. In einem Atomkraftwerk arbeiten einige hundert Menschen an einem Ort. Bei Investitionen in die Windkraft oder in die Solaranlagen entstehen Arbeitsplätze im ganzen Land – bei einem jeden Windpark braucht man doch Personal für den Betrieb und für die Instandhaltung. Und selbst wenn derartige Parks in Polen von ausländischen Firmen gebaut werden sollten, beispielsweise von den dänischen, dann werden sie ihr Know-how an Personen vermitteln müssen, die in diesem Sektor vor Ort arbeiten werden. Hinzu kommt das Innovationspotential im Zusammenhang mit den erneuerbaren Energien, mit dem auch andere Berufsgruppen unterstützt werden können. In Deutschland baut man beispielsweise sehr gerne Solarpaneele auf den Dächern von landwirtschaftlichen Gebäuden. Es ist eine Methode, Energieerzeugung zu steigern und gleichzeitig ist die Einspeisevergütung eine wichtige Einkommensquelle für landwirtschaftliche KMUs.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

Latest / Auswirkungen von Klima und Pandemie auf die Demokratie

Ein AKW bleibt in Polen immer noch eine abstrakte Vorstellung

Ein Gespräch mit Kacper Szulecki. Von Jarosław Kuisz · 24 January 2022

„Polnisches Atom bleibt immer noch im abstrakten Bereich. Als wir 2013 angefangen haben, das Buch zu schreiben, sollte der erste AKW-Block, wahrscheinlich in Żarnowiec, 2021 entstehen. Heute können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass wir es vor 2033 nicht schaffen, irgendeinen Block in Betrieb zu nehmen”, meint Kacper Szulecki.

Jarosław Kuisz: Die Regierung plant, dass 2033 in Polen der erste Block in einem AKW ans Netz geht. Gemeinsam mit Tomasz Borewicz und Janusz Waluszko hast du das Buch „«Bez atomu w naszym domu!».. Protesty antyatomowe w Polsce po 1985 roku” [Kein Atom bei uns zu Hause. Proteste der Atomgegner in Polen nach 1985] geschrieben. Haben die Polen keine Angst mehr vor Atom?

Kacper Szulecki: Ich weiß nicht, ob die Angst tatsächlich das Wichtigste hier ist – und ganz bestimmt möchte ich hier keinen Gegensatz „irrationale Angst gegen rationale Ruhe” darstellen. Bei einem solchen Ansatz wird das Bild der Wirklichkeit im gewissen Grad verzerrt. Erstens war 1986, als sich der Störfall in Tschernobyl ereignet hatte und in der Zeit direkt danach, die Angst wirklich sehr realistisch. Sie bezog sich vielleicht nicht primär auf die Katastrophe selbst, sondern darauf, welch enorme Gefährdung damals ausgeblieben ist. Sie hing auch gewissermaßen mit der Angst vor einer nuklearen Vernichtung zusammen, zu der es im Kalten Krieg kommen konnte. In Polen ist das Thema immer noch nicht erforscht worden und wir unterscheiden uns im europäischen Vergleich insoweit, als es bei uns nie eine Bewegung gegen die Atomwaffen gab.

Zweitens ist die Angst häufig eine andere Art zu empfinden und eine Sensibilität, die für soziale Bewegungen und für die Protestteilnehmer charakteristisch ist. Das sehen wir auch gegenwärtig, wenn wir auf den Schulstreik für das Klima oder auf Extinction Rebellion schauen, die auch die Komponente der Angst und der Gefühle betonen.

In eurem Buch gibt es ein fantastisches Foto von einem Studentenprotest aus Mai 1986, auf dem ein Kind ein Transparent mit dem Satz „ich habe Angst vor Żarnowiec” hält. Ich kann mich selbst daran erinnern, als wir damals in der Grundschule mit der scheußlichen Lugolscher Lösung zwangsgepumpt wurden. Diese Angst resultierte zum großen Teil aus dem Unwissen, aber sie war bei den Protesten und in der Bevölkerung gegenwärtig. Ich habe den Eindruck, es war eine Emotion, die dazu geführt hat, dass das Thema „Atom“ nach 1989 so ungern in Polen angesprochen wurde.

Ja, aber die Angst war selbstverständlich nicht die einzige Komponente. Ich glaube, dass die Befürchtungen im Zusammenhang mit einem AKW heutzutage aus zwei Gründen geringer sind. Erstens ist die Erinnerung an Tschernobyl schon ziemlich stark verblasst. Unlängst rückte dieses Thema ein wenig ins kollektive Bewusstsein dank der Filmserie und dankt dem ukrainischen Spielfilm, diese Beiträge werden aber als historisches Material wahrgenommen. Die Katastrophe in Fukushima hatte wiederum in Polen keine großen Auswirkungen auf die Atomdebatte.

Zweitens ist das Vertrauen in die polnische Technologiekultur größer als Ende der 80er Jahre. Das halte ich aber nicht für so selbstverständlich und wahr. Neben der Technologiekultur sind in der Kernkraft auch das Risikomanagement und das Einhalten von Abläufen wichtig. Vergiss nicht, dass wir über ein Land reden, das drei Viertel seiner politischen Elite am Bord eines Flugzeugs fliegen ließ. Vorbereitungen zu vernachlässigen und Abläufe zu missachten, ist leider immer noch ein ziemlich wichtiger Bestandteil polnischer Kultur.

Die Einstellung der Polen gegenüber dem Atom ändert sich, allerdings ist sie sehr schwer einzuschätzen, nachdem es keine guten und repräsentativen Studien hierzu gibt.

Gibt es sie nicht?

Es gibt diverse Studien, aber deren Methodologie erweckt häufig Bedenken und je nachdem, wer sie macht, bekommen wir unterschiedliche Ergebnisse. Da hängt viel davon ab, wie die Frage gestellt wurde und ob die Studie landesweit repräsentativ durchgeführt wurde, oder man sich auf eine Region fokussiert hat, in der so ein AKW tatsächlich entstehen kann. Wenn ich dich fragen würde, ob du „Atom für eine wichtige Energiequelle hältst”, und jemand anders wiederum fragen würde, „ob du mit dem Bau eines Reaktors im Dorf nebenan einverstanden bist”, würdest du wohl diese Fragen unterschiedlich beantworten, und keine dieser Antworten wird deine Einstellung zur Kernkraft richtig widergeben.

Schlüsselwichtig ist hingegen die Tatsache, dass das polnische Atom immer noch im abstrakten Bereich bleibt. Als wir 2013 angefangen haben, dieses Buch zu schreiben, sollte der erste AKW-Block, wahrscheinlich in Żarnowiec, 2021 entstehen. Heute können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass vor 2033 kein Block in Betrieb genommen wird.

Dieser Horizont verschiebt sich die ganze Zeit und für die Mobilisierung eines gesellschaftlichen Widerstands ist eine realistische Gefahr notwendig. Das konnte man in Polen etwa 2012 beobachten, als es zu Protesten in Gąski kam, die wir auch im Buch beschreiben, oder in Żarnowiec und in der Dreistadt [Gdańsk, Gdynia und Sopot] im Jahre 1989, als der Bau des AKW unvermeidlich schien.

Bist du dafür, dass ein Atomkraftwerk in Polen gebaut wird?

Ich bin kein Anhänger des AKW-Baus in Polen. Vor allem meine ich, dass keine zwingende Notwendigkeit besteht. Es ist ein kostspieliger Zusatz, mit dem Träume einiger Experten der Energiewirtschaft, einiger Wissenschaftler und eines großen Teils der Politiker, insbesondere aus dem Regierungslager, erfüllt werden. Polen kann auch ohne AKWs und zwar erfolgreich auskommen, da das mit der Kernenergie verbundene Risiko, selbst wenn es sehr niedrig ist, doch realistisch bleibt.

Bei der Kernenergie ist solch ein Unglück, auch wenn es wenig wahrscheinlich ist, da dabei mehrere Fehler und Pannen – zum Beispiel ein Konstruktionsfehler, also Menschenversagen und dann irgendeiner unvorausschaubarer externer Faktor – zusammenkommen müssen, viel katastrophaler als bei irgendwelchen anderen Energiequellen. Während man die Tschernobyl-Katastrophe damit erklären kann, es sei im kommunistischen Stil gepfuscht worden und das System sei korrupt gewesen, wie es die Rechten gerne behaupten, ist Fukushima, wie es die Technologieforscherin Majia Nadesan darstellt, ein Beispiel dafür, wie der Kernenergiesektor im Kapitalismus das Risiko privatisiert, indem die Kosten auf die Anwohner und auf die gesamte Gesellschaft abgewälzt werden.

Die Regierung besteht darauf, das Jahr 2033 sei ein realistisches Datum für die Inbetriebnahme des ersten Blocks eines Kernkraftwerkes in Polen. Ich schaue darauf mit fachfremden Augen und es macht mich stutzig, dass die Franzosen gerne ein AKW bei uns bauen würden, während sie zu Hause über die Stilllegung ihres eigenen Atomreaktors diskutieren.

Frankreich hat beschlossen, Anteil der Kernkraft in ihrem Energiemix zu beschränken. Infolgedessen beschwert sich das französische Unternehmen EDF (Électricité de France) – der nationale Energiechampion, der unter anderem Atommeiler baut, wegen Auftragsmangel. Und plötzlich kommt Warschau, das verkündet, man möchte in den kommenden 25 Jahren 9000 MW installierte Kernenergieleistung bauen.

Es ist eine enorme Investition und wenn die Umsetzung gelingen würde, wäre Polen das zweitgrößte Kernenergieland Europas. Alle Unternehmen aus der Branche reißen sich um diesen Leckerbissen.

Genauso haben es die Amerikaner gemacht – die Firma Westinghouse, die vor einer nicht allzu langen Zeit Insolvenz anmeldete, baute zuletzt einen neuen Reaktor im Jahre 2007. Die Vorstellung, man könnte die Geschäftstätigkeit dank lukrativen Aufträgen weitere zwanzig Jahre fortführen, ist sehr verlockend. Kein Wunder, dass die Japaner, die Koreaner, die Franzosen und die Amerikaner daran sehr interessiert sind. Die Russen sind ebenfalls interessiert, aber niemand würde sie hier hereinlassen, das wäre zwar am billigsten, aber aus politischen Gründen haben sie keine Chance.

Enorme Kontroversen erregte in Polen die Gaspipeline Nord Stream 2, deren Bau derzeitig abgeschlossen wird. Den Deutschen gefällt wiederum die polnische Vorstellung betreffend Kernkraft nicht. Gibt es in Berlin den politischen Willen und die Möglichkeiten, den polnischen Plan zur Entwicklung der Kernenergie zu blockieren?

Ich bemühe mich immer, nicht über Nationen, nicht über „die Deutschen“, sondern konkret über eine deutsche Partei – hier: Die Grünen – zu reden, die einen Bericht über potentielle negative Auswirkungen herausgegeben hat, die eintreten würden, falls sich ein ernsthafter Unfall in einem Kernkraftwerk in Polen ereignet. Gerade den Grünen kann man nur schwer die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen dem Atom und dem russischen Gas vorwerfen, denn es ist die einzige Partei im Bundestag, die sich konsequent gegen Nord Stream äußert. Der vorgenannte Bericht wurde durch diverse polnische Organisationen, auch durch die Regierung kritisiert, jedoch vor allem im Sinne der Aarhus-Konvention über die grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen sind alle Staaten, die von den Auswirkungen des jeweiligen AKW-Betriebs betroffen sein könnten, berechtigt, solche Stellungnahmen abzugeben.

Das soll man im Auge behalten, insbesondere im Hinblick auf den Braunkohlebergbau Turów, der den Streit zwischen Polen, der Tschechischen Republik und Deutschland ausgelöst hat.

Ich glaube, die Deutschen sind nicht in der Lage, polnische Kernkraftpläne zu stoppen, Tatsache aber ist, dass einzelne Interessengruppen für Lösungen lobbyieren, die im Widerspruch zur polnischen Strategie stehen. Der deutsche Plan ist anders – keine Kernkraft, nur erneuerbare Energiequellen. Zwangsläufig versuchen die Deutschen dieses Modell auch auf der europäischen Ebene zu bewerben. Rechtsorientierte Publizisten erfinden dazu Verschwörungstheorien, denn sie glauben, dass Deutschland irgendwie zum Großhändler für russisches Gas wird. Und hier geht es vor allem um einen Paradigmenwechsel in der Energiewirtschaft. Soll nämlich die Energieerzeugung auf instabilen erneuerbaren Energiequellen basieren, dann brauchen wir ein Umdenken für das kontinentale System und je schneller dieses Umdenken europaweit und nicht nur in den einzelnen Ländern eintritt, desto besser wird dieses System funktionieren.

Im Narrativ der jetzigen Regierung wird betont, dass dank dem AKW-Bau unsere Souveränität gestärkt wird.

Wenn ich etwa die Stellungnahmen von Jarosław Kaczyński lese, der kein Energieexperte ist, von dem aber am Ende des Tages alles abhängt, dann komme ich zum Schluss, dass er die Kernkraft als Fortschritt auffasst. Somit sind alle modernen, selbstbewussten Staaten in der Pflicht, ein Atomkraftwerk zu haben.

Das stimmt nicht ganz – wenn man die globale Landschaft der Atomkraft sieht, dann kommen viele Staaten ohne sie aus – außer Österreich, zum Beispiel Italien und Australien, also Länder mit vielfach größeren Volkswirtschaften als die polnische. In Polen ist es im hohen Grade die Frage des Nationalstolzes – auch unter den Eliten der Partei Platforma Obywatelska (Bürgerpflattform). Donald Tusk tickte genauso.

Zweiter Aspekt ist der wirklich tief verankerte Autarkie-Gedanke, also die Vorstellung, dass sich unsere Energieversorgung selbst tragen sollte. Es ist einmalig in Polen, denn tatsächlich waren wir Jahrzehnte lang in der Lage, Strom nahezu ausschließlich aus der Verbrennung polnischer Kohle zu erzeugen. Viele Energiefachleute sind der Meinung, dass wir jetzt ähnlich funktionieren sollten.

Doch eine moderne Energiewirtschaft wird in der Zukunft auf Wechselwirkungen basieren. Wir konnten uns davon im Mai überzeugen, als es zu einem ernsthaften Ausfall im Kraftwerk Bełchatów kam, das für 17 Prozent der Energieerzeugung im Lande verantwortlich ist. Ohne Importe und grenzüberschreitende Bilanzierung wären wir nicht in der Lage gewesen, einen landesweiten oder gar europaweiten Blackout zu verhindern, denn dieses System arbeitet synchron.

Das Atomkraftwerk in Żarnowiec, die Quelle: Wikipedia

Als ich das Buch „Bez atomu w naszym domu” gelesen habe, erinnerte ich mich an die Proteste gegen den AKW-Bau in Żarnowiec. Wird ein neuer Standort genannt, dann kann ich mir schwer vorstellen, dass die Gemeinschaften vor Ort einfach anerkennen, es sei ein Symbol des Modernen und des Guten auf Erden.

Ich habe den Eindruck, die Regierung wiederholt nun das Szenario aus Żarnowiec. Die Entscheidung über den Bau des Kraftwerks wurde im Januar 1982 getroffen. Das waren die ersten Tage des Kriegsrechtes und die Regierung wollte die Gunst der Stunde nutzen, um ohne Konsultationen mit der Gesellschaft eine Entscheidung zu treffen, die weitreichende Konsequenzen hatte.

Jetzt sieht alles wirklich ähnlich aus. In den Regierungszeiten der Bürgerplattform wurden bereits drei AKW-Standorte benannt. Die Einwohner dieser Gemeinden erfuhren es häufig aus dem Fernsehen und es bildeten sich lokale Protestbewegungen. Ich vermute, dass es jetzt ähnlich sein wird – alles wird da oben und ohne Konsultationen entschieden. Und alleine aus dem Grund – im Sinne des Slogans „nichts über uns ohne uns” – werden sich diese lokalen Gemeinschaften organisieren, denn der zivile Ungehorsam ist in Polen recht gut verwurzelt. Das haben wir bei unterschiedlichen Situationen beobachtet: im Zusammenhang mit dem Urwald von Białowieża oder bei Protesten gegen das Abtreibungsverbot. Sehr schnell stellt es sich heraus, dass alle sehr wohl wissen, wie die Proteste zu organisieren sind, und wenn es nicht direkt die Protestierenden sind, dann haben sicherlich ihre Eltern oder Großeltern die nötige Erfahrung.

An diese Prozesse erinnert ihr auch in eurem Buch.

Wir beschreiben dort ziemlich viele Strategien und Taktiken, die die Protestierenden einsetzen. Am interessantesten war ein in der polnischen Geschichte sehr seltenes Phänomen eines zivilgesellschaftlich organisierten Referendums 1990 wegen Żarnowiec an der Ostseeküste. Innerhalb einer knappen Woche ist es gelungen, in der ganzen Woiwodschaft einen Volksentscheid zu organisieren, in dem sich 86 Prozent der Stimmberechtigten bei einer Beteiligung von 44 Prozent dagegen ausgesprochen haben. An dem Verfahren haben über eine Million Menschen teilgenommen, es war also enorme und außerordentliche Mobilisierung in einer Krisensituation.

Die Geschichte lehrt uns, dass eine Entscheidung über die Inbetriebnahme eines AKWs im Grunde genommen eine autoritäre Entscheidung ist: sie muss von oben kommen.

Häufig ist es der Fall und man kann sehen, dass aktuell Kernkraftwerke in der Welt eher in nicht demokratischen Staaten gebaut werden. Der größte Absatzmarkt ist China und der größte Hersteller der Reaktoren – Russland. Der russische staatliche Gigant Rosatom baut jetzt zum Beispiel in der Türkei, in Usbekistan, im Nahen Osten und in Afrika.

Interessant sieht hier eine Gegenüberstellung von Deutschland und Frankreich, weil wir alle denken, die Deutschen wären schon immer Atomgegner gewesen, was nicht stimmt – noch in den 60-ger Jahren waren sie eher atomenthusiastisch. Den stärksten Widerstand gegen die Kernkraft gab es hingegen in Frankreich in der ersten Hälfte der 70-ger Jahre. Die Zentralisierung und die Durchsetzungskraft der Regierung in Paris sowie zahlreiche Verbindungen zu den Energiekonzernen, vor allem zu EDF haben bewirkt, dass die Protestierenden nicht viel Spielraum hatten, ihre Argumente zu präsentieren.

Die Polizei ist gegen alle Aktivitäten sehr brutal vorgegangen, vor allem in Elsass. Deutsche Aktivisten, die die Proteste in Frankreich unterstützten, waren der Meinung, die Polizei in der BRD wäre am strengsten, weil sich ihr Personalbestand noch in den 60-ger und 70-ger Jahren zum großen Teil aus ehemaligen Nazis und Anhängern der Rechtextreme rekrutierte, aber sie kamen aus Frankreich völlig zugerichtet und überzeugt von der extremen Brutalität der französischen Beamten nach Hause. In unserem Buch beschreiben wir auch polnische Versuche, den Spielraum und die bürgerlichen Freiheiten im Bereich des zivilen Widerstands um die Kernkraft herum zu beschränken.

Ich habe den Eindruck, dass die Frage des AKW-Baus die ganze Zeit jenseits der einfachen Trennlinien zwischen Links und Rechts, zwischen den Kommunisten und den Postkommunisten oder gar zwischen PiS und PO bleibt. Es ist ein Thema, welches in die Schemata nicht passt, mit denen ein paar vergangene Jahrzehnte beschrieben werden.

Das kann man in den Kapiteln sehen, in denen wir die Debatten im Parlament und im Rahmen der Umweltgruppe des Runden Tisches beschreiben. Am Anfang sind die Experten der kommunistischen Partei dafür und die Vertreter der „Solidarność” dagegen. Anders sieht es schon bei den Abgeordneten aus – ein Teil der „Solidarność”-Fraktion unterstützt die Kernkraft sehr stark, es gibt aber auch Vertreter der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, die gegen das Projekt sind. Alleine die Quellen zu durchforsten, war schon ein sehr interessantes Studium der neusten Geschichte, weil wir da wirklich viele Überraschungen entdeckten. Natürlich ist der Verlauf der Grenzen zwischen den jeweils vertretenen Meinungen auch heute sehr interessant. Dass die Kernkraft Zuspruch bei einem Teil der PiS-Partei, bei den Parteien Razem und Konfederacja findet, ist wohl das beste Beispiel.

In den Protesten in den 80-ger Jahren haben unabhängige Bewegungen und junge Opposition sehr große Rolle gespielt, vor allem war es die Bewegung Wolność i Pokój (Freiheit und Frieden), deren Mitglied einer unserer Co-Autoren Tomasz Borewicz war, der leider inzwischen im Jahre 2015 gestorben ist, bevor das Buch herausgegeben wurde. Eine andere wichtige Komponente war Ruch Społeczeństwa Alternatywnego (Bewegung der Alternativen Gesellschaft), also die erste Generation polnischer Anarchisten – Janusz Waluszko, der zweite Co-Autor, gehörte zu den Gründern.

Von Bedeutung waren auch Erzkonservative Bewegungen, etwa Wolność i Pokój aus Gorzów Wielkopolski. Heute ist es die national-konservative Rechte, die damals eindeutig an der Seite der Atomgegner stand. Die Beweggründe der Menschen waren sehr unterschiedlich, gemeinsam waren für sie hingegen die Frage der öffentlichen Gesundheit und des Schutzes der Gesundheit vor der damals real existierenden Gefahr sowie der Widerstand gegen das kommunistische System und gegen den damit assoziierten Führungsstil: undemokratisch, technokratisch, ohne Respekt für soziale Fragen. Heute wissen wir schon, dass gerade die letzteren Fragen in der polnischen vulnerablen Demokratie genauso aktuell sind.

Ich muss nach dem Rezensenten dieses Buches fragen, nach Piotr Gliński. Wie kam es dazu?

Wir sind sehr stolz auf diese Rezension, zumal wir sie 2014 bekommen haben, also bevor Prof. Gliński stellvertretender Ministerpräsident und Minister geworden ist.

Man muss bedenken, dass Prof. Gliński ein Experte für Umweltproteste in Polen und der ehemalige Mitgründer der ersten Polnischen Partei der Grünen ist. Er hat auch einen Solidarność-Lebenslauf und er kannte viele Teilnehmer der Proteste persönlich, daher sollte seine positive Bewertung nicht wundern. Allerdings werteten wir sie wirklich als eine Medaille, vielleicht eine Art Medaille des Lächelns, die wir unbedingt auf dem Umschlag präsentieren wollten und wir hoffen, Prof. Gliński ist uns nicht böse.

Letzte Frage – glaubst du, dass in Polen ein Atomkraftwerk entstehen wird?

2012 habe ich – leider kann ich mich nicht erinnern, mit wem es war – eine Wette abgeschlossen, dass es nicht passieren wird, eben aus den erwähnten Gründen. Ich denke, dass die Proteste, nachdem die Details öffentlich werden, ein derartiges Ausmaß erreichen werden, bei welchem dieses Projekt scheitert.

Und das fürchte ich sehr, denn die Geschichte von Żarnowiec ist im Grunde genommen eine tragische. Unter den Protestierenden und den bei dem Bauvorhaben beschäftigten Personen gibt es Geschichten der zerstörten Lebensläufe. Die Karrieren der durch die Partei benannten, für den Bau zuständigen Direktoren wurden zerstört, einige Protestierende haben ihr Engagement mit Zerfall ihrer Familien bezahlt und gerieten in der neuen Wirklichkeit ins Abseits, weil sie in der Zeit, in der die anderen ihre Firmen gründeten und Wind in die Segel bekamen, in den Zelten vor dem Gebäude des Ministerrates froren oder Hungerstreik führten. Żarnowiec ist ein Symbol der Vergeudung enormer Ressourcen, menschlicher Energie und Zeit. Deswegen ist es notwendig, Konsultationen mit der Gesellschaft vor der Entscheidung und nicht im Nachhinein als Evaluation durchzuführen.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

Latest / Auswirkungen von Klima und Pandemie auf die Demokratie

Das Spiel „Der Deutsche – der ewige Feind”. Drei politische Strategien

Robert Traba · 24 January 2022

Nach 1989 wurden in den Beziehungen zu Deutschland Rahmen des Dialogs auf Basis der Partnerschaft geschaffen. Leider ist seit 2015 neue Geschichtsschreibung eine der Programmaufgaben der regierenden Koalition.

Die gegen die Deutschen existierenden Ressentiments auszuspielen, zahlt sich in Polen sowohl außen- als auch innenpolitisch aus. Der Propagandatrick „zu Zeiten des bösen Deutschen” wurde zum ersten Mal im großen Stil im Wahlkampf 2005 von den Wahlstrategen des Lech Kaczyński genutzt. Der Spruch über den „Großvater aus der Wehrmacht” wurde zum Synonym der politischen Manipulation und dient in der Hochschuldidaktik als Beispiel der sog. schwarze Propaganda. Aus der Zeitperspektive schien jene Geschichte eine Ankündigung einer viel breiter angelegten Strategie zu sein.

Kontexte: status quo ante bellum

Um die letzte Jahrhundertwende schien es, dass wir über die deutsch-polnische Geschichte einander alles sagen können. Vom Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe aus dem Jahre 1965 mit der berühmten Phrase „wir vergeben und bitten um Vergebung”; Versöhnungspolitik von Willy Brandt in den 70ger Jahren; über die Vorreitererfahrung bilateraler Forschungen und didaktischer Aufarbeitung der Geschichte im Rahmen der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission der Historiker und Geographen (gegründet 1972); bis hin zur Einberufung von professionellen historischen Institute in Warschau (1993) und Berlin (2006) und den Hunderten von Projekten im Bereich der Wissenschaft, Kultur und Bildung – es schien, dass man über die deutsch-polnische Vergangenheit frei von Tabus und ohne politische Animositäten reden kann.

Dank dem an beiden Seiten vorhandenen politischen Willen wurde die „ewige Feindschaft” durch die Geschichte der Wechselwirkungen ersetzt, also durch eine solche Betrachtung der Geschichte, dank der man den Nachbarn verstehen kann. Und verstehen hieß gar nicht, ihn zu rechtfertigen.

Ein sichtbarer Bruch kam Anfang des 21. Jahrhunderts, als die Aktivisten des deutschen Vertriebenenverbandes nicht nur eine Welle der Ressentiments, sondern auch eine Welle der Revindikationsforderungen ins Rollen gebracht haben. Das natürliche Bedürfnis, an das Drama einer Vertreibung aus der Heimat zu erinnern, ist zu casus belli im Medienbild der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen geworden. Die an der deutschen Seite in Gang gebrachten Anspruchsformulierungen waren umso gefährlicher, weil sie mit dem Beginn des polnischen EU-Beitrittsprozesses zusammenfielen. In dem Brief an die Vizechefin des Vertriebenenverbandes schrieb ich damals, im Jahre 2003, dass die Eskalation der Forderungen der deutschen Rechten damit droht, das Erbe der polnisch-deutschen Versöhnung zunichte zu machen.

als Reaktion auf die Ansprüche der politischen Kreise der „Vertriebenen” fasste der Sejm im Jahre 2004 mit der liberal-sozialdemokratischen [!] Mehrheit die Entschließung über die Aufforderung der Bundesregierung zur Zahlung von Reparationen für die infolge der deutschen Besatzung in Polen entstandenen Schäden. Ein Teil der deutschen linken Medien stufte diese Reaktion als „histerisch“ ein. Später noch, im Jahre 2009, unternahm der Ministerpräsident Donald Tusk Bemühungen um eine versöhnliche Geste, indem er ein gemeinsames Treffen auf der Westerplatte mit Angela Merkel und Wladimir Putin anlässlich des siebzigsten Jahrestages Zweiten Weltkriegs arrangiert hat. Die Präzedenzlosigkeit dieser Begegnung hat die gesellschaftlichen Reaktionen nicht beeinflusst. Diese wurden in Polen vier Jahre später entfacht, als der größte historische ZDF-Schlager „Unsere Mütter, unsere Väter” ausgestrahlt wurde, in dem der für die Filmhandlung nebensächliche polnische Antisemitismus betont wurde. Nahezu parallel dazu wurden in diversen ausländischen Medien, vor allem in Deutschland und in den USA, „polnische Konzentrationslager” erwähnt.

Es war gewissermaßen ein Point of no return des historischen Dialogs, den weder die von den Präsidenten Joachim Gauck und Bronisław Komorowski eröffnete Ausstellung über den Warschauer Aufstand in der Berliner „Topographie des Terrors” (2014), noch die von den Medien nicht wahrgenommene Ausstellung im Abgeordnetenhaus von Berlin über den Bischof Bolesław Kominek zum fünfzigsten Jahrestag des Briefes der polnischen Bischöfe (2015) abmildern konnten. Aber auch in Deutschland fehlte es am ausreichenden politischen Willen, um eine größere Wende bei der Aufmerksamkeit für polnische Geschichte herbeizuführen. 2013 hatte die Initiative von Władysław Bartoszewski, in der deutschen Hauptstadt polnischer Kriegsopfer zu gedenken, keine Resonanz.

Trotzdem wurden während des zwanzigjährigen Bestehens des souveränen Polens reale Rahmen für Dialog auf Partnerschaftsbasis geschaffen. Massiver Schüleraustausch und Austausch im außerschulischen Bereich sowie Kontakte auf der kommunalen Ebene bauten in Deutschland systematisch das Interesse für polnische Kultur und Geschichte aus. Förderlich dabei war die staatliche Versöhnungspolitik, deren Ergebnis das weltweit zweite bilaterale Schulbuch für Geschichte „Europa. Unsere Geschichte” war.

Gegenangriff

Nach 2015 wurde die Neuschreibung der Geschichte, häufig in Bezug auf die deutsch-polnischen Beziehungen, zu einer der Programmaufgaben der in Polen regierenden rechtsorientierten Koalition. Zum Kompass der Aktivitäten wurde das von Politikwissenschaft definierte Backlash-Prinzip – schlagartige Wende, Gegenangriff und Distanzierung von den Vorgängern.

Es nimmt heute diverse Formen an: von den Versuchen, den Gegner zu brandmarken (die Figur eines Verräters), über ständig formulierte Drohungen (Reparationen), bis hin zu den moderaten, scheinbar auf Zureden stützende Methoden zur Einverleibung der medialen Realität (Auslöschen und Mission). Im Endergebnis geht es darum, alternative Ideen sowie die Errungenschaften der Vorgänger aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen, wirkliche politische Gegner wegzuradieren.

Ich beziehe mich nur auf drei ausgewählte, aktuelle Beispiele, die eine so umrissene Strategie des Spiels „Der Deutsche – der ewige Feind” widerspiegeln.

Erstes Beispiel: den Verräter kreieren

Der „Feind” als Gefahr von außen und als Verräter des Staates / der Nation wurde in den allgemeinen Gebrauch von den Höhen des wissenschaftlichen Instrumentariums von Prof. Andrzej Nowak in Form der politischen Botschaft von Jarosław Kaczyński übernommen, der  sich des Terminus Oikophobie bediente, also Feindseligkeit bzw. Hass auf die eigene Heimat – und mit solcher Unterstützung erlangte dieser Terminus, nicht nur unter den Nationalisten und Fußball-Pseudofans, eine neue Qualität. In der öffentlichen Dimension dient der „Feind” einer Mobilisierung der Gesellschaft um die Regierenden, die über die meisten Verteidigungsinstrumente verfügen. Wer es kritisiert oder auf Distanz geht, wird automatisch ein „Verräter” und zum Ausschluss aus der Gemeinschaft verurteilt.

Die häufigste Methode, vermeintliche Verräter auszugrenzen, besteht darin, den Betroffenen eine entsprechende Abstammung zuzuordnen und sie als „nationalfremd” vorzustellen, die wegen dem kommunistischen, linksradikalen Engagement der Eltern oder Großeltern vorbelastet sind, oder auch so ein verzerrtes Bild ihrer öffentlichen Aktivitäten darzustellen, dass sie in das „antipolnische” Schema passen.

In den neunziger Jahren gehörten solche Versuche, Tadeusz Mazowiecki, Bronisław Geremek, Aleksander Kwaśniewski oder insbesondere Adam Michnik zu diskreditieren, zu Randerscheinungen des öffentlichen Lebens. Seit nahezu einem Jahrzent (den Anfang gab das Buch „Resortowe dzieci” [„Ressortkinder“] aus dem Jahre 2013) wurde es zum Alltag in den rechten Medien, für die „der oberste Verräter” Donald Tusk ist.

Anfang November 2021 wurde zum Opfer der Imagebildung eines „Verräters” der Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrums in Gdańsk und Chefredakteur der deutsch-polnischen Zeitschrift „Dialog” Basil Kerski. Um die präparierten Argumente glaubwürdig zu machen, wurde der Angriff nicht in einer gesamtpolnischen Zeitung, sondern in einem regionalen (sprich: nah am Ort des Geschehens agierend) Tageblatt „Dziennik Bałtycki” gestartet, das zu dem unlängst durch den staatlichen Ölkonzern PKN Orlen übernommenen Medienkonzern Polska Press gehört. In seinem Beitrag „Niemiec, ale nasz?” [„Ein Deutscher, aber unser einer?“] bediente sich der Autor einer ganzen Palette an Manipulationen, um Basil Kerski zu diskreditieren. Erwähnt wurden unter anderem  „deutsche Beziehungen des Milieus der «Danziger Liberalen»”, mit denen er verbunden ist, „Zerstörung der Polonia in Deutschland”, irakische Abstammung des Vaters und als Hauptbeweis für seinen Verrat wurde die Tatsache erwähnt, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft mit 17 angenommen hat. Diskreditierend sei für ihn auch die Tatsache, dass er ein „Dialog”-Redakteur ist, dessen Verleger die Deutsch-Polnische Gesellschaft Bundesverband ist, die als eine Art „fünfte Kolonne” in den deutsch-polnischen Beziehungen dargestellt wird.

Das ewige Problem mit Texten wie mit dem in „Dziennik Bałtycki” veröffentlichten Beitrag besteht darin, dass es unmöglich ist, gegen die de facto lügenhaften Darstellungen polemisch vorzugehen. Zusätzlich bleiben sie im Internet, infolge der technologischen Revolution, „für alle Ewigkeit” da – und können jederzeit als Argument im politischen Kampf genutzt werden. Kann es mit solch falsch kreiertem Image die Tatsache aufnehmen, dass Basil Kerski bereits Mitte der 1990er Jahre als der jüngste, 24 Jahre alte Berichterstatter der Pariser Zeitschrift „Kultura” die besten Traditionen des polnischen politischen Essayissmus gepflegt hatte und seine Berliner Wohnung eine zweite, zivilgesellschaftliche Botschaft der polnischen Kultur war?! Man bedenke, dass er 2005 für diese Aktivitäten mit dem goldenen Verdienstkreuz der Republik Polen geehrt wurde…

Zweites Beispiel: Emotionen ausspielen

Das Medienspektakel begann 2017 am Vortag des Jahrestages des Warschauer Aufstands. In einem nie zuvor in der Geschichte der III Republik Polen dagewesenen Ausmaß kam dann eine Propagandaaktion des polnischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens gegen die Deutschen ins Rollen. Ihr Ziel, das einige Wochen zuvor von dem Vorsitzenden der PiS-Partei aufgezeigt wurde, war es, Boden für die Forderung der Kriegsreparationen gegen den deutschen Staat für die während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Schäden vorzubereiten.

Den Startschuss für die Propagandakampagne gab ein antideutscher Werbespot, der am 1. August, gleich nach der Hauptausgabe der „Nachrichten” im ersten Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens TVP ausgestrahlt wurde. Anschließend folgte eine Reihe von Informationen und von arrangierten Diskussionen. Das Finale bildete dann medienwirksame Unterstützung der Fußballfans des Clubs Legia, die am 2. August im Rahmen ihrer Choreographie zum Fußballtreffen einen Banner gezeigt haben, auf dem ein deutscher Soldat zu sehen war, der eine Pistole am Kopf eines polnischen Kindes hält. Der Zusammenhang war eindeutig politisch und hatte mit der Klärung tragischer Schicksale der Polen unter deutscher Besatzung nichts gemeinsam. Einfach so, denn seit dem „Großvater aus der Wehrmacht” ist bekannt, dass man „mit den Deutschen” politisches Kapital schlagen kann.

2017, als die Emotionen und der Mechanismus der Mobilisierung innerhalb des Landes gegen die vermeintliche Gefahr für polnische Interessen angesprochen wurden, wurde auf die Methoden zurückgegriffen, die aus den Zeiten der kommunistischen Propaganda gegen die Deutschen oder gegen die Juden aus den sechziger Jahren bekannt sind. Die Regierungspartei hatte nur kurzfristig den halben Erfolg erzielt, denn aus diversen Kreisen kamen Stimmen der Genugtuung wie: „endlich haben wir es denen gezeigt!”, „jetzt werden die Deutschen aufhören, uns ihre Bedingungen in der Europäischen Union aufzuzwingen!”. Offiziell hat zu diesem Zeitpunkt die polnische Regierung noch keine Ansprüche geltend gemacht. Letzten Endes wurde die diplomatische Niederlage durch den scheinbaren innenpolitischen Erfolg ersetzt – Mobilisierung der Wählerschaft „zum Schutz gegen die deutsche Gefahr”. Und so wird das Thema seit über vier Jahren je nach politischem Bedarf aus der Versenkung geholt.

Mitte 2020 war die Mehrheit der deutschen Öffentlichkeit (68 Prozent) gegen Reparationszahlungen an Polen und die Mehrheit der polnischen Öffentlichkeit (57 Prozent) unterstützte die Forderungen der polnischen Regierung. Interessanterweise befürwortet die Ansprüche in Polen nicht die Generation 60+, also eventuelle Zeitzeugen der deutschen Besatzung bzw. deren Kinder, sondern die Altersgruppe von 25–34 Jahren (67 Prozent), also eine Generation der Enkelkinder der Kriegsopfer. Man könnte sagen, es ist die Generation der „Versöhnung” und der „Stabilisierung der nachbarschaftlichen Beziehungen”. Begründet scheint in diesem Zusammenhang die Frage: wie werden die nächsten Generationen reagieren? Vielleicht wird aus Überdruss an der Geschichte eine Generation der Aufruhr heraus wachsen, die der Vergangenheit insgesamt den Rücken kehrt.

Foto: Felix Mittermeier, die Quelle: pexels;

Drittes Beispiel: Imagetrick „Jetzt sind wir dran!”

Vor zwanzig Jahren, hat Marcin Zaremba im Zusammenhang mit der Machtübernahme durch die Kommunisten in vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschrieben, dass damals die Vergangenheit neu erfunden und entsprechend präpariert werden musste. Ich bin von einfachen, direkten Vergleichen mit der Gegenwart weit entfernt, wenn man aber der Auslegung von Anna Wolff-Powęska [„Przegląd Polityczny”, Nr. 168, 2021] folgt, wird in diesem Sinne auch heute versucht, das Wissen und institutionelle Strukturen vollständig umzugestalten.

Es werden neue Institutionen gegründet, deren Leitung neue Eliten mit festen Intentionen und Mechanismen eines modernen, als scheinbare Konzilianz verkleideten Backlash übernehmen. Eines der Beispiele kann die seit 2018 geführte sanfte Programmpolitik der Berliner Niederlassung des Pilecki-Instituts. Einerseits werden im Institut medienintensive Programme und Stipendien in moderner Form angeboten. Andererseits – wird mit dieser Strategie die Taktik verfolgt, alles abzulehnen (auszutilgen), was bisher in der Forschung und in der Vermittlung der Geschichte und Didaktik geleistet wurde.

Im Juni 2020 erschien der vierte (letzte) Band des weltweit zweiten bilateralen, von einem Team der polnischen und deutschen Historikern und Didaktikern für den Verlag WSiP [Schul- und Pädagogischer Verlag] erarbeiteten Schulbuches für Geschichte „Europa. Unsere Geschichte”. Diese Nachricht elektrisierte Bildungskreise in Europa und Ostasien.

Einmalig war die Tatsache, dass das Lehrbuch in Zusammenarbeit der Regierungen beider Staaten, innerhalb von knapp zwölf Jahren gemeinsamer Arbeit entstand – das bedeutet, dass in Polen das Projekt durch unterschiedliche politische Koalitionen und von der zivilgesellschaftlichen Seite durch die  Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission betreut wurde. Aus polnischer Perspektive war es ein unumstrittener Erfolg, dass das Lehrbuch den deutschen Lehrkräften und Schüler:innen Wissen über Polen und Osteuropa liefert, das bis jetzt stark vernachlässigt wurde oder gar keine Beachtung fand. Der französische Historiker Etienne François stellte fest, dass das deutsch-polnische Schulbuch die deutsch-französische Pionierleistung glatt übertrifft.

Die Herausgabe des Schulbuches wurde Anfang Dezember 2020 in der polnischen Ausgabe der Deutsche Welle öffentlich verkündet, und bereits am 4 Dezember hat die polnische Nachrichtenagentur PAP ein Gespräch mit Hanna Radziejowska, Leiterin des Pilecki-Instituts veröffentlicht, die mir nichts, dir nichts verkündet hat, dass gerade eben Forschungen am Geschichtsbewusstsein der deutschen Jugend aufgenommen wurden, die „eine Diskussion über den deutschen Geschichtsunterricht” anstoßen sollen. Die zeitliche Koinzidenz des Interviews und der Erscheinung des Schulbuches „Europa. Unsere Geschichte” scheint symptomatisch. Gleiches Schema der Äußerungen verfolgte die Leiterin der Berliner Niederlassung des Pilecki-Instituts bei ihren polnischen und deutschen Presseterminen.

Nicht ohne Bedeutung ist hier womöglich auch die Tatsache, dass das Lehrbuch zwar in Deutschland (bis auf Bayern) zum Unterricht schon vor einem Jahr zugelassen wurde, in Polen aber das Ministerium für Bildung und Wissenschaft, entgegen den Abläufen und bilateralen Vereinbarungen, immer noch keine Entscheidungen trifft. Aus Sicht der Leitung des Pilecki-Instituts sind die Errungenschaften des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes im Bildungsbereich, des Weiteren die einmalige Zusammenarbeit zwischen Warschau und Berlin oder Sachsen und Woiwodschaft Niederschlesien oder hunderte Projekte im Bereich der Geschichte auf der schulischen und kommunalen Ebene nicht existent. Anstatt das Feindbild zu kreieren, wird künstlich die Leere erzeugt und… die Aufgabe formuliert, diese Leere zu füllen.

Pointe

Das Spiel „Der Deutsche – der ewige Feind” bringt immer noch Imagegewinne für die Regierungskoalition in Polen. Die Abhandlung der Frage, warum es in Deutschland so moderate Folgen nach sich zieht, oder welche Leichen im Keller des eigenen Geschichtsbewusstseins unsere westlichen Nachbarn haben, würde eines eigenständigen Beitrags bedürfen.

In Polen haben weder die Liberalen, noch die liberalen Konservativen, noch die Linken einen Plan für eine alternative Interpretation der Geschichte. Liberal-linke Idee des Dialogs (zum Beispiel Chantal Mouffe) verliert gegen den starken Archetyp des Feindes nach Carl Schmitt, der so gern durch konservative, u.a. um die Zeitschrift „Teologia Polityczna” versammelten Kreise bevorzugt wird. Im Kontext der polnisch-deutschen Beziehungen ist es kein gutes Vorzeichen.

Die Strategie des „Feindes” wird auf günstigen Boden fallen. Über 60 Prozent der in lebendiger Erinnerung verbleibenden Orte der gemeinsamen Geschichte, also solcher Orte, die unsere Entscheidungen und Identitätswahrnehmung beeinflussen, beziehen sich sowohl in Deutschland als auch in Polen auf den Zweiten Weltkrieg und dessen direkte Folgen. Daraus ergibt sich, dass noch mindestens ein halbes Jahrhundert lang – bis die Enkelgeneration das Zeitliche segnet – die Themen rund um den Zweiten Weltkrieg hin und wieder ins Zentrum der öffentlichen Debatte rücken und die politische Szene aktiv polarisieren können.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

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Polen ist in Europa für niemand ein Partner

Ein Interview mit Jana Puglierin. Von Jakub Bodziony · 24 January 2022

Polen hätte einen wesentlich größeren Einfluss auf das Geschehen in der EU, wenn es sich wirklich in die Arbeiten an deren Agenda engagieren würde. Es bedeutet absolut nicht, dass Polen mit allem einverstanden sein und eine servile Einstellung gegenüber Deutschland einnehmen sollte. Leider kann momentan die Regierung in Warschau für niemand ein Partner sein, denn sie zeigt kein konstruktives Engagement.

Jakub Bodziony: Die antideutsche Rhetorik gehört zu den Grundlagen der polnischen Außenpolitik. Das gehört zum innenpolitischen Kalkül und taucht mehrmals in den Aussagen im Regierungslager sowie im Narrativ der regierungstreuen Medien auf. Wird dieses Phänomen in Berlin wahrgenommen? 

Jana Puglierin: Sicherlich wird das wahrgenommen und die deutsche Regierung ist deswegen besorgt. Vor 2015, insbesondere wenn man die soziale Ebene betrachtet, verbesserten sich die Beziehungen zwischen Polen und Deutschen. Aufmerksam beobachte ich die Arbeit von Agnieszka Łada von dem Deutschen Polen-Institut in Darmstadt. Der Stimmungsbarometer, den sie in jener Zeit veröffentlichte, war ein Beweis dafür, dass diese Verhältnisse immer stabiler wurden. Es kamen sehr positive Kontexte und Empfindungen durch.

Ihre neuesten Studien geben Ergebnisse des Narrativs wider, das vom Regierungslager kommt. Die Verhältnisse verschlechtern sich auf allen Ebenen. Es geht nicht nur um die Beziehungen zwischen den Regierungen, sondern auch darum, wie viele Polen heute Deutschland wahrnehmen.

Hat sich auch die Wahrnehmung der Polen in Deutschland geändert? 

Mit Sicherheit, obwohl wir kein Spiegelbild dessen beobachten, was in Polen passiert. Die Maßnahmen der polnischen Regierung oder das vor kurzem gefällte Urteil des Verfassungsgerichtshofs werden in Deutschland breit diskutiert, doch die deutsche Regierung hält sich mit der Kritik der polnischen Behörden zurück.

Derzeitig ist kein polnisches Narrativ von Seiten der Regierung festzustellen, es kommen aber sehr viele kritische Beiträge in der Presse. Wir beobachten diese allgemeine Verschlechterung in den deutsch-polnischen Beziehungen.

Wirkt sich das direkt auf die deutsche Polenpolitik aus?

Dieser Einfluss ist recht subtil. Insbesondere setzte die Kanzlerin Angela Merkel auf Dialog und wollte Konfrontation vermeiden. Ihr Verhalten war auch ein Teil der langjährigen Tradition der Bundesregierung, die sich mit der Kritik Polens zurückhielt.

Die Frage der deutsch-polnischen Beziehungen wird in Berlin immer noch als sehr heikel gesehen. Eben deswegen nutzt Deutschland seit immer Brüssel als Mittelsmann, wenn es darum geht, Kritik etwas offener zu kommunizieren. Bedenken werden gegebenenfalls bei bilateralen Begegnungen, hinter verschlossenen Türen, geäußert. Bisher wurde schwerpunktmäßig versucht, Polen erneut einzubinden.

Der künftige Kanzler wird der Sozialdemokrat Olaf Scholz. Was bleibt von dem Narrativ übrig, das von der Christdemokratin Angela Merkel vertreten wurde? 

Ich glaube, Scholz wird gegenüber Polen sehr pragmatisch sein, was dabei helfen soll, eine Lösung zu finden, bei der weitere Vereinsamung Warschaus verhindert wird. Die Rolle des deutschen Kanzlers besteht darin, auf Inklusion zu setzen und Brücken zu bauen  – Scholz ist sich dessen bewusst.

Was aber die ganze Koalition angeht, dann glaube ich, dass sich die Sprache und die Einstellung ändern werden. Die Grünen, die mit der EU zusammenarbeiten, äußerten sich schon seit einiger Zeit kritisch über Warschauer Regierung. Ihre Rolle als Opposition war es, deutsche Regierung wegen der nicht genug entschlossenen Reaktion zu kritisieren.

Wird sich ihre Position ändern, wenn sie in der Regierung sind? 

Sie werden zumindest innerhalb der Koalition Druck auf mehr Entschlossenheit in der Ausdrucksweise ausüben und anregen, sich den Problemen zu stellen und sie nicht auszusitzen. Die Grünen möchten sicherlich, dass Deutschland ihre Rolle in der UE effizienter nutzt.

Die Liberalen von der FDP werden, als zweiter Koalitionspartner, sicherlich die Bedeutung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit betonen. Der neue Kanzler wird versuchen, diese Positionen in Gleichgewicht zu bringen, aber Deutschland wird ganz bestimmt weniger Geduld aufbringen als jetzt.

Ich glaube, dass es zu einer stärkeren Abkühlung der Beziehungen zu Ungarn kommen kann. Früher gab es zwischen der Bundeskanzlerin Merkel und Viktor Orbán eine zusätzliche Schnittstelle – Europäische Volkspartei. Nun hat Scholz diese Beschränkung nicht, vielleicht deswegen kann er entschlossener gegen Budapest vorgehen.

Bleiben wir für eine Weile Halt bei dem deutschen Pragmatismus stehen. Die PiS-Regierung führt zur Schwächung der polnischen Position in Europa. Ist es Berlin nicht günstig? Wenn Warschau partnerschaftliche Beziehungen fordert, muss Deutschland polnische Interessen berücksichtigen. Jetzt kann sich Berlin auf rituelle Entschuldigungen für schwierige Geschichte beschränken und sein Ding pragmatisch weitermachen, wie es im Falle von Nord Stream 2 ist. 

Selbstverständlich wird die Bundesregierung keinen Wahlkampf für polnische Opposition machen, mit scheint es aber selbstverständlich, dass Deutschland lieber ein Polen bevorzugen würde, das wir aus der Zeit vor 2015 in Erinnerung haben – in der Rolle eines Partners.

Damals wurde die Zusammenarbeit im Rahmen des Weimarer Dreiecks stark betont. Jetzt hat dieses Format seine Funktion gänzlich verloren. Im Rahmen der Europäischen Union sehen wir kein konstruktives Engagement Polens. Nicht einmal bei den Projekten, bei denen man Warschau sehr bräuchte und wo Warschau Deutschlands Unterstützung bekäme.

Zum Beispiel? 

Meine Schwerpunkte sind Sicherheit und Verteidigung. „Strategischer Kompass”, den wir jetzt entwickeln, ist ein Projekt, welches während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft gestartet wurde und während der französischen Ratspräsidentschaft endet. Das Ziel besteht darin, der EU ein Narrativ vorzuschlagen, wie sie zum Akteur in Sicherheitsfragen werden und die einzelnen Mitgliedstaaten verteidigen könnte. Uns begegnete enormer Widerstand Polens. Viel größerer, als es etwa bei den baltischen Staaten der Fall war.

Weil es eine Schwächung der NATO ist?

Ich verstehe die Kritik betreffend Aufbau eines NATO-Duplikats. Genauso verstehe ich Kontroversen um die Souveränität der jeweiligen Staaten. Es geht mir aber darum, dass wir hier nur Kritik ernten. Weder alternative Ideen, noch die Bereitschaft, an solchen zu arbeiten.

Durch das Gebaren der polnischen Regierung steht Deutschland zwischen den Fronten und kann nicht viel machen. Wenn wir die Kraftverteilung in Europa betrachten, würde es Berlin schon daran liegen, einen starken Partner wie Warschau zu haben. Leider ist momentan die Regierung in Warschau nicht in der Lage, partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen, da sie kein konstruktives Engagement zeigt.

Naja, aber jetzt braucht man sich mindestens wegen der Meinung in Warschau keine Sorgen zu machen. 

Wir können reden, dass es nun Deutschland einfacher hat, dass die Entscheidungen und die Worte polnischer Politiker es erleichtern, wenn man ihnen die Niederlage zu Lasten legt. Ich halte es aber für kurzsichtig. Sie haben Nord Stream 2 erwähnt… Persönlich bedaure ich diese Entscheidung sehr. Das war ein großer Fehler.

Dieses Projekt stellt in Polen die Achse bei fast jedem Gespräch über deutsch-polnische Beziehungen dar. In einer jeden Expertendiskussion wird die zweite Linie dieser Gaspipeline erwähnt und es wird argumentiert, dass Absprachen mit Moskau gegen die Interessen Polens und der gesamten UE getroffen werden. 

Eben deswegen glaube ich, dass es so schädlich war. Selbstverständlich lag die Entscheidung letztendlich bei Angela Merkel, aber ursprünglich war es die Idee der Sozialdemokraten von der SPD, die bis heute nicht in der Lage sind, dieses Projekt zu kritisieren.

Und nun kommt die SPD zurück an die Macht.

Ja, ich glaube, es wird eine weitere Komplikation zwischen Berlin und Warschau darstellen. Viele Personen befürchten in Deutschland, dass PiS nicht die Absicht hat, die Lage zu deeskalieren. Das lässt den Deutschen nicht viel Spielraum übrig. Wir haben das Gefühl, dass die Regierung in Warschau von Tag zu Tag radikaler wird und das ist ein Grund zur Sorge. Unter Merkel war die Akzeptanz für einen weiteren Austritt aus der Union ein Tabu, deswegen konkurrieren hier zwei Ansätze.

Einerseits gibt es das Narrativ über die proeuropäische polnische Gesellschaft. Ein Teil der Beobachter nimmt an, dass sich die PiS-Partei wegen ihres EU-skeptischen Narrativs u.U. einer Wahlniederlage nähern kann. Andererseits gibt es auch solche, die starkes antideutsches und antieuropäisches Narrativ erkennen. Sie erinnern daran, dass alle geglaubt haben, in Großbritannien würde letzten Endes der Verstand gewinnen. Dem war nicht so.

Wird ein Narrativ in der Politik lange genug wiederholt, entsteht die Gefahr, dass es sich endlich beheimatet. Es wird befürchtet, dass Polen abspringt. Die Menschen sind richtig besorgt.

Und welche Antworten darauf gibt es?

Eine Antwort besagt, dass man die polnische Regierung nicht übermäßig kritisieren soll, denn damit werden europafreundliche Polen antagonisiert. Laut der zweiten erwartet die europafreundliche Gemeinschaft eine Intervention in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Justizreform usw.

Welches dieser Narrative hat momentan Oberhand?

Die Diskussion darüber, welche Einstellung gegenüber der jetzigen Regierung in Polen anzunehmen wäre, dauert immer noch an. Alle überlegen, wie man die polnische Opposition unterstützen sollte, damit es nicht als direkte Einmischung in die polnische Politik wahrgenommen wird.

Wir haben unlängst eine Debatte organisiert, in der wir nachgedacht haben, ob Polen u.U. Recht haben kann. Auch in Deutschland gibt es Menschen, die nicht der Auffassung sind, das Urteil des polnischen Verfassungsgerichtshofs würde sich stark von den früheren Urteilen der deutschen Gerichte unterscheiden. Diese Diskussion wird auch unter den Wissenschaftlern geführt. Können wir Polen mindestens teilweise Recht geben, oder wird damit eher das Narrativ von PiS bekräftigt. Es ist eine sehr rege und schwierige Diskussion.

In der polnischen Politik gibt es zwei allgemeine Konzeptionen betreffend Polen in Europa. Die erste wurde durch die frühere Regierung vertreten, sie ging von einer Zusammenarbeit mit Frankreich und Deutschland aus und zielte auf den Versuch ab, in der ersten Liga zu spielen. 

Die PiS-Partei schlägt eine alternative Idee vor. Sie behauptet, Polen hätte früher servile Stellung gegenüber Westen eingenommen. Nach Auffassung der Regierung sollten wir eine eigene Koalition aufbauen und sie anführen, denn die Zusammenarbeit mit Deutschland wird immer als asymmetrisch gesehen. Unabhängig davon, wie wir es darstellen, wird sie nie als eine Beziehung von gleichberechtigten Partnern wahrgenommen.

Das von Ihnen Erwähnte umfasst weitere Komponenten aus dem PiS-Narrativ: Polen aus den Knien aufstehend, positive Veränderungen verdrängend, die dank der Zusammenarbeit mit Deutschland im Rahmen der EU erzielt wurden.

Es gibt Gründe, Deutschland dafür zu kritisieren, dass seine Außenpolitik zu wenig inklusionsorientiert war und die Konsultationen zu selten stattfinden. Die Antwort darauf wäre aber konstruktive Arbeit an den deutsch-polnischen Beziehungen. Derzeit führt die polnische Regierung gemeinsam mit Orbán das Lager der Störenfriede an. Sie sind zwar gegen viele Ideen, schlagen aber keine Alternativen vor.

Polen hätte einen wesentlich größeren Einfluss auf das Geschehen in der EU, wenn es sich wirklich in die Arbeiten an deren Agenda engagieren würde. Es bedeutet absolut nicht, dass Polen mit allem einverstanden sein und eine servile Einstellung gegenüber Deutschland einnehmen sollte. Diese Einstellung klang in der Arbeit am vorgenannten „Strategischen Kompass” klar durch. Das Narrativ mit der Botschaft „wir wollen dies und jenes nicht” ist anstrengend. Da kommt nichts mehr, keine weitere Idee.

Foto von mati-foto, die Quelle: pixabay;

Was wäre – in Berlins Augen – das ideale Szenario für Polen?

Ununterbrochen schallt die Sehnsucht nach der Vergangenheit. Nach einer Beziehung, die Deutschland und Polen vor 2015 hatten. Alle erinnern sich daran, als Radek Sikorski in Berlin sagte, er habe mehr Angst vor einem schwachen als vor einem starken Deutschland.

Diese Aussage kehrt auch immer wieder im öffentlichen Diskurs zurück. In den Medien wird dieser Beitrag mit dem Kommentar abgespielt: „Wollt ihr enge Zusammenarbeit mit Deutschland? Dann wollt ihr bedingungsloses Lob auf Deutschland”. 

In seine Rede hat er aber Deutschland nicht gelobt. Es war auch kein Ausdruck des Gehorsams. Im Gegenteil, Sikorski kritisierte Deutschland für den unzureichenden Führungseinsatz in Europa.

Es war eine Zeit, als Polen wesentlich mehr Einfluss in der Union hatte. Es arbeitete eng mit der schwedischen Regierung an der Ausgestaltung der Ostpartnerschaft zusammen. Polen wurde als geschätzter Partner für die Entwicklung von diversen Strukturen wahrgenommen und nicht als ein Land, das diese nur demontiert. Ich weiß aber, dass es unrealistisch wäre, die Rückkehr zu dem vorzuschlagen, was es einmal gab. Ich hoffe nicht darauf, dass Radek Sikorski erneut in der Regierungsbank sitzt, da stimmte etwas in der deutsch-polnischen Beziehung nicht. Sonst wäre PiS an die Macht nicht gekommen.

Das heißt? 

Ich weiß, dass Jarosław Kaczyński sein politisches Kapital nicht mit der Außenpolitik gemacht hat, dass der Schwerpunkt innenpolitisch, in der Sozialpolitik gesetzt wurde. Dennoch zeigt es uns, dass unsere deutsch-polnischen Beziehungen neu gedacht werden müssen.

Das Problem liegt in der enormen Polarisation, die sich in Polen breit gemacht hat. Hier hoffen alle auf einen Sieg von Donald Tusk. Gleichzeitig weiß ich, dass es für die Hälfte der Polen das schlimmstmögliche Szenario ist. Das führt dazu, dass die Lage so kompliziert ist, und zwar nicht nur für Deutschland, aber auch für alle anderen europäischen Länder. Man muss über Polen wie über ein zweigeteiltes Land denken. Jetzt haben wir in Wirklichkeit zwei Polen.

Man kann eine Verständigung mit einem Lager aufbauen, aber man muss damit rechnen, dass dies den völligen Verlust dieses zweiten Lagers bedeutet. Ich würde mir sowohl für mich als auch für Polen jemand wünschen, dem es gelingt, diese zwei Gruppen aufgrund konstruktiver Zusammenarbeit und nicht der weiteren Destruktion zu vereinen.

Das könnte dazu führen, dass Polen wieder zu einem bedeutenden Player in Europa wird. Polnische Agenda könnte auf konstruktiver Kritik vieler Bestandteile der Union stützen. Ich hoffe, dass es in der europäischen Struktur Platz für eine solche Vielfalt gibt. Sicherlich gibt es aber keinen Platz für Anfechtung fundamentaler Ansätze, die die Mitgliedstaaten verbinden. So ein Modell läuft nicht zum Vorteil von Warschau.

Und wenn sich die Lage nicht ändert oder wenn sie in eine noch schlimmere Richtung eskaliert? Wird Polen als Leiter im Lager der Europaskeptiker belassen und aus der weiteren Integration ausgeschlossen, die dann unter den übrigen Mitgliedstaaten erfolgen könnte?

Ich glaube, dass in der Zukunft die Integration auf diversen Ebenen in kleineren Gruppen von Staaten erfolgen wird. Nicht nur aus Polens Verschulden. Von einem EU-Ausschluss Polens ist nicht die Rede, das muss klar gesagt werden. Ebenfalls glaube ich nicht, dass es einen juristischen Mechanismus gibt, Polen zum EU-Austritt zu zwingen, wenn sich die polnische Regierung entscheidet, in der EU bleiben zu wollen.

Seit Langem leben wir mit radikalisiertem Ungarn. Das wirkt sich auf das ganze EU‑Projekt aus und es muss an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Wo es möglich sein wird, wird sich die Integration in kleineren Gruppen entwickeln, das wird geschehen. Wären solche Initiativen im Sinne der Verträge nicht zulässig sein, dann würden sie sich außerhalb des EU-Rahmens entwickeln.

Deutschland liegt es daran, die EU als Ganzes aufrechtzuerhalten. Sollte es aber nicht gelingen, die jetzige Arbeitsweise der EU aufrechtzuerhalten, dann muss nach neuen Lösungen gesucht werden. In einigen Bereichen ist es schon Realität – Urteile polnischer Gerichte werden durch Gerichte anderer Mitgliedstaaten nicht anerkannt. Wenn das Vertrauen in die mit Polen abgeschlossenen Verträge anfängt zu bröckeln, wird es sehr ernste Konsequenzen haben.

Wie wird in Deutschland die Krise an der polnisch-belarussischen Grenze kommentiert? Polnische Regierung bekräftigt, dass sie die EU-Außengrenze und indirekt auch die deutsche Grenze schützt. Gleichzeitig weigert sie sich, EU-Unterstützung, die in Polen als die deutsche Unterstützung gesehen wird, anzunehmen, um zu zeigen, sie brauche die Europäische Union nicht. Eine internationale Krise wird wieder einmal in das innenpolitische Narrativ eingespannt. 

Momentan gibt es in Deutschland viel Sympathie gegenüber Polen, das sich einer vom belarussischen Diktator hervorgerufenen Krise stellen muss. Den Menschen ist es bewusst, dass die Migranten nach Minsk einfach geholt werden. Damit werden die Menschen zu Gegenständen gemacht, die gegen Polen und gegen die gesamte Europäische Union eingesetzt werden. Gleichzeitig wird auch gesehen, dass die polnische Seite zu Pushbacks zurückgreift und diese Menschen nach Belarus zurückdrängt.

Das wird als ein Problem der gesamten Europäischen Union verstanden, deswegen versucht auch Deutschland eine Lösung dieser Krise zu finden.

Von einer Wiederholung der Migrationskrise 2015 ist allerdings nicht die Rede. 

Europäisches Recht setzt sich diesbezüglich seit Langem mit sehr ernsten, systemischen Problemen auseinander. Ich bedaure es sehr, aber in den letzten paar Jahren haben es immer mehr EU-Länder akzeptiert, dass ihre Bürger keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen. Die Idee der „Festung Europa” hat sich in vielen Köpfen nach 2015 fest etabliert.

Niemand will die schrecklichen Bilder aus dem Ausland sehen, aber in den westlichen Gesellschaften gibt es sehr viel Angst im Zusammenhang mit der Migration.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

Latest / Auswirkungen von Klima und Pandemie auf die Demokratie

Die EU wird zur Gefahr für unsere Souveränität

Ein Gespräch mit Zdzisław Krasnodębski. Von Tomasz Sawczuk · 24 January 2022

„In der Tat bezahlen wir einen gewissen Preis für unseren internen Konflikt. Diese Teilung ist unsere Schwäche und unsere Gegner spielen uns damit aus. Heute brauchen wir an beiden Seiten Umsicht und kein Spiel mit den Stimmungen” – meint PiS-Europaabgeordnete Zdzisław Krasnodębski.

Tomasz Sawczuk: Europäische Politiker bekunden ihre Unterstützung für Polen im Hinblick auf die Lage an der Grenze zu Belarus. Im Sejm hat sich der Ministerpräsident bei den Partnern für ihre Solidarität gedankt. Ist das ein gutes Zeichen? 

Zdzisław Krasnodębski: Ja, das ist ein gutes Zeichen. Gewissermaßen selbstverständlich. Gefährdet sind auch die Interessen der EU. Obendrein ist diese Migrationskrise bekanntlich anders als die im Süden Europas. Diesmal wurde sie politisch motiviert verursacht und alle sind sich dessen bewusst. Die Migranten kamen an die belarussich-polnische Grenze, da sie durch das Lukaschenko-Regime geholt wurden, der zuvor zivilgesellschaftliches Leben zerstört und Wahlen gefälscht hat.

Geändert hat sich auch die Stimmungslage in der EU. 2015 herrschten unrealistische Vorstellungen von offenen Grenzen. Ich darf daran erinnern, dass Swetlana Tichanowskaja unlängst den Sacharov-Preis des Europäischen Parlaments bekommen hatte. Aus all diesen Komponenten ergibt sich die Unterstützung der EU, die allerdings sehr unterschiedlich ausfällt.

Der Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte, man dürfe Polen und Deutschland bei der Verteidigung der Grenzen nicht alleine lassen. 

Bei Seehofer war die Aussagekraft am stärksten, aber hat war schon immer den Schutz der Grenzen, auch 2015, befürwortet. In Deutschland ist seine Position eher Einzelfall. Die Grünen sind meistens dafür, Migranten aufzunehmen und auf die EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. Die Unterstützung für Polen ist eher verbal und je nach Staat unterschiedlich. In Deutschland ist sie sicherlich geringer als woanders. Die Änderung besteht darin, dass heute die Idee einer aktiven Grenzsicherung öffentliche Akzeptanz findet.

Die EU bietet Polen Hilfe beim Schutz der Grenzen. Warum will Polen die Unterstützung nicht annehmen?

Bis jetzt war kein Bedarf da. Bedarf gäbe es lediglich an finanzieller Hilfe. Zweitens gehört die Verteidigung der Grenzen vorrangig zu Eigenaufgaben des Staates. Drittens sieht es beim Zugangsverbot für die Journalisten in der grenznahen Region ähnlich aus. Auch das wird kritisiert. Wenn man aber Kommentare liest und die Rolle der Medien aus den Anfangszeiten der Krise beobachtet, kann man feststellen, dass es nicht nützlich war. Die Medien haben vielmehr die Gefühle hochgeschaukelt.

Internationales Engagement könnte zu Verschärfung der politischen Krise führen. Vielleicht wird es irgendwann unvermeidlich. Es würde allerdings eine gewisse Einheit in der Einschätzung der Lage von Seiten der Staaten erfordern. Jetzt ist sie vielleicht größer als sonst, aber es ist offen, ob die Konflikte unter den Polen vielleicht doch auch das restliche Europa spalten werden. Die EU ist kein Staat, kein einheitliches politisches Gebilde. Im Gegenteil. Sie erlebt turbulente Spaltungen und wird durch politische Unterschiede erschüttert. Ich weiß somit nicht, ob die Internationalisierung des Konflikts u.U. zur Schwächung unserer Position gegenüber Lukaschenko und Putin führen würde.

Während der Parlamentssitzung hat die Regierung die Gemüter doch selbst erhitzt, vor einer ernstzunehmenden Gefahr gewarnt und der Ministerpräsident Morawiecki hat um Einheit appelliert. In der Praxis sieht das Narrativ der Regierung gar nicht danach aus, als ob man die Lage im Griff hätte. Vielmehr ist die Rede davon, es sei eine Mobilisierung notwendig. Es gibt auch ein Argument, dass soweit Polen Fronten in Brüssel eröffnet hat, wäre eine engere Zusammenarbeit im Rahmen der EU zum Thema Grenze für uns politisch von Vorteil, auch wenn es, wie Sie sagen, nicht notwendig sei.

Die Lage ist ernst, aber momentan haben wir sie im Griff. Der Schutz der Grenze ist eine Aufgabe des Staates. So behält der Staat seine Subjektivität. Bekanntermaßen soll der Staat für den Fall eines hypothetischen Krieges mit Russland davon Gebrauch machen, dass wir NATO-Mitglied sind und sich in einem Bündnisfall gemeinsam verteidigen. Ich glaube aber nicht, nachdem ich die politischen Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten kenne, dass eine Internationalisierung des Problems positive Auswirkungen hätte. Es würde die Position Polens und folglich auch die der EU schwächen.

Ich bin aber der Auffassung, dass die Sitzung des Parlaments ziemlich aufbauend war, denn in der Vergangenheit war das Niveau der parlamentarischen Debatte erschreckend. Jetzt waren sich alle einig, dass es in unserem Interesse liegt, es zu verhindern, Polen zur Migrationsroute oder einem Ort werden zu lassen, an dem die Entwicklungen von den Diktatoren aus dem Osten ausgespielt werden. Ich erkenne die Tragöde von einigen Personen, von den ersten Migranten, die Opfer der Desinformation sein konnten. Heute hat aber die Angelegenheit einen ganz anderen Charakter. Ich glaube nicht, dass Personen, die die polnische Grenze stürmen, nicht Bescheid wüssten. Sie kommunizieren untereinander ausgezeichnet. Also das Signal, die Grenze wäre offen und man kann versuchen, über Polen nach Deutschland und in andere Länder zu gelangen, würde die Lage in Polen und schließlich in der ganzen EU vollständig destabilisieren.

Und ist die Ablehnung einer Unterstützung parteipolitisch motiviert – um zu zeigen, dass das Regierungslager der ausschließliche Garant der Sicherheit in Polen ist? Das würde zu dem breiter angelegten Narrativ passen, PiS sei eine Partei der Souveränität und Sicherheit  und alle, die daran zweifeln, gegen das polnische Interesse handeln. Wenn die Lage außerordentlich ist, läge es dann nicht in der Verantwortung der Regierung, die Stimmung zu beruhigen und selbst die Hand zu politischen Gegnern auszustrecken?

Ich hatte nicht den Eindruck, dass es sich im Sejm darum ging, einen Gegensatz von Regierung und Opposition herzustellen.

Minister Kamiński hat vom Rednerpult die Opposition angegriffen. Kurz, nachdem Ministerpräsident Morawiecki in seiner Rede zur Einheit aufgerufen hatte. 

Er sagte, man sollte nicht stören. Entschuldigung, aber an der Grenze haben sich beschämende Szenen abgespielt. Da waren zwei First Ladies, ein Abgeordneter, der mit Proviant herumläuft, usw.

In der Tat bezahlen wir einen gewissen Preis für unseren internen Konflikt. Diese Teilung ist unsere Schwäche und unsere Gegner spielen uns damit aus. Soweit es aber darum geht, der Sache eine EU-Dimension zu verleihen und Medien zuzulassen, kommen Fragen des Vertrauens und der gemeinsamen politischen Ziele ins Spiel. Es gab zu viele falsche Nachrichten über Polen. Abscheuliche und weit verbreitete falsche Nachrichten.

Zum Beispiel?

In einem Webinar, das ich in letzter Zeit veranstaltet habe, hat ein Philosoph darüber gesprochen, die Polizei hätte in Polen die Demonstranten brutal angegriffen. Das ist horrend. Oder die „LGBT-freie Zonen”, definiert als Zonen, in die die Homosexuellen keinen Zutritt haben. Das sind allesamt falsche Nachrichten. Das gilt auch für die Situation an der Grenze.

Wir brauchen politische Unterstützung, um diese bemühen uns. Sicherlich sollten wir diplomatische Bemühungen verstärken. Ein Teil der durch die Opposition während der Parlamentsdebatte gemeldeten Bemerkungen hatte wohl Sinn. Sicherlich ist eine inhaltsbasierte Diskussion möglich. Aber bei einem Teil der Opposition kommt auch die Bestrebung, die Verantwortung auf die UE zu übertragen. Die EU wird rituell als magisches Rezept gegen alle Probleme dargestellt. So ist es nicht. Dieser Standpunkt ist irrational und ein Anzeichen des naiven Europäismus. Die Polen sind sehr oft gerne bereit, an die EU in jeder Angelegenheit zu appellieren. Der Stärkung des polnischen Staatswesens dient das nicht.

Der von Ihnen genannte Philosoph meinte wahrscheinlich die Geschichte der weiblichen Abgeordneten, gegen welche die Polizei während einer Demonstration Tränengas eingesetzt hatte. Mit dem Slogan „LGBT-freie Zonen” sollen LGBT-Personen ausgegrenzt werden – es ist klar, dass es sich hier nicht um den physikalischen Zutritt handelt. Kommen wir aber zurück zu dem vom Ministerpräsidenten geäußerten Appell zur Einheit. Gleichzeitig zeigt der Fernsehsender TVP einen Bericht von der Grenze und deutet im Live-Ticker an, die Opposition hätte den Ansturm auf Polen unterstützt. In einer solchen Situation fällt es schwer, Aufrufe zur Einheit ernst zu nehmen.

Polnische Polizei greift außerordentlich sanft. Und ich weiß nicht, was Sie mit der „Ausgrenzung” meinen.

Das Fernsehen ist eine andere Geschichte. Ich bin kein großer Fan der polnischen öffentlich-rechtlichen Medien bis auf TVP Kultura. Aber um sich ein Bild zu machen, schalte ich auch die andere Seite ein – sie ist noch stärker verbissen.

Man kann doch PiS von den öffentlich-rechtlichen Medien nicht trennen. Das ist die zentrale Komponente der Politik der jetzigen Regierung. 

Meines Erachtens gibt es die Frage der Verletzung des grundlegenden Vertrauens zwischen den politischen Gruppierungen in Polen – nach den Szenen an der Grenze und in anderen Angelegenheiten; wegen dem beschämenden Niveau einiger Abgeordneten, die Happenings veranstaltet haben.

Herr Professor, ich spreche über das politische, aus Steuergeldern in Milliardenhöhe finanzierte Räderwerk und Sie kommen wieder auf den Abgeordneten mit einer Tüte zurück. Es ist wirklich eine andere Dimension, ich kann es kaum glauben, dass Sie es nicht bemerken.

In die gegen die Regierung gerichtete Propaganda wurden auch Milliarden Zloty oder Euro investiert. Also ich würde diese Aktivitäten nicht unterschätzen. Wobei ich nicht ausschließe, dass die Motivation in einigen Fällen aus dem abstrakten Humanismus kommen könnte, aus den im Grunde genommen edlen Beweggründen, die jedoch keineswegs Wirklichkeitsbezug haben.

Manchmal muss man harte Entscheidungen treffen und sich nicht von Emotionen leiten lassen, die in der heutigen Politik leider enorme Rolle spielen. Diese Emotionen spielen auch Putin und Lukaschenko aus. Ich darf an dieses berühmte Foto eines toten Jungen am Strand aus dem Jahr 2015 erinnern… Aus verständlichen Gründen erregen solche Bilder eine Welle des Mitleids und der Empathie und führen zu Entscheidungen, die der Lösung des Problems nicht dienen.

Heute brauchen wir an beiden Seiten Umsicht und kein Spiel mit den Stimmungen. Das ist sehr schwer bei einem internen Konflikt zu erreichen, der seit sechs Jahren dauert. Aber im Gegensatz zu Ihnen würde ich die Situation eher positiv einschätzen. In einer existenziellen Gefährdungssituation, nicht in der ersten, denn Pandemie war in dieser Dimension ähnlich, auch wenn es mühsam voranschreitet, finden wir eine gemeinsame Sprache. In solchen fundamentalen Fragen kann man noch einen Konsens finden, obwohl es schwierig ist insbesondere mit all diesen Abgeordneten und Celebrities an der Grenze, die jede Gelegenheit nutzen, um Verwirrung zu stiften.

Es fällt wirklich schwer, es ernst zu nehmen, wenn bei einer jeden Antwort auf die Frage nach der Politik der Regierung das Celebrities und Sterczewski, der nicht einmal Mitglied der Bürgerplattform ist, auf den Plan gerufen werden.

Irgendjemand hat ihn ausgesucht und auf die Liste gesetzt. Außerdem war er nicht der einzige – an der Grenze waren auch andere zu sehen. Einige Äußerungen im Sejm hatten auch einen ähnlichen Charakter – den eines Happenings.

Ich habe den Ministerpräsidenten und die Minister erwähnt und Sie reden von den Celebrities. Können wir bei den Vergleichen auf vergleichbarem Niveau bleiben? 

Sie wissen sehr wohl, dass die Opposition die Straße und die Celebrities ausgenutzt hat. Und ich meine hier auch einige Abgeordnete und andere Politiker der Opposition.

Gehen wir weiter. Das Thema der Grenze wäre ein Hinweis darauf, eine normale Zusammenarbeit zwischen Warschau und Brüssel sei möglich. Warum ist das eigentlich nicht alltäglich? In der jüngsten Zeit kamen von den Vertretern des Regierungslagers viele schlicht und ergreifend EU-feindliche Aussagen. Da hat etwa der Abgeordnete Suski gesagt, wir leben unter Brüsseler Besatzung. Warum ist ein solches Denken im Regierungslager vertreten? 

Legen wir die Rhetorik beiseite. Zum Glück fragen Sie nicht nach konkreten Äußerungen, sondern nach allgemeiner Einschätzung. Diese ist in der PiS-Partei vertreten, mehr noch – ich teile sie. Das kann ich gerne erläutern, ohne Wörter zu benutzen, die breite Wellen bei den Wählern schlagen und mit Wucht in die Medien kommen, wie „Besatzung”…

Halten wir jedoch fest, dass die Wörter ihre Bedeutung haben und Konsequenzen auslösen.

Selbstverständlich haben die Wörter ihre Bedeutung. Genauso so wie das Verhalten vom Abgeordneten Sterczewski und vielen anderen.

Das stützt auf unserer Einschätzung der Beziehungen mit der EU. In diesen manchmal übertriebenen, manchmal zu dick aufgetragenen Worten, steckt die Überzeugung, dass die europäische Integration nicht im Sinne der Verträge verläuft. Sie führt dazu, die Rolle der Mitgliedstaaten zu schmälern und bei einigen Ländern, darunter Polen, führt sie zur Einmischung in die internen Angelegenheiten. Somit wird die EU zur Gefahr für unsere Souveränität.

Selbstverständlich passiert es so, dass die in Brüssel getroffenen Entscheidungen, auch wenn sie Polen kurzfristig nicht passen, langfristig von Vorteil sind. Es sind allerdings Entscheidungen, die in Brüssel getroffen werden und einige Regeln unserer Wirtschaft, Energiewirtschaft usw. bestimmen. – und sind für uns sehr schwierig, häufig mit unserem Interesse nicht vereinbar. Immer stärkerer Eingriff von Seiten der EU weckt immer stärkere Befürchtung, dass wir immer mehr Fremdbestimmung erfahren werden. Die Bestrebung nach Zentralisierung der EU kann zu einer solchen Unterordnung Polens führen, dass unsere Souveränität gefährdet sein wird und es schon jetzt ist. Das hat mit starken Worten der Abgeordnete Suski zum Ausdruck gebracht. Obwohl meine Ansichten zum Thema EU nuancierter sind, teile ich diese Meinung  – und auch deswegen unterstütze ich PiS.

In der letzten Zeit wird die Rechtsstaatlichkeit zum Hauptthema zwischen Warschau und Brüssel. Da stellt sich eine juristische Frage, auf die Sie sich beziehen, inwieweit europäische Institutionen die Arbeitsweise eines Mitgliedstaats mitgestalten können. Es gibt auch eine politische Frage danach, ob andere Mitgliedstaaten gerne damit einverstanden sind, dass immer stärker autoritäre Staaten ein Teil der EU sind. Aber warum könnte man es so nicht einrichten, dass die Gerichte ohne Kontroversen reformiert werden? Alle werden dem beipflichten, dass die Gerichte schneller arbeiten und gerechtere Urteile fällen sollen. Da ist selbst die erste Vorsitzende des Obersten Gerichts Prof. Manowska, von der man doch nicht behaupten kann, sie würde die Einstellung der Opposition mittragen, der Meinung, jetzige Ausgestaltung des Justizlandesrates sei nicht richtig. Sie hat auch in einem Interview für die Zeitung „Dziennik Gazeta Prawna” angedeutet, sie könne aus Protest zurücktreten, falls der neue Entwurf des Reformgesetzes in Kraft tritt, an dem gerade in der PiS-Partei gearbeitet wird. Gibt es keinen einfachen Weg, das Problem zu lösen, also Änderungen einzuführen, deren Rechtsmäßigkeit und Übereinstimmung mit guten Praktiken nicht zu beanstanden wären? 

Sie machen eine idealistische Annahme, dass man einen Zustand erreichen kann, in dem sich alle darüber einig werden, was rechtmäßig ist.

Was die Erfüllung von demokratischen Standards angeht, so könnte man sich wohl in den meisten Fragen wohl einigen. In der Vergangenheit war es häufig so.

Das Recht unterliegt einer Auslegung, es hat Lücken. In der UE sind einige Abläufe völlig unvollendet. Letztens habe ich einen Juristen nach Strafen gefragt, mit denen Polen belegt wurde. Niemand weiß, wie sie beigetrieben werden sollen. Als Donald Tusk für die zweite Amtszeit des Präsidenten des Europäischen Rates gewählt werden sollte, hat es sich doch herausgestellt, dass es keine Verfahren zur Wahl des Vorsitzenden gibt.

Sie reden wie ein philosophischer Skeptiker: man kann nichts richtig wissen, nichts kann wirklich festgestellt werden. Begnügen wir uns bitte nicht mit solchem inhaltsleeren Argument.

Ich wollte nur sagen, dass das Gesetz immer Gegenstand von Kontroversen ist.

Und was ergibt sich daraus? Wir können einfach nach einer Lösung suchen. 

Man sollte eher den Einfluss der Politik auf die Justiz in einer breiteren Perspektive betrachten. Als Donald Trump seine eigene Kandidatin zum Obersten Gericht benannt hat, hatten alle den Verdacht geschöpft, dass sie selbst nach einer Niederlage Trumps den konservativen Standpunkt forcieren und die Ausgestaltung des amerikanischen Rechtssystems beeinflussen wird…

Argumentieren sie also, dass man alles machen und das Gesetz willkürlich auslegen kann?

Erstens zieht man überall vors Gericht und die Urteile hängen von der Weltanschauung der Richter ab. Zweitens ist die Frage des politischen Einflusses auf die Justiz überall kontrovers. In einer jeden Demokratie haben wir das Problem mit dem gegenseitigen Verhältnis der drei Gewalten. Die meisten polnischen Probleme sind nicht nur polnisch.

Sie sagen, man könnte die Reform weniger kontrovers durchführen. Da bin ich mir dessen nicht sicher. Aber auch nach meinem Gefühlt hätten viele Konflikte vermieden werden können. War die Reform gelungen? Sie war eher nicht gelungen, denn die Ziele wurden nicht erreicht. Aus Sicht der Bürger arbeitet die Justiz nicht besser. War sie notwendig? Meines Erachtens ja. Keine andere Regierung hat früher einen solchen Versuch unternommen. Hätte man die Vorwürfe vermeiden können, die Sie nennen? Das darf ich bezweifeln. Die Judikative kann nur politisch reformiert werden.

Ich stelle es überhaupt nicht in Frage, dass Vorwürfe und Kontroversen aufkommen können. Es handelt sich um eine konkrete Situation. Sie sagen, die Reform sei nicht gelungen. Man kann aber sagen, dass es in Wirklichkeit keine Reform gab, es gab allerdings Versuche personeller Säuberungen. Und das ist gelungen. Vielleicht ging es also bei dem ganzen Vorhaben einfach darum, die Richter ein wenig zu knechten – und sie wurden mindestens ein wenig geknechtet. 

Sie sind nicht wirklich geknechtet. Ich habe den Eindruck, das Gegenteil ist der Fall. Politische Benennung schließt die Unabhängigkeit nicht aus. In einigen Ländern wird der Status eines Professors ähnlich definiert – Freiheit der Lehre, aber die Benennung ist politisch.

Aber hier geht es nicht um die Unabhängigkeit, sondern um mehr Einfluss. Da wird etwa das Disziplinarverfahren für Parteizwecke genutzt. 

Ich bin auch der Meinung, dass man die Folgen der Justizreform objektiv bewerten soll. Sie war notwendig, Und über die Folgen kann man diskutieren. Aber die Feststellung, die Disziplinarverfahren nutze man für Parteizwecke, ist eine politische Übertreibung. Leider haben auch einige Richter den Berufsethos eines Richters aus den Augen verloren und sind Politiker geworden.

Sie erwähnten eine Ansicht, die den ersten Protesten der Opposition 2015 zugrunde lag und die für unser Land sehr schädlich ist. Und zwar, dass es sich bei der Reform darum handelte, die Justiz einer Partei zu unterwerfen und dass sich Polen in Richtung Autoritarismus bewegt. Unsere naiven Kollegen aus dem Westen haben es bereits 2015 geglaubt. Es sind Übertreibungen genau wie diese, die wir von den Politikern der Regierungspartei hören. Wenn aber jemand im Europäischen Parlament erscheint und so tut, als ob er George Floyd wäre, aber durch ein Wunder überlebt hätte da er der Ermordung durch die polnische Polizei nur knapp entkommen konnte, dann spielt er recht erfolgreich mit den Emotionen und Klischees. Wenn wir schon am Anfang die ganze Welt lautstark alarmiert haben, Polen wäre eine Diktatur und es wäre schlimmer als zu Zeiten des Kriegsrechts bzw. als in Belarus, dann ist so eine Atmosphäre für umsichtige und wirksame Reformen nicht förderlich.

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Schon möglich, aber Sie machen sich die Aufgabe leichter. Einmal betreiben Sie eine Polemik gegen den „naiven Europäismus”, anstatt die Frage zu beantworten, ein anderes Mal sagen Sie, es gebe politische Spaltungen und alle haben ihre eigenen Interpretationen, deshalb könne man im Endergebnis nichts feststellen. 

Nein, ich sage nur, die Lage ist komplexer und es gibt gewisse strukturelle Probleme, sowohl in der Frage der Justiz als auch in unseren Beziehungen zur EU…

Genau, wieder dasselbe. 

Es geht darum, dass es Probleme betreffend liberale Demokratie und EU gibt, die wir allgemein analysieren sollen. Und dann würden wir womöglich polnische Probleme mit anderen Augen betrachten.

In Ordnung, man kann Probleme allgemein sehen. Nun so kann man sehr schnell von einer Diskussion darüber abkommen, was konkret geschieht. Klar, wenn wir uns auf den Terminus „Autoritarismus” fixieren und binär prüfen wollen, ob Polen autoritär ist, dann können wir sagen, es sei nicht der Fall. Aber als Professor der Soziologie wissen Sie, dass das Thema damit nicht abgehandelt ist. Zwischen einer liberalen Demokratie und einem autoritären System gibt ein ganzes Spektrum von Staatsordnungen, es entstehen auch neue autoritäre Staatsformen wie etwa eine „souveräne Demokratie”.

Dann reden wir über etwas Handfestes. Hat irgendein Europaabgeordneter in einer Polen-Debatte Folgendes gesagt: „in Polen gibt es keinen Autoritarismus, das ist eine Übertreibung, reden wir über Probleme, die es auch in andern Ländern wie Frankreich oder Deutschland gibt?? Das wäre ein großer Erfolg.

Nehmen wir also für den Augenblick an, dass es sich tatsächlich um Missverständnisse, um unterschiedliche Auslegungen handelt. Was macht denn also unsere Diplomatie? Ist es nicht die Aufgabe der Diplomatie, die Situation zu klären und einen Zustand zu erreichen, der für Polen nicht schädlich ist, also z.B. die Einstellung von Zahlungen für unser Land zu verhindern, die wegen Ihrer Meinung nach konstruierter Probleme eingetreten ist? Schläft polnische Diplomatie etwa? 

Ich glaube, die polnische Diplomatie ist dabei, es zu klären.

Dann eher ohne Erfolg.

Wohl ohne Erfolg. Aber warum? Herr Minister Szymański stellt doch diese Probleme im UE-Rat fortwährend klar. Wir erläutern, wir tragen vor, wir übermitteln Unterlagen. Gleiches machen die Außenminister und die Botschafter bei ihren Treffen. Dieser Dialog wird sehr intensiv geführt. Warum klappt das nicht? Glauben Sie nicht, dass es eine psychologische Blockade an der anderen Seite gibt? Oder starke Interessen?

Es gibt auch eine einfache Hypothese, dass man gegen die Fakten nur schwer gewinnen kann: es gibt wirkliche Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit und da helfen keine Erläuterungen. 

Welche Fakten? Sie haben eben gesagt, in Polen gibt es keinen Autoritarismus.

Ich erläuterte ebenfalls, dass ein binärer Ansatz keinen Sinn hat. Man kann sagen, dass es eine Übergangsform zwischen einer Verfassungsdemokratie und dem Autoritarismus ist.

Na eben, seit sechs Jahren steuern wir auf eine Diktatur hin, was vielleicht mit dem Sieg der Opposition endet, und dann stellt es sich heraus, alles sei wieder in Ordnung.

Es muss kein planmäßiges „Hinsteuern“ sein und solch eine hybride Staatsordnung kann über einen längeren Zeitraum bestehen. Das wissen Sie doch. 

Machen wir einen Denkexperiment und Sie werden das Ergebnis in zwei Jahren überprüfen. So war es bereits im Zeitraum 2005-2007. Polen ging dem Verfall entgegen, es war bereits autoritär und dann siegte die Opposition und Polen war ein brillanter Leader der EU. Ich bin zuversichtlich, dass in zwei Jahren, soweit die Opposition die Wahlen gewinnt, alles gut sein wird und es sich auf einmal herausstellt, dass der Autoritarismus vom Tisch ist – obwohl man dann die von PiS gebildete Opposition dämonisieren und ihr nahe stehenden Menschen entlassen und ausgrenzen wird. Das wird aber Rahmen der „Liberalisierung” und „Demokratisierung” Polens erfolgen.

Auf der Ebene der Fakten könnten wir über Details diskutieren. Es ist aber nicht so, dass sich die Europäische Kommission immer an die Fakten hält. Vielleicht nimmt sie manchmal Bezug auf die Fakten. Da möchte ich schon das Europäische Parlament und andere Institutionen außen vor lassen, die sich ihr eigenes Bild der Wirklichkeit malen. Selbstverständlich soll man die Absichten der Regierung besser kommunizieren. Es ist ein schwieriges Unterfangen, denn die Politiker werden durch die Medien beeinflusst und uns fehlten von Anfang an solche Kommunikationskanäle, die der Gegenpartei zur Verfügung stehen. Fast sofort wurden Klischees in Umlauf gebracht, denn in Polen entstand eine konservative Regierung was im modernen Europa nie übermäßig gerne gemocht wird. Hätte diese Reformen eine liberale Regierung durchgeführt, hätte es selbst bei großen Fehlern derartige Reaktion nicht gegeben. Aber ich stimme Ihnen zu, dass es insbesondere 2015 an guter Außenkommunikation fehlte. Und auf der diplomatischen Ebene wurden und werden solche Anstrengungen unternommen. Man darf nicht meinen, dass eine Person wie Minister Szymański auf Konfrontationskurs geht.

Sicherlich ist hier Minister Szymański nicht das Problem. Ich glaube, dass hier zwei Komponenten des Problems vorliegen. Die eine betrifft Fakten. Wenn der Justizminister und der Generalstaatsanwalt alle Richter am Obersten Gericht loswerden will, dann ist dies nicht zu verteidigen und es hilft hier kein Maß an Diplomatie. Es gibt eine Reihe von ähnlichen Fakten, was ich sehr bedaure. Die zweite Komponente ist die Diplomatie. In diesem Bereich hat Polen momentan keine kluge und überzeugende Vertretung. Und das bedaure ich ebenfalls sehr, denn es führt zu schlimmen Konsequenzen für das Land. 

Und warum meinen Sie es so? Nennen wir beispielsweise den Botschafter Wilczek oder den Botschafter Magierowski, Professor Czaputowicz, Minister Waszczykowski, Minister Rau…

Aber innerhalb unserer Regierung hat das Außenministerium keine größere Bedeutung, das wissen alle. 

Ich darf Sie nur daran erinnern, dass in Polen der Posten des Ministerpräsidenten neu besetzt wurde. Beata Szydło, die sehr populär war, wurde vom Ministerpräsidenten Morawiecki abgelöst, der auch um die internationalen Verhältnisse Bescheid wusste und sich gut verständigen konnte – und so wurde er in Brüssel wahrgenommen. Eine längere Zeit lang glaubte man, diese Gespräche bringen was. Es ist kein Mensch ohne Kompromiss- und Gesprächsbereitschaft.

Wenn Sie wirklich wissen möchten, warum ich so denke, dann würde ich sagen, dass es mit der Diplomatie aus zwei Gründen nicht klappt. Erstens verwenden die Politiker des Regierungslagers bei ihren Auftritten im Ausland Idiome aus dem polnischen Kulturkreis und insbesondere Lehnübersetzungen aus dem Sprachschatz rechtskonservativer Medien. Und das wird im angelsächsischen Raum überhaupt gar nicht verstanden. Zweitens geht es um die politische Haltung. Sie sagten, Verstöße gegen die Regeln gebe es überall, überall gebe es Kontroversen usw. Normalerweise folgen aber einem Verstoß gegen die Standards Scham, Entschuldigung oder politische Verantwortung. Indessen verletzt die PiS-Regierung die Regel und ist – übrigens ähnlich wie ihre Gleichgesinnten in der ganzen Welt – stolz darauf. 

Unser Gespräch verläuft problematisch, denn den Polen fällt ein Gespräch insgesamt schwer. Sie leben in ihrer Blase. Es ist ähnlich wie die Feststellung, „wenn wir Mitglied in einem Club geworden sind, müssen wir uns an die Clubregeln halten” oder „wenn wir in die feine Gesellschaft aufgenommen wurden, dann müssen wir uns wie diese feine Gesellschaft benehmen”. Das ist kindisch.

Sie wechseln das Thema, darum geht es nicht. 

Ich erzähle Ihnen eine Anekdote, die zeigt, wie ich die EU, aber auch Deutschland, wo ich fast dreißig Jahre verbracht habe und währenddessen die ganze Zeit in Polen gewohnt und auch gearbeitet habe, sehe. Ich war kürzlich zu einem Mittagessen, bei dem der deutsche EU-Botschafter erzählte, was nach den Wahlen in Deutschland passieren werde. Jemand fragte ihn, ob die Deutschen EU-Anhänger seien. Und er sagte, sie seien es selbstverständlich, aber manchmal findet er es merkwürdig, wenn er nach Deutschland fährt und Bekannte und Angehörige trifft, die ein idealisiertes Bild der EU haben, denn er „habe gerade Brüsseler Schützengraben verlassen”.

Hier in Brüssel geraten einfach unterschiedliche Interessen aufeinander und es wird ein harter politischer Kampf geführt. Es gibt einige Europaabgeordnete, die uns einfach hassen. Sie hassen einen bestimmten Typ des polnischen Wesens. Und es gibt Beamte und Juristen, die Regeln missbrauchen, die Recht beugen. Es gibt weit mehr Länder, in denen gegen die Rechtsstaatlichkeit stärker als in Polen verstoßen wird, durch und durch korrupte Länder, in denen Journalisten umgebracht werden.

Soll das bedeuten, dass man die Regeln missbrauchen darf`? 

Nein, aber es bedeutet, dass wir realistische Optik ansetzen sollen und die Welt in richtigen Verhältnissen betrachten sollen. Ich möchte Ihnen etwas sagen: die Wahl des Präsidenten des Europäischen Parlaments rückt immer näher. Und die schmeicheln sich schon ein, denn wahrscheinlich eben unsere Stimmen entscheiden werden, ob Sassoli für die nächste Wahlperiode gewählt wird, oder ob es jemand von der Europäischen Volkspartei sein wird. Und wissen Sie, da gehört etwa die Aussage von Manfred Weber, er unterstütze den Mauerbau, bereits zu diesem Wahlkampf. Da sollen wir also nichts idealisieren.

Ich idealisiere nicht eine Minute lang. Reden wir zum Schluss über Deutschland. Sie haben erwähnt, dass sie in diesem Land fast dreißig Jahre verbracht haben. Beobachten Sie die Koalitionsverhandlungen? Und welche Erwartungen haben Sie? 

Im Hinblick auf die Lage an der polnisch-belarussischen Grenze, die wir am Anfang besprochen haben, kann man sagen, dass in einigen Fragen unsere Gespräche mit der neuen Regierung wahrscheinlich schwieriger als mit der alten sein werden.

Warum schwieriger? 

In der Klima-, in der Migrationspolitik können wir uns mit den Grünen einig werden, aber insgesamt vertreten sie eine ganz radikale Position. Die Liberalen vertreten einen extremen Standpunkt in Sachen Ethik, indem sie sich auf die Entscheidungsfreiheit berufen und einige Politiker sind Polen abgeneigt. Sie werden die Interessen deutscher Firmen in Polen sehr stark unterstützen und unserer Regierung wegen einiger steuerlicher Ideen zu Leibe rücken. Was SPD angeht, da liegt das Problem in ihren Beziehungen zu Russland. Der Einfluss von Gerhard Schröder ist in der Partei immer noch enorm. Jeder der Koalitionspartner wird eine härtere Position in einigen Punkten vertreten, in denen wir uns unterscheiden. Diese Regierung wird eine stärkere linke Prägung haben.

Selbstverständlich werden wir schauen, wie es in der Praxis aussehen wird. Realpolitik unterscheidet sich ein wenig vom Wahlprogramm. Bekanntlich kann man mit der SPD über historische Fragen besser reden. Die Grünen sehen Nord Stream kritisch und möchten den Staaten der Ostpartnerschaft helfen. FDP ist für weniger Regulierung in der Wirtschaft und wäre auf der EU-Ebene in einigen Fragen günstiger für Polen. Die Rolle Deutschlands in Europa ändert sich auch ein wenig. Jetzt kommt eine Übergangsphase und außerdem werden einige, unter deutschem Einfluss gestaltete Politikbereiche immer stärker kritisiert, wie es z.B. in der Energiewirtschaft beim gleichzeitigen Kohle- und Atomausstieg der Fall ist. Das Problem mit der deutschen Öffentlichkeit besteht darin, dass dieses Land zwischen extremem Idealismus und extremem politischen Brutalismus schwankt. Sie verstehen sich als „moralische Weltmacht”, insbesondere im Verhältnis zu Mittel- und Osteuropa, wo sie gerne als Lehrer auftreten, der einige Muster aufzwingen möchte. Das möchten Sie genauso mit Frankreich machen, aber da fehlen ihnen die Möglichkeiten.

Wir bleiben im Gespräch. Auf der EU-Ebene konnte man mit den deutschen Politikern in einigen Fragen gut zusammenarbeiten – dann aber mit unterschiedlichen Gruppierungen zu unterschiedlichen Fragen. Und da werden wir wohl auf ähnliche Art und Weise mit der künftigen Regierung zusammenarbeiten.

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Herausgegeben aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.

Latest / Wie baut man in Belarus eine Rechtsstaatlichkeit auf?

Kunst der Reaktion. Wie soll man im Exil handeln

Katarzyna Skrzydłowska-Kalukin · 9 December 2021

Belarussische Aktivisten, die in Polen wohnen, gewinnen Erfahrungen im demokratischen System. Sie hoffen, dass sie es irgendwann später in ihrem Land machen können. Obwohl sich die polnische Demokratie in einem immer schlechteren Zustand befinde, ist sie ein Muster, an dem gelernt werden kann.

Diana Ignatkova vom Studentischen Kunstverein SOI ist nach Warschau Anfang dieses Jahres gezogen. Der von den Studenten von drei Kunsthochschulen gegründeten Bewegung ist sie noch im März in Belarus, nach gefälschten Präsidentschaftswahlen beigetreten. Die Studenten von SOI sprachen laut darüber, dass sie Kunst frei von Zensur und Unterdrückung schaffen wollen, deswegen wurden viele von ihnen exmatrikuliert. Fast die Hälfte ist ausgereist.

Diana Ignatkova erzählt: „In Belarus hatten wir keinen Ort, an dem wir uns verwirklichen konnten, keine Tools, wir wussten nicht, wie die Fördermittel zu beantragen sind. Erst im Ausland haben wir gesehen, welche Möglichkeiten es in einem demokratischen Staat gibt. Uns wurde schwindelig und wir begannen, Projekte zu realisieren, obwohl es nicht einfach war, nachdem wir die Sprache nicht gut sprechen. Es ist toll, dass wir es machen können, schade nur, dass wir es nicht in Belarus machen konnten.

Diana erzählt über den künstlerischen Aktivismus der Belarussen im Atelier „Großes Wohnzimmer“ in Warschau, wie es bei der Ausstellung „Mit der Kunst gegen das Regime” eines der bekanntesten belarussischen Graphikern Vladimir Tsesler der Fall ist. Gegen das Regime gerichtete Werke bilden eine Kulisse für Begegnungen mit belarussischen Künstlern und Aktivisten. Eine von denen, an der Diana teilgenommen hatte, trägt den Titel: „Kunst der Reaktion” und behandelt die Möglichkeiten des Kampfes in der Zeit, in der alle Mittel der Druckausübung vor Ort ausgeschöpft wurden.

Aktivismus im Exil ist ein Weg, im internationalen Raum zu kämpfen sowie sich auf die Maßnahmen in der Heimat vorzubereiten, wenn es so weit und möglich wird. – Nun können wir das lernen, was wir in Belarus nicht lernen konnten – meint Diana. – Wir können Wissen erwerben, um es dann nach Belarus mitzunehmen und dort die Kultur aus den Ruinen zu heben.

Stasja Glinnik von dem in Warschau aktiven Verein Belarussischer Jugendhub erzählt, wie die Aktivisten im letzten Jahr den Emigranten helfen, in Polen Fuß zu fassen. Sie beraten, helfen materiell, veranstalten Belarussischunterricht für Erwachsene und Kinder.

Es ist mehr als reine Überlebenshilfe. – Diese Menschen haben ihren Kampf nicht aufgegeben, als sie nach Polen gezogen sind – meint Stasja. Sie setzen sich dafür ein, dass Polen und andere Staaten aufhören, Geschäftsbeziehungen mit Lukaschenko zu unterhalten, also keinen Handel mit belarussischen Unternehmen betreiben, dass die Interpol aufhört, Belarussen steckbrieflich zu suchen. Polen unterstützt das Regime nicht, aber, wie Stasja Glinnik feststellt, sehen die Immigranten in den Läden Erzeugnisse aus Belarus. – An den Straßenbahnen in Warschau ist Werbung für die Türen aus Belarus zu sehen, es fahren Busse mit Werbebannern der belarussischen Firmen. Sie verbreiten Angst unter den Belarussen, denn aus solchen Bussen sprangen OMON-Beamte heraus, um die Menschen zu inhaftieren – meint sie.

Gleichzeitig lernen die Belarussen, in einem demokratischen System zu agieren, das sie nicht kannten, bevor sie nach Polen gekommen sind. Stasja Glinnik erzählt: – Für sie ist es neu, dass man eine E-Mail an einen Politiker schicken kann, dass man einen Antrag an die Stadtverwaltung stellen und eine Förderung bekommen kann. Deswegen errichten wir Schulen für zivilgesellschaftlichen Aktivismus, um den Menschen aktives Handeln in einer demokratischen Welt beizubringen.

Sie sollen ihre Programme vorbereiten und die ähnlich agierenden polnischen Aktivisten kennenlernen. Möchten sie sich dafür einsetzen wollen, dass die Möbelhersteller aufhören, Holz aus gerodeten belarussischen Wäldern zu kaufen, werden sie Kontakt zu polnischen Umweltschützern aufnehmen. Werden sie sich wegen Interpol engagieren wollen, dann werden sie die polnischen Menschenrechtler kennenlernen.

– Bei den Protesten gegen die gefälschten Wahlen gingen wir auf die Straßen mit einem Unrechtsgefühl, um das zu verteidigen, was uns wichtig war – sagt Stasja Glinnik. – Aber wir haben nicht daran gedacht, wie unser Land aussehen wird, wenn diese Regierung weg ist. Historische Beispiele zeigen wiederum, dass die Menschen, die in ihrem Land ein Regime stürzen, wissen sollen, in welcher Richtung sie gehen möchten. So soll bei unserer Aktion „Herbst nach den Protesten“ das Geschehene verarbeitet werden und es soll gelernt werden, wie Demokratie funktioniert, wie eigene Vertreter zu wählen sind und was sie verkörpern sollen.

Sie planen also ihre Zukunft da vor Ort, obwohl es schwerfällt, wenn die Wirklichkeit immer mehr Brutalität bringt. Wie Olga Haradschejtschyk-Masjarska aus dem Institut für Belarussische Kultur bemerkt, die seit über 20 Jahren im Exil lebt, beeinflussten die Maßnahmen Lukaschenkos an der Grenze zwischen Belarus und Polen die Lage der Immigranten. – Noch vor einem Jahr, vor sechs Monaten, spürten die Menschen, die von Belarus nach Polen kamen, dass sie wie zu Hause sind, dass sie in Polen verstanden und unterstützt werden und dass hier für ihre Sicherheit gesorgt wird – sagt sie. – Aber das, was an der Grenze passiert, beeinflusst nicht nur die internationalen Beziehungen, sondern beeinträchtigt auch die Einstellung durchschnittlicher Menschen. Ihre Einstellung zu den Belarussen verschlechtert sich. Im letzten Jahr beschäftige ich mich vor allem mit der Hilfe für Ankömmlinge und somit erlebe ich etliche Schicksale mit. Ich höre von Kindern, die an den polnischen Schulen eine schlechtere Einstellung ihnen gegenüber erleben. Vor einem Jahr verstanden die Polen die Immigranten als Personen, die für die Freiheit gekämpft haben, man fühlte mit ihnen, solidarisierte sich und unterstützte sie.

In Folge der Krise an der Grenze und der Propaganda der regierungsnahen Medien und der Politiker selbst wird der Begriff „Immigrant“ für viele pejorativ und dies wird auf die Belarussen übertragen. – Polen hat für uns sehr viel geleistet, mehr als irgendein anderer Staat – meint Olga Haradschejtschyk-Masjarska. – Und ich glaube, dass Polen auch eine Chance bekommen hat, denn hier fand sich die überwiegende Mehrheit der belarussischen Intellektuellen und Künstler ein.

Diana Ignatkova fügt hinzu, dass die belarussischen Künstler idealerweise mit der Optik des Unrechts und des Heldentums in ihrer Heimat, sondern ihrer Kunst wahrgenommen werden sollten. Also wie Künstler und nicht wie Migranten.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

 

Latest / Wie baut man in Belarus eine Rechtsstaatlichkeit auf?

Ist es das Ende der Krise an der polnisch-belarussischen Grenze?

Witold Jurasz und Jakub Bodziony · 9 December 2021

Zur jetzigen Entspannung der Lage an der polnisch-belarussischen Grenze haben die Maßnahmen polnischer Behörden beigetragen, die massenhafte Grenzübertritte durch die Migranten verhindert haben. Mindestens genauso wichtig waren aber diplomatische Bemühungen der EU-Vertreter, darunter die der französischen und der deutschen Politiker.

Sowohl die ausscheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel, als auch der französische Präsident Emmanuel Macron haben mit Wladimir Putin darüber gesprochen und Merkel hat Alexander Lukaschenko zweimal angerufen. Initiativen aus Berlin und Paris haben zu heftigen Reaktionen der polnischen Regierung und eines Teils der Öffentlichkeit geführt. Es hagelte Vorwürfe des Verrats und es wurde auch vorgeworfen, man würde sich über Warschau hinwegsetzen.

Kurz danach ist es an der Grenze doch ruhiger geworden. Die Anzahl der versuchten Grenzübertritte sank und ein Großteil der Migranten wurde durch belarussische Geheimdienste in die eigens hierzu vorbereiteten Lagerhallen abtransportiert.

Dank diplomatischen Bemühungen der Europäischen Union ist es gelungen, Flüge aus Nahosten nach Belarus Großteils zu stoppen. Aus Minsk fliegen nun Maschinen in den Irak und bringen die aus diesem Land stammenden Migranten heim. Gleichzeitig ist die Lage derer, die in Wäldern an der Grenze festsitzen, wegen der winterlichen Kälte und Schnee immer dramatischer. Diese Menschen zwischen den Behörden beider Staaten hin und her zu transportieren, kann für sie lebensgefährlich werden.

Ob es schon das Ende der Krise an der EU- und NATO-Ostgrenze ist, spricht mit „Kultura Liberalna” in einem Videopodcast Witold Jurasz. Nachstehend veröffentlichen wir die gekürzte Fassung dieses Gesprächs.

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Jakub Bodziony: Beobachten wir wirklich das Ende der Krise an der polnisch-belarussischen Grenze? 

Witold Jurasz: Für eine Einschätzung ist noch zu früh, allerdings deutet viel darauf hin. Womöglich werden nun keine neuen Migranten nach Belarus geholt. Doch die Lösung dieser Krise wird darin bestehen, dass Maßnahmen ergriffen werden, bei denen keine der Seiten ihr Gesicht verlieren muss und mindestens einen Teilerfolg verkünden kann.

Worauf sollte dies bei Alexander Lukaschenko beruhen? 

Ein paar Flugzeuge mit Migranten werden wohl noch in Belarus landen, aber der Rest wird wahrscheinlich durch die Grenze geschleust.

Dann ist diese Grenze nicht so dicht, wie es die polnischen Behörden erklären.

Die Deutschen sprechen offiziell über ca. 10 000 Personen, die in der letzten Zeit eingereist sind. Und dann haben einige Migranten ihre Einreise doch nicht gemeldet.

Lukaschenko könnte nur schwer alle Migranten in ihre Heimatländer zurückschicken, denn dann würde er Schwäche einräumen. Die Diktatoren können Vieles, nicht aber eine Niederlage einräumen.

Was wollte der belarussische Machthaber erreichen? 

Es war eine Rache an dem Westen, der die belarussische Opposition nach den gefälschten Walen vom letzten Jahr unterstützt und neue Sanktionen auferlegt hat. Es geht also darum, den Westen zu zwingen, diese Sanktionen ohne Vorbedingung aufzuheben, und bislang war es die Freilassung politischer Gefangenen.

Wenn dieses Handeln von Russland inspiriert wird, können die Ziele weiter reichen: NATO zu testen, Polen als Mitglied des Bündnisses und als eines Staates an der EU-Außengrenze bloßzustellen, den Westen zu Zugeständnissen z.B. in Sachen Ukraine zu zwingen und womöglich russische Streitkräfte in Belarus stationieren zu lassen. Das würde Moskau befähigen, unser Land plötzlich anzugreifen und Kiew einzukesseln. Dieses Szenario ist aber nur wenig wahrscheinlich.

Bis jetzt konnten Belarus und Russland von den vorgenannten Zielen kein einziges erreichen. Nicht unbedeutend ist auch die Tatsache, dass es zu einer Beschleunigung der Integration zwischen Moskau und Minsk gekommen ist. Am 4 November wurde ein Dekret über Integration unterzeichnet, dessen Umsetzung nach Einschätzung vieler Analytiker in der Praxis die Einverleibung von Belarus durch Russland bedeuten würde. Im Vertrag wurden gemeinsame Steuern, Währung und Verteidigungsstrategie vereinbart. Einige Tage nach dessen Abschluss wurde der Höhepunkt des Konflikts an der Grenze überschritten.

Gehen wir nun zur Rolle von Paris und Berlin in diesem Konflikt über. Angela Merkel hat zweimal mit Lukaschenko und Putin gesprochen, den letzteren hat auch der französische Präsident angerufen. Bei den polnischen Behörden und einem Teil der Öffentlichkeit haben diese Schritte zu Irritationen geführt, es wurden auch Vorwürfe formuliert, man verhandle über Polen hinweg. 

Herr Präsident Andrzej Duda hat auch gesagt, dass wir hier keine Vereinbarungen akzeptieren werden, die ohne unsere Beteiligung getroffen wurden. Und wenn diese Vereinbarungen in unserem Sinn sind? Werden wir die Migranten selbst ins Land holen, damit die Krise länger dauert? [Lachen].

Ich weiß nicht, wie man diese Krise lösen wollte, wenn polnische Behörden öffentlich bekundet haben, keinen Kontakt zu Moskau oder Minsk aufnehmen zu wollen. Es tut mir leid, aber Diplomatie ohne Gespräch gibt es nicht.

Amerikaner, Deutsche und Franzosen werden immer Rücksicht auf Russland nehmen. Es ist ein aggressiver Staat, es ist revanchistisch, korrupt und kaputt, aber trotzdem bleibt es eine Weltmacht, die bei vielen Konflikten in ganzer Welt eine Rolle spielt. Polen nicht.

Andrzej Duda stellte im Gespräch mit der Zeitschrift „Tygodnik Sieci” fest, „Diese Gespräche wurden uns gegenüber angedeutet. Wir zuckten schweigend mit den Armen. Wenn jemand reden möchte, dann soll er halt reden”. 

Es stimmt, dass wir informiert wurden. Schade, dass Herr Präsident nicht erläutert hat, wie es dazu gekommen ist, dass der litauische Präsident konsultiert und nicht lediglich in Kenntnis gesetzt wurde.

Unsere Grenze ist die Ostgrenze der EU und der NATO. Es liegt in unserem Interesse, dass es dort nicht zu einer Schießerei kommt, dass da quasi kein Attentat auf den Erzherzog Franz Ferdinand verübt wird, also kein Zwischenfall passiert, der einen Vorwand für weitere kriegerische Auseinandersetzungen liefern würde. Wenn wir die völlig sinnlose antideutsche Kanonade nicht begonnen hätten, hätte vielleicht unsere Position anders ausgesehen.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

 

Latest / Wie baut man in Belarus eine Rechtsstaatlichkeit auf?

Chancen für politische Transformation und erfolgreiche Demokratisierung von Belarus

Pavel Usov · 7 December 2021

Die belarussische Nation hat einen langen und beschwerlichen Weg zur Demokratie vor sich. Diesen Weg zu gehen, wird eine tiefgreifende Mobilisierung und bewusstes zivilgesellschaftliches Engagement erfordern. Dies ist eine notwendige Voraussetzung nicht nur für den Sturz des autoritären Machthabers, sondern vor allem für eine Demokratisierung des Staates im Wege der politischen und wirtschaftlichen Reformen.

  • Den Prozess der erfolgreichen Transformation und der demokratischen Konsolidation werden viele externe und interne politische Einflussfaktoren bestimmen. Bei den wichtigsten von ihnen handelt es sich um: Zustand des politischen Systems in Belarus, Lage der belarussischen Gesellschaft und Opposition, geopolitische Lage während des Machtwechsels und der Systemwende.
  • Ob die Wende erfolgreich verläuft, wird vor allem von der politischen Verantwortlichkeit und Reife der Eilten sowie der Gesellschaft abhängen. Studien, die die unabhängigen Denkfabriken versuchen zu führen, zeigen eine ziemlich komplexe und uneindeutige soziale und politische Landschaft in Belarus.
  • Je tiefer sich das Land in die Integrationsprojekte mit Russland engagiert, desto kleiner werden die Chancen für demokratische Veränderungen. Schon jetzt ist die geopolitische Lage von Belarus sehr gefährlich und für rasche politische Veränderungen im Lande nicht förderlich und darüber hinaus schafft die Ausgestaltung der Verhältnisse mit der Russischen Föderation Voraussetzungen für den Fortbestand des autoritären Systems.
  • Vorausgesetzt, dass Lukaschenko innerhalb von nächsten fünf Jahren gehen wird, kann Kreml ein beliebiges Szenario der Machtwende unterstützen, mit dem autoritäres Regime in Belarus erhalten bleibt, vorausgesetzt, dass sich die neuen Machthaber an Russland orientieren und russische strategische in ihrem Land verteidigen.
  • Rasche und positive Veränderungen in Belarus können dann erfolgen, wenn die strategische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau nachlässt, was bei einer sehr schnellen Machtwende in Belarus, auf die Russland nicht vorbereitet wäre, oder bei innerpolitischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in Russland selbst möglich ist, soweit eigene Probleme (Krise) Russland zwingen, seinen Einfluss in Belarus abzuschwächen.

 

Die belarussische Nation hat einen langen und beschwerlichen Weg zur Demokratie vor sich, gespickt von vielen Herausforderungen, deren Bewältigung eine tiefgreifende Mobilisierung und bewusstes zivilgesellschaftliches Engagement der gesellschaftlichen Mehrheit erfordern wird. Dieses Engagement und Maßnahmen werden nicht nur eine notwendige Voraussetzung nur für den Sturz des autoritären Machthabers, sondern vor allem für eine erfolgreiche Demokratisierung der Staatsordnung im Wege der politischen und wirtschaftlichen Reformen darstellen.

Nach der Regimewende in Belarus wird von grundlegender Bedeutung sein, den Staat und die Gesellschaft nicht in einen permanenten Prozess der Transformationen und innerpolitischen Reibungen fallen zu lassen – was in unterschiedlichem Grade in Georgien, Moldau und in der Ukraine der Fall ist. Wellen von Krisen und inneren Konflikten in diesen postsowjetischen Staaten führen bei den Belarussen zu Befürchtungen und zum allgemeinen Misstrauen gegenüber Veränderungen. Lukaschenko-Regime nutzt wiederum Ängste und Klischees, um die Bürger zu manipulieren und stärkt die Überzeugung, Veränderungen würden unvermeidlich zu negativen Folgen und zur Destabilisierung des Staates, vielleicht sogar zum Bürgerkrieg führen. Eine solche Gefahr darf jedoch nicht ignoriert werden, falls sich die neue Regierung in Belarus in Korruption und interne Intrigen verwickeln sollte. Beim Prozess einer permanenten Transformation (Lähmung der Institutionen, andauernder Regierungswechsel) bliebe Belarus in der „Grauzone” und gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krisen könnten die Gefahr des politischen Revanchismus von Seiten des autoritären Systems von Alexander Lukaschenko mit sich bringen.

Den Prozess der erfolgreichen Transformation und der demokratischen Konsolidation werden viele externe und interne politische Einflussfaktoren bestimmen. Am wichtigsten sind hierbei: 1) Zustand des politischen Systems in Belarus, 2) Lage der belarussischen Gesellschaft und der Opposition, 3) geopolitische Lage während des Machtwechsels und der Systemwende.

Die vorstehend genannten Faktoren werden weitgehend darüber entscheiden, ob Belarus tatsächlich vom autoritären Machtsystem zur stabilen demokratischen Staatsordnung wechselt, oder im Lande Prozesse stattfinden, die letztendlich in eine autoritäre interne Machtübergabe münden.

Ob die Wende erfolgreich verläuft, wird vor allem von der politischen Verantwortlichkeit und Reife der Eilten sowie der Gesellschaft abhängen. Einerseits weckt das Erwachen der Gesellschaft im Jahre 2020 Hoffnung, dass die Belarussen enormes Verlangen nach Demokratie im westlichen Stil behalten und sich nicht zu einer russischen „souveränen Demokratie” umorientieren. Andererseits bleibt die belarussische Gesellschaft immer noch dabei, sich national zu konsolidieren und ihrer geopolitischen Bedeutung, der politischen Werte bewusst zu werden, sowie eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie ihr Land sein soll.

Studien, die die unabhängigen Denkfabriken versuchen zu führen, widerspiegeln eine ziemlich uneindeutige soziale und politische Landschaft in Belarus.

Nach Angaben des Zentrums für politische Studien Chatham House aus der Hälfte des Jahres 2021 bewerten 56 Prozent der befragten Belarussen Wladimir Putin positiv, 17 Prozent bleiben neutral und 27 Prozent schätzen ihn negativ ein. 32 Prozent der Befragten sprechen sich für eine Integration mit Russland aus und nur 9 Prozent – mit der EU. 11 Prozent der Befragten sind für eine enge institutionelle Union mit der Russischen Föderation und 7 Prozent für den Beitritt in die Russische Föderation (sollte dies auf die Stimmberechtigten bezogen werden, kann diese Zahl sogar über 300 Tausend Personen betragen), 44 Prozent der Belarussen sind für eine enge wirtschaftliche Integration mit Russland. Etwa 60 Prozent der Befragten sind der Meinung, Belarus sollte nach dem Machtwechsel Mitglied in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS – diese Organisation ist ein Sicherheitssystem und militärische Allianz einiger Mitglieder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten). Diese Umfragen zeigen, dass die meisten Bürger des Landes keine klare Vorstellung von der Zukunft ihres eigenen Landes haben, was auf eine schwache Artikulation der nationalen Interessen und demokratischen Werte im Bewusstsein der Belarussen hindeutet.

Mehr noch, die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass in der belarussischen Gesellschaft weiterhin Bedarf an Autoritarismus besteht. Es ist möglich, dass dieses Bewusstsein mit einem inneren Verlangen nach Stabilität und Vorausschaubarkeit in politischen und wirtschaftlichen Prozessen verbunden ist. Solche Denkschemata beruhen auf einer Überzeugung, dass eine starke Regierung und eben ein solcher Führungsstil und nicht die intakten staatlichen Institutionen eine Garantie des allgemeinen Wohlergehens darstellen. Damit sollte die mythologisierte Wahrnehmung Putins und Russlands als Beispiel des fortschrittlichen Autoritarismus erklärt werden. Eine solche Vision kann auf dem Gefühl des eigenen staatlichen Provinzionalismus, des fehlenden Glaubens daran, dass Belarus ein eigenständiger Staat ist, beruhen.

Schon jetzt kann gesagt werden, dass der Wandel der Staatsordnung in Belarus unter schwierigen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen verlaufen wird und man kann nicht vorausschauen, wie das Endergebnis dieses Prozesses aussehen wird. Sicherlich wird es sehr schwer fallen, Systemveränderungen ohne tiefe Veränderungen in der politischen Kultur und im Bewusstsein der Belarussen, insbesondere angesichts der zunehmenden Integration mit Russland, einzuführen.

Auf der Grundlage der Entwicklungen in Belarus können folgende Szenarien der politischen Veränderungen in diesem Land und deren mögliche Folgen in den kommenden Jahren skizziert werden.

 

І. Szenarien des Wandels 

 

  1. Geopolitischer Rahmen eines politischen Wandels n Belarus 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass in den nächsten Jahren die wirtschaftliche Lage den Charakter und das Wesen der politischen Änderungen bestimmen wird. Je tiefer sich das Land in die Integrationsprojekte mit Russland engagiert, desto kleiner werden die Chancen für demokratische Veränderungen. Schon jetzt ist die geopolitische Lage von Belarus sehr gefährlich und für rasche politische Veränderungen im Lande nicht förderlich und darüber hinaus schafft die Ausgestaltung der Verhältnisse mit der Russischen Föderation eher Voraussetzungen für den Fortbestand des autoritären Systems.

Wie die Entwicklungen des Jahres 2020 gezeigt haben, hat Moskau den wichtigsten direkten Einfluss auf die politischen Prozesse in Belarus. Das wirtschaftliche, politische und militärische Bündnis mit Russland verschafft uneingeschränkte Möglichkeiten, direkt in die belarussischen Angelegenheiten einzugreifen. Allgemeine Tendenzen der letzten Monate zeigen, dass es Moskau daran liegt, die Souveränität des Nachbarstaates möglichst zu schwächen. In einer intakten Bundesstruktur mit Russland kann die Demokratisierung von Belarus eigentlich nicht stattfinden, selbst wenn Lukaschenko gezwungen wird, zu gehen.

Heutzutage zählt für die russische Regierung ausschließlich, Einfluss in Belarus zu behalten, was nur bei einem autoritär regierten Belarus möglich ist. Selbstverständlich kann Kreml daran interessiert sein, den Machthaber auszutauschen (Machttransformation), aber nicht den Staat zu demokratisieren (Systemtransformation). Moskau verfügt über enorme Mittel zur Durchführung einer Machtübergabe innerhalb des autoritären Systems, ist sich aber nicht sicher, ob es in der Lage sein wird, den Prozess des Machtwechsels in Belarus während einer politischen Krise entsprechend zu kontrollieren und Proteste der Gesellschaft zu vermeiden. Deswegen hat es Moskau bei Entscheidungen über radikale Maßnahmen nicht so eilig.

Vorausgesetzt, dass Lukaschenko innerhalb von nächsten fünf Jahren gehen wird, kann Kreml ein beliebiges Szenario der Machtübergabe unterstützen, mit dem autoritäres Regime in Belarus erhalten bleibt, vorausgesetzt, dass sich die neuen Machthaber an Russland orientieren und russische, strategische Interessen in ihrem eigenen Land wahren. Das Ergebnis des an Erwartungen Moskaus angepassten Machttransfers sollten sein:

  • Beibehalten enger, integraler militärisch-strategischer Systeme (regionale Truppenverbände, vernetztes Luftverteidigungssystem, Standorte neuer militärischer Einrichtungen / Standorte für das Militärkontingent in Belarus);
  • wirtschaftliche Abhängigkeit, Privatisierung großer Unternehmen, Stärkung russischer, zu Oligarchen gehörenden Gruppen in Belarus;
  • Bildung starker prorussischer politischer Träger in Belarus (Parteien und Organisationen, die sich aktiv an politischen Prozessen während der Machtübergabe beteiligen können);
  • Fortführung der Entnationalisierung wichtigster staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen sowie der staatlichen Sicherheitsstrukturen, die weiterhin schwer als national zu bezeichnen sind.

 

Während des Machttransfers in Belarus kann Russland zwei Szenarien realisieren:

 

Direkte politische Kontrolle (möglich in der langfristigen Perspektive, unter den Bedingungen einer dynamischen Entwicklung der Integrationsprozesse):

In dieser Option wird es vor allem auf die prorussischen Machteliten in Belarus und auf die Benennung des neuen Präsidenten ankommen. Zum Verfechter der russischen Interessen kann eine auf der Basis des Sicherheitsrates entstandene Übergangsregierung werden. Der Sicherheitsrat bekam bereits außerordentliche Befugnisse und kann selbständig die eine oder andere Politik während der Machtübergabe realisieren.

Gleichzeitig kann dieser Prozess durch supranationale Organe des Bundesstaates von Belarus und Russland, oder sogar durch russische militärische Präsenz, die sich in den kommenden Jahren entwickeln kann, kontrolliert und unterstützt werden. Der Raum für politische Aktivitäten wird eingeschränkt und der nächste „Präsident” kann entweder ein Vertreter des Klans von Lukaschenko (aserbaidschanisches Szenario) oder ein Mitglied der Nomenklatura [meistens ehemalige kommunistische Parteifunktionäre, die sich dank ihrer Beziehungen und dank ihrer finanziellen Ressourcen nach dem Fall des Kommunismus arrangiert und in der Politik, aber auch in der Wirtschaft etabliert haben] oder ein Militärvertreter (usbekisches Szenario) werden. Ein solches Gefüge wird zur intensiven Desintegration des belarussischen Staatswesens und zur Verbrennung dessen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ressourcen beitragen.

Indirekte Kontrolle, möglich unter den Bedingungen des Integrations-Status quo (armenisches Szenario)

Dieses Szenario setzt einen moderaten autoritären Transit voraus, in dem, bei geschwächter Kontrolle über interne politische Prozesse, der Erhalt strategischer Präsenz Russlands in Belarus garantiert wird, Belarus Mitglied von schlüsselwichtigen geopolitischen Projekten OVKS, SOZ (Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit) – in einem Bündnis mit Russland – bleibt. Ein solches Szenario könnte eine größere politische Autonomie der Zivilgesellschaft begünstigen, indem (obwohl sehr eingeschränkte) Voraussetzungen für einen Kompromiss zwischen der Opposition und der regierenden Nomenklatura geschaffen werden. Dies schließt eine scheinbar demokratische Vertretung im Parlament und auf der kommunalen Ebene, jedoch ohne eine systematische Demokratisierung der staatlichen Strukturen, nicht aus. Eine solche Option würde die volle Akzeptanz der Opposition für den als Präsident genannten, durch Moskau kontrollierten Vertreter der Nomenklatura voraussetzen. Gleichzeitig würde der Abbau der nationalen Fundamente und der belarussischen Staatsordnung fortschreiten. In Wirklichkeit würde ein hybrides Regime mit starken prorussischen Einflüssen der Oligarchen entstehen. Eine antinationale Politik wird gesellschaftlich-kulturelle Verhältnisse verschlechtern und die Chancen für die Entstehung einer starken antirussischen Bewegung untergraben und eine schnelle Konsolidierung der belarussischen und russischen Interessen sowie Ausbreitung der Korruption werden zu einem weiteren Zerfall von Belarus führen.

Eine nationale Revolution scheint meines Erachtens, angesichts der Integration mit Russland, undenkbar, denn sie würde zu einer sofortigen Intervention Moskaus führen. Eine ähnliche Situation lag gleich nach den Wahlen 2020 vor, als Putin die Bildung einer militärischen Reserve angekündigt hat, die in Belarus bei aktiven Maßnahmen der Protestierenden Verwendung finden könnte. Eine weitere Herausforderung für eine nationale Revolution und eine demokratische Machtübergabe stellt der starke Hang der uniformierten Strukturen und der Nomenklatura zu Moskau. In der Tat sind sie bereit, russische Präsenz und die Einschränkung der Souveränität zu unterstützen – nicht aber eine nationale Revolution.

Somit bleibt ein autoritäres Russland immer eine zivilisatorische Herausforderung für Belarus und es wird sich immer bemühen, Änderungen in diesem Land für eigene Zwecke zu nutzen.

Schnelle und positive Entwicklungen können dann stattfinden, wenn strategische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland nachlässt, was unter folgenden Voraussetzungen möglich wäre:

a) bei einer sehr schnellen politischen Machtübergabe in Belarus, auf die Russland nicht vorbereitet sein wird,

b) bei innenpolitischen und wirtschaftlichen Turbulenzen in Russland selbst, wenn eigene Probleme (Krise) Russland zwingen, seinen Einfluss in Belarus zu vernachlässigen.

So oder so wird eine konsolidierte national-demokratische Front mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung notwendig sein, um die eine oder andere Situation in Belarus zu nutzen und den Prozess eines demokratischen Wandels anzustoßen.

Momentan sollte sich die demokratisch orientierte Gemeinschaft in Belarus darauf konzentrieren, russische Expansion in ihrem Land zu verlangsamen. Und dazu braucht man:

  • eine gesamtnationale Konsolidierung der Gesellschaft und der Opposition in Belarus. Versuche, sich bei Kreml „einzuschmeicheln” und Unterstützung aus Russland zu bekommen, werden die Position der neuen Opposition nicht stärken,
  • Gestaltung der einerseits antirussischen und andererseits proeuropäischen Gesinnung und Orientierung in der belarussischen Gesellschaft,
  • Systematische Unterstützung des Westens (insbesondere der UE) für die Entwicklung der belarussischen nationalen Institutionen und international angelegte Entgegenwirkung der bundesstaatlichen Integration von Russland und Belarus. Belarus sollte zur geopolitischen Priorität Europas werden.

Die letztgenannte These sollte zum Grundstein der allgemeinen Strategie der Europäischen Union gegenüber Belarus werden, unabhängig davon, wie sich die Entwicklungen innerhalb dieses Landes gestalten.

  1. Politisches System während des Machttransfers 

Der Charakter und die Ausrichtung der politischen Veränderungen hängen sicherlich von dem Zustand der Staatsordnung und dem der Machteliten ab. Interne Konsolidierung der Machtstrukturen wird die Fähigkeit des Systems bestimmen, sich den Veränderungen zu widersetzen, der Zerfall der staatlichen Strukturen wird die regierenden Gruppen wiederum zwingen, nach Kompromissen und Zugeständnissen zugunsten der Gesellschaft zu suchen. Die jetzt umrissene Politik des Regimes wird im großen Umfang den Charakter künftiger Änderungen bestimmen. Ständige Repressionen, Terror und Unrecht vertiefen die gesellschaftliche Polarisierung, steigern den gegenseitigen Hass und Gewaltbereitschaft, was den Nährboden für radikale revolutionsartige Erschütterungen im Land und für eine andauernde politische Konfrontation in der Gesellschaft darstellen kann, wenn die politische Kontrolle abzuebben beginnt.

Selbstverständlich ist die Stabilität eines Systems nur relativ, es gibt eine Reihe nicht vorausschaubarer Faktoren, die den politischen Inhalt und die politischen Verhältnisse in Belarus verändern können. Zu solchen Faktoren gehören eine unerwartete Erkrankung Lukaschenkos, sein plötzliches Ableben, ein Militärputsch und auch systemische Probleme in Russland, Zuspitzung der außenpolitischen Konfrontation usw.

In diesem Beitrag soll jedoch eingeschätzt werden, wie sich aufgrund der heutigen politischen und psychologischen Rahmenbedingungen die Lage der regierenden Eliten und der belarussischen Gesellschaft entwickeln kann.

Die tatsächlich vorliegende Lage in Belarus lässt die Behauptung zu, dass Lukaschenko nicht die Absicht hat, in absehbarer Zeit zurückzutreten, im Gegenteil – er wird alles Mögliche machen, um seine Position nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch die Staatsleitung an jemand aus seiner Umgebung zu übergeben, höchstwahrscheinlich an den jüngsten Sohn Mikalaj. Zu diesem Zweck muss er Machtstrukturen schaffen, die die Stabilität seiner Macht und die Stabilität des Systems langfristig, für mindestens 7–10 Jahre gewährleisten. Die politische Krise brachte Lukaschenko und sein Umfeld in eine tiefe Transformation des Regimes in Richtung Totalitarismus, mit einer Zerstörung der zivilgesellschaftlichen Autonomie.

Gleichzeitig kam es zu interner Konsolidierung der regierenden Nomenklatura und der Sicherheitskräfte. Diese neue politische Elite wird auf Kosten der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung ihren Machteinfluss sichern und eine Kontinuität in der autoritären Führung anstreben wollen. Verbrechen der Regierenden bewegen sie zu noch mehr Konsolidierung und noch strengeren Repressionen, denn nur der Machterhalt garantiert ihnen Sicherheit und Straffreiheit. Mit anderen Worten ist der Erhalt des neototalitären Systems ein psychologisches Bedürfnis der Menschen, die das aktuelle Regime aufrechterhalten und ihm dienen. Es bedeutet ebenfalls, dass diese Gruppe in dieser Phase zu keinerlei Kompromissen bereit ist.

Aufgrund der Kenntnisse der Lage innerhalb des politischen Systems in Belarus können folgende Szenarien einer autoritären Machtübergabe aufgezeigt werden:

  1. Transfer innerhalb des Klans. Machterhalt innerhalb der regierenden Eliten. Das Ziel besteht darin, konsolidierte Macht in den Händen eines der Söhne von Lukaschenko, Wiktar oder Mikalaj. Zu diesem Zweck werden spezielle Verfassungsänderungen (2022–2023) eingeführt, die Alexander Lukaschenko den Machterhalt für weitere 5–7 Jahre sowie die Möglichkeit eines klaninternen Transfers gewährleisten sollen. Eine solche Änderung ist nur möglich, soweit der Diktator an der Macht bleibt und der Machtapparat der Familie Lukaschenko vollumfänglich treu bleibt.
  2. Transfer unter Beteiligung von Militär und Nomenklatura (usbekisches Szenario). Es besteht darin, dass die Familie in ihrem Einfluss eingeschränkt wird oder gar gestürzt wird (nach Ausscheiden von Lukaschenko) und alle politischen und wirtschaftlichen Instrumente in den Händen einer Gruppe der höchsten Staats- und Sicherheitsfunktionäre gebündelt wird. Das neue Regime wird die Vorgehensweise des alten fortsetzen, denn dies ist die Hauptbedingung für dessen Überleben. Nichtsdestoweniger ist eine Politik des Terrors längerfristig nicht haltbar und eine Legitimation der neuen Regierung ist für ihre Stabilität notwendig. In diesem Fall kann ein beschränkter Kompromiss mit der Opposition (deren einzelnen Gruppen) nicht ausgeschlossen werden, soweit sich die Opposition längerfristig als einflussreiche Kraft erweist. Es fällt schwer, jetzt einzuschätzen, inwieweit ein solcher Kompromiss möglich ist und ob dessen Ziel Systemänderungen sein werden oder die Rolle der Opposition auf irrelevante politische Funktionen mit Schmuckcharakter reduziert wird, insbesondere dann, falls die Opposition zersplittert werden sollte.

Je länger wiederum Aleksander Lukaschenko an der Macht bleibt, desto schwieriger der Prozess des Wandels und der Demokratisierung des Landes sein wird, unabhängig vom künftigen Szenario der Veränderungen. Lange Regierungsjahre Lukaschenkos tragen einerseits zur weiteren internen Festigung des Systems, zur Zerstörung der öffentlichen Institutionen, zum beruflichen Burnout der belarussischen Gesellschaft sowie zur allgemeinen Degradierung der Gesellschaft bei. Andererseits wird sich ein Teil der Gesellschaft, die Schichten, die die neototalitäre Politik unterstützen, vollumfänglich dem demokratischen Transfer widersetzen für den Erhalt des Status Quo sorgen und somit negative Tendenzen in der Gesellschaft und in der Wirtschaft beschleunigen.

So steigen wirtschaftliche und politische Kosten der Wende. Wäre die Wende 2020–2021 gekommen, getragen von der Woge des enormen psychologischen Impulses, der menschlichen Fachressourcen, des mehr oder weniger stabilen Finanzsystems und der industriellen Produktion gekommen, dann hätte eine Transformation der Staatsordnung und der Wirtschaft weniger Zeit und Anstrengungen (Konsolidierung der Gesellschaft) sowie Finanzauflagen bedürft. Nach 2021 (sollte die Wende etwa 2025 kommen) wird – bei der Aushöhlung der intellektuellen und professionellen Ressourcen, also des Reformantriebs des Landes, bei der Zerstörung der öffentlichen Institutionen, bei der Zerstörung der wirtschaftlich aktiver Mittelschicht, beim Anstieg der Krisensymptome im staatlichen Produktionssektor, beim Anstieg der verdeckten Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit usw. – die Implementierung der Systemreformen größerer wirtschaftlicher und sozialer Opfer, größerer Auflagen und folglich: auch Zeit bedürfen. Mit anderen Worten ist ein mehr oder weniger stabiles gesellschaftliches und wirtschaftliches System einfacher als ein desolates System zu reformieren. Es ist auch zu bedenken, dass sich die Politik der Wirtschaftssanktionen und der politischen Isolation von Belarus destruktiv auf die belarussische Wirtschaft auswirkt.

Opposition und Gesellschaft: Schwungrad der Veränderungen 

Eine Chance auf demokratische Transformation in Belarus ist gegeben, kann aber nur bei einer starken Konsolidierung der Opposition und der Gesellschaft sowie bei direkter Beteiligung an politischen Prozessen genutzt werden. In der heutigen Phase der historischen Entwicklung von Belarus beobachten wir negative Tendenzen, die sich in der Gesellschaft und in der Opposition bemerkbar gemacht hatten und eine Folge der destruktiven Politik des Terrors und der Stärkung des bestehenden Regimes sind.

Mit der Zeit werden sich Frust, Passivität, Misstrauen und soziale Konflikte anhäufen und die Zersplitterung und Unentschlossenheit innerhalb der Opposition werden zunehmen. Neue Oppositionsstrukturen waren und sind immer noch auf eine systemrelevante und langfristige Konfrontation mit dem Regime nicht vorbereitet. Ihre Aktivitäten bleiben auf dem Niveau der international nur schwach präsenten Nichtregierungsorganisationen und Partien. Gleichzeitig kann die Opposition kein vollberechtigter Akteur der Veränderungen in Belarus werden, wenn sie bis zum Machttransfer nicht zu einer starken, konsolidierten Kraft wird. Es besteht die Gefahr, dass die Opposition ihr Potential der Einflussnahme verliert, insbesondere wenn sie keine breite gesellschaftliche Unterstützung bekommt. Obendrein wird das Fehlen einer globalen, einheitlichen Strategie die Durchführung einer demokratischen Transformation in Belarus unmöglich machen.

  • Im jetzigen Stadium, solange die Gefahr besteht, dass die politische Krise und Konfrontation eine nicht absehbare Zeit dauern werden, steht die Opposition vor folgenden strategischen Zielen:
  • interne Konsolidierung, Erhalt einer breiten national-demokratischen Front,
  • Institutionalisierung – Bildung einer Matrix von politischen Institutionen und Führungsmechanismen,
  • Aufbau der Personalressourcen, die während der Machtübernahme und in der Phase der Transformation auf der Makro- und Mikroebene eingesetzt – unter Berücksichtigung der im Exil lebenden Belarussen,
  • Erhalt einer breiten gesellschaftlichen Unterstützung in Belarus,
  • Stärkung des nationalen Diskurses, um stufenweise Umdenken in Belarus herbeizuführen und die mit der nationalen Wiedergeburt verbundenen Phobien zu überwinden.

Anders gesagt sind es die Bildung und Entwicklung einer institutionellen Matrix sowie Konzentration der Bemühungen zur Bildung des nationalen Selbstbewusstseins der Belarussen, die aufgrund der Veränderungen im Bereich der politischen Kultur und der Werte die Grundlagen der künftigen Veränderungen stärken. Nur so kann die Opposition ihre Positionen halten und ein Akteur bleiben, den die Behörden während der Transformation achten müssen. Nur so kann die Mehrheit der Bürger eine zivilgesellschaftliche Basis für fundamentale Reformen werden.

Im Idealfall sollte in Belarus eine national orientierte, professionelle und verantwortungsvolle politische Elite an die Macht kommen, die personell entsprechend aufgestellt ist und über finanzielle Mittel für die Durchführung zügiger und wirksamer Reformen verfügt. Ein solches Szenario ist allerdings wenig wahrscheinlich, und selbst wenn es denkbar wäre, dann nur bei einer revolutionären Entwicklung und dann würde sie einer einheitlichen politischen Front sowie der Bereitschaft, radikal zu handeln, bedürfen. Voraussetzungen für ein solches Szenario könnten sein:

  • plötzliches Ausscheiden (Tod) von Alexander Lukaschenko, nach dem die Machteliten desorientiert sind und nicht wissen, was weiter zu tun wäre. Die Opposition müsste sehr schnell innerhalb von einem oder zwei Tagen Druck auf die Regierenden im großen, revolutionären Ausmaß ausüben und Zugeständnisse erzwingen,
  • infolge des Wechsels des autoritären Machthabers wird die Nomenklatura im kritischen Moment in der Lage sein, Einflussmacht zu behalten, aber angesichts des fehlenden politischen Willens (Problem der Kontrolle und der starken Führung) kann sie die bisherigen Machteliten zu Verhandlungen mit der Opposition zwingen. Unter solchen Umständen werden demokratische Kräfte mit Massenprotesten und Sperren die Regierenden zum Dialog zwingen und die Landesführung vollständig übernehmen können.

Aufgrund der Kenntnisse der derzeitig vorliegenden Lage können wir längerfristig über zwei politische Konfigurationen mit Beteiligung der Opposition sprechen: Nomenklatura–Opposition und Opposition–Nomenklatura.

А. Das Szenario für das Gefüge NomenklaturaOpposition bedeutet, dass es der Nomenklatura / den Sicherheitskräften gelungen ist, Macht und Einfluss zu behalten, um aber innerstaatliche Spannungen zu reduzieren, um Legitimation für die Machtausübung zu erlangen, werden sie die Opposition für eigene Zwecke missbrauchen. Unter diesen Umständen wird eine volle Demokratisierung unmöglich sein und das Regime wird die Eigenschaften einer hybriden, oligarchischen Machtausübung bekommen.

В. Das Szenario für das Gefüge Opposition-Nomenklatura kann Wirklichkeit werden, wenn es eine starke, einflussreiche Opposition gibt, die in der Lage sein wird, regierende Eliten zu Zugeständnissen zu zwingen und einen Teil des Machtapparates beim Aufbau des neuen Systems mitzunehmen, um eine institutionelle Stabilität zu erhalten. Einerseits scheint unvermeidlich, dass ein Teil des Personals in der Verwaltung und im Managementbereich ihren Job nicht verliert. In Belarus gibt es ca. 200 Tausend Beamte und die Opposition ist noch nicht in der Lage, ihren eigenen, breiten Machtapparat zu bestellen, auch nicht, um die Schlüsselpositionen neuzubesetzen. Andererseits kann ein solcher Kompromiss bei der gegebenen Beamtenkultur den Demokratisierungsprozess verlangsamen, wenn der Einfluss der Nomenklatura in den obersten Machtetagen erhalten bleibt.

Das Szenario B scheint am meisten konstruktiv zu sein und ließe radikale staatliche und gesellschaftliche Einbrüche vermeiden. Dies würde allerdings auch die Implementierung von Mechanismen erfordern, die das Risiko der Sabotage von Entscheidungen, der Korruption und des autoritären Revanchismus minimieren.

Es ist noch einmal zu betonen, dass „sanfte” Szenarien der Veränderungen – vom Transfer bis zur Transformation – nur dann möglich sind, wenn Russland „Beobachter” der internen politischen Prozesse in Belarus bleibt. Anderenfalls ist bei einem jeden Szenario wenig wahrscheinlich, dass eine Intervention Moskaus vermieden werden kann. Unbekannt bleibt nur die Form dieser Intervention.

II. Strategie der Transformation

In den letzten Jahren erarbeiteten diverse oppositionelle Gruppierungen eigene Handlungspläne und diverse Projekte wirtschaftlicher und institutioneller Reformen in Belarus. Im weiteren Teil des Textes sollen grundlegende Richtungen aufgezeigt werden, ohne die eine gelungene Transformation wenig wahrscheinlich ist.

Wie bereits vermerkt, sollte für die Reformen interne Konsolidierung und Einheit der Opposition betr. Ansatz und Methoden der Einführung der Systemwende das Startkapital sein. Dadurch würde sich die politische Energie nicht auf interne Streitigkeiten und Konflikte (Verteilungskampf) sondern auf die Erreichung der gemeinsamer Ziele und des gesellschaftlichen Wohlstandes konzentrieren. Die Einheit garantiert auch eine breite gesellschaftliche Unterstützung und schränkt den Raum für populistische Politiker ein. Es ist auch zu betonen, dass gemeinsame Mobilisierung und kollektive Verantwortung menschliches, berufliches, intellektuelles Potential der demokratischen Gemeinschaft bündeln ließen, um die für den Staat und für die Gesellschaft wichtigen Belange anzugehen. Wesentlich ist, dass den neuen politischen Eliten höchstwahrscheinlich nicht viel Zeit bleiben wird, um Systemänderungen einzuführen, es werden buchstäblich 6 bis 12 Monate sein und dann kommt eine Systemkrise mit Anhäufung von Widersprüchen und ggf. autoritärem Revanchismus.

Demokratische Kräfte sollten dann schon eine fertige Analyse der möglichen Szenarien der weiteren Entwicklungen in Belarus haben sowie psychisch und politisch, und vor allem praktisch auf unerwartete Entwicklungen im Lande vorbereitet sein. Darüber hinaus sollte schon eine Kaderbasis in Bereitschaft bleiben, die man als „Personalreserve für Verwaltung und Management” bezeichnen kann. Eine Kaderreserve erlaubt es, ein stabiles Management in der Zentrale sowie vor Ort für die Zeit bis zur Wahl sicherzustellen. Gleichzeitig ist es notwendig, Kontrolle über das Militär und Geheimdienste zu sichern, um Ordnung und Sicherheit des Staates bei externen Gefahren aufrechtzuerhalten.

Tatsächlich könnte sich schon jetzt die Opposition darauf konzentrieren, ein Schattenkabinett und alternative staatliche Strukturen zu bilden, die zum Fundament vom zukünftigen Belarus würden.

Die Transformation des politischen Systems kann in mehreren Phasen stattfinden.

  1. In der ersten Phase, einige Monate nach dem Machtwechsel, wird eine Verbesserung der Arbeit schlüsselwichtiger politischer Institutionen durch die Rückkehr zur demokratischen Verfassung von 1994 notwendig sein, mit der eine parlamentarisch-präsidentielle Republik eingeführt wurde. Anschließend – Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen. Gleichzeitig, angesichts der Probleme in der Übergangszeit, Risiko der Rache oder Sabotage von Seiten der lukaschenkotreuen Nomenklatura, Geheimdienste und Wirtschaft. Einem Teil dieser Gruppen sollte das passive Wahlrecht entzogen werden. Es ist eine befristete aber notwendige Maßnahme zur Einschränkung der politischen Rechte für eine Übergangszeit von bis zu 5 Jahren, um Korruption und Dauerkonflikte in zentralen und regionalen Behörden zu vermeiden. Am Beispiel von Ukraine, Georgien und Moldau kann festgestellt werden, wie schnell demokratische Institutionen zur politischen, gegen Demokratie gerichteten Waffe werden und das System der Oligarchie formalisieren.
  2. Unter Lukaschenko bildete sich eine mehr oder weniger konsolidierte Geschäftsgruppe der Nomenklatura, die ihren Einfluss in enger Verbindung mit dem bestehenden politischen System aufgebaut hatte. Alexej Alexin (Energo-Oil und Belneftegas), Alexander Schakutzin, Mitglied des Republikrates der Volksversammlung von Belarus, Alexander Sajzew (Bremino Group), Michail Maschensky (JV Santa Bremar) und viele andere. Diese Gruppe verfügt über enorme politische und finanzielle Ressourcen, die in der Zeit der Transformation der Aufrechterhaltung eigener Einflüsse und politischer Kontrolle dienen werden. Zu diesem Zweck wird die Postlukaschenko-Geschäftswelt Parteien und Organisationen, Mediengruppen bilden oder unterstützen sowie in die politische Verwaltung eingreifen, was zur „Privatisierung” der Politik und zur Entstehung eines oligarchischen Systems führen kann. Ohne präventive Maßnahmen zur Einschränkung der politischen Einflüsse dieser Gruppe kann Belarus mit einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, Korruption und Schwächung der neuen staatlichen Institutionen konfrontiert werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die belarussischen Oligarchen Unterstützung in Moskau suchen werden. Deswegen sollen sie für die Übergangszeit mit Einschränkungen bei politischen Aktivitäten und Finanzierung der politischen Organisationen belegt werden.
  3. Die Rolle der ehemaligen Angehörigen der belarussischen Geheimdienste darf ebenfalls nicht missachtet werden. In Russland hat so eine Missachtung zum Revanchismus und im Jahre 2000 zur Wiederherstellung des autoritären Regimes unter Wladimir Putin geführt. Im Zusammenhang damit sollte einer der Absicherungsmechanismen für den Transformationsprozess die Lustration sein. Vordergründig wird es notwendig sein, die Gesellschaft zu heilen und das Gerechtigkeitsgefühl wiederaufzubauen. Vor allem ist es aber sehr wichtig, dass Personen, die an den Repressionen und Fälschungen beteiligt waren, keine Positionen in staatlichen Institutionen und Organen wie Gerichte, Staatsanwaltschaften, Strafverfolgungsbehörden, Regierungsinstitutionen und Bildungswesen bekleiden dürfen. Selbstverständlich kann es zu Personalmangel führen, aber ohne umfassende Lustration wird es schwierig sein, intaktes Rechtssystem, intakte staatliche und kommunale Institutionen aufzubauen.
  4. Unverzüglich sollten regimetreue Organisationen aufgelöst werden wie Belarussischer Jugendverband [BRSM], Belarussische Organisation der Pioniere [BRPA], die Organisation „Weiße Rus”. Dies gilt auch für die „staatliche Ideologie”. Notwendig ist es, Medienpolitik des Staates umfassend zu revidieren, uneingeschränkte staatliche Kontrolle im Informationsraum abzuschaffen, Medienvielfalt wiederherzustellen und den nationalen Diskurs der belarussischen Massenmedien zu stärken
  5. Zur Stärkung der demokratischen Institutionen sind Änderungen in der politischen Kultur und im Bewusstsein der Bürger sowie Änderung der Einstellung zur Politik notwendig. Und dies ist bei einer aktiven Beteiligung der Bürger am politischen Leben auf der kommunalen und staatlichen Ebene möglich. Diese Aktivität wird dadurch zum Ausdruck kommen, dass Vereine und Bürgerinitiativen, Einwohnervertretungen am Wohnort und Elternvertretungen in den Schulen gegründet werden, eine der Formen dieser Aktivität sind Studentenvertretungen an den Hochschulen. Im Allgemeinen sollte in Belarus akademische Freiheit an den Hochschulen eingeführt werden und eine zügige Integration des belarussischen mit dem europäischen Bildungswesen gewährleisten.
  6. Unabdingbar ist die Einberufung eines Instituts für Nationales Gedenken [etwa: Gauck-Behörde], welches für erfolgreiche allgemeine Entkommunisierung und Entsowjetisierung der Gesellschaft sowie für den Erhalt von und Zugang zu Archiven aus Sowjet- und Lukaschenko-Zeiten sorgt. Die Tätigkeiten eines solchen Instituts hätten zum Ziel, historische Wahrheit wiederherzustellen und Verbrechen gegen die belarussische Nation zu untersuchen.
  7. Die Transformation der Staatsordnung kann nicht positiv abgeschlossen werden, wenn sie nicht auf das nationale Bewusstsein und demokratische Werte der gesellschaftlichen Mehrheit in Belarus baut. Unterstützende Maßnahmen zu diesem Prozess wären die Popularisierung der Sprache und der nationalen Kultur, stufenweise, aber systematische Einführung der belarussischen Sprache auf der Ebene der Staatseliten, Stärkung der nationalen Bildung und Fokussierung auf den Aufbau eines nationalen Staates.

 

In der jetzigen geopolitischen Lage, geprägt durch aggressive (imperiale) Politik Russlands, ist im Prozess der politischen Wende eine Konfrontation mit Moskau unausweichlich. Der Nachbar im Osten beeinflusst die Entwicklungen im Lande destabilisierend. Darunter ist die Abstreitung der Opposition in der belarussischen Gesellschaft und in der internationalen Öffentlichkeit zu verstehen. Einerseits können neue belarussische politische Eliten Beziehungen zu Russland auf Basis der Neutralität und der gleichberechtigen Beziehungen sowohl zum Westen als auch zum Osten aufgebaut werden, aber andererseits brauchen sie dann Garantien der internationalen Institutionen, die Unabhängigkeit und territoriale Unversehrtheit von Belarus schützen werden. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass Länder, die sich außerhalb der Europäischen Union entwickeln, ernsthafte Probleme bei einer Systemtransformation und bei der Stärkung der demokratischen Institutionen haben. Die Europäische Union bildet eine starke Basis bei einem Übergang zur Demokratie, wirkt autoritären und korruptionsartigen Entwicklungen entgegen sowie zwingt die regierenden Eliten, Rechtsnormen einzuhalten. Wenn wir über heutiges Belarus reden, müssen wir bedenken, dass nach einer langjährigen autoritären Realität, in einer labilen Rechts- und Demokratiekultur, bei ausbleibenden Aussichten auf eine Integration mit der EU sowie ohne eine wirtschaftliche und politische Unterstützung der EU ein erfolgreicher Übergang vom Autoritarismus zur Demokratie für dieses Land sehr schwierig sein wird.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

Fot. Max Katz. Src: Wikimedia Commons (CC BY-SA 2.0)

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Lukaschenko – Geschichte des letzten Diktators in Europa

Jakub Bodziony spricht mit Dr. Pavel Usov · 28 November 2021

Jakub Bodziony spricht über die Geschichte des sog. letzten Diktators in Europa mit Dr. Pavel Usov, einem seit Jahren in Warschau wohnenden hervorragenden Politikwissenschaftler.

Jakub Bodziony: Ihr Studium begannen Sie 1993, als demokratisches und unabhängiges Belarus in Formung begriffen war und waren damit 1998 fertig, als das autoritäre Lukaschenko-Regime etabliert war. Wie hat sich in dieser Zeit Belarus geändert?

Pawel Usov Das war eine gesellschaftliche und akademische Evolution. Ich erinnere mich, dass ich als Student das Gefühl enormer Möglichkeiten hatte. Nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht war Belarus damals weltoffen und die ganze Welt war gewissermaßen in Belarus vertreten.

Ich stamme aus einer regionalen, im Osten des Landes gelegenen Stadt Mogiljow, die als Vorposten Russlands galt. In den 90-ger Jahren waren junge Menschen von der belarussischen Sprache und von dem Unabhängigkeitsgedanken fasziniert. Die Mehrheit der Gesellschaft teilte diese Ansprüche leider nicht, denn wie in jedem Staate träumt der einfache Bürger von normalen, stabilen Lebensverhältnissen und von einem Job. Es sind Studenten, die häufiger etwas mehr wollen und manchmal das Materielle zugunsten des Intellektuellen ignorieren.

Die Zeit bis 1996 war eine Zeit der akademischen Freiheit. Alexander Lukaschenko absolvierte die Historische Fakultät an der Staatlichen Universität zu Mogiljow. Wir studierten bei den gleichen Professoren. Als Lukaschenko 1994 in den Präsidentschaftswahlen kandidierte, waren diese von ihm nicht gerade begeistert…

Halten wir etwas inne. Wir schreiben das Jahr 1991, da erlangt Belarus Unabhängigkeit und nur drei Jahre später finden Präsidentschaftswahlen statt, in denen Lukaschenko mit Abstand gewinnt. Wie kam es dazu?

Es soll darauf hingewiesen werden, dass ein Teil der demokratischen Opposition gegen die Einführung des Präsidentenpostens war. Die im Jahre 1993 beschlossene Verfassung wurde durch die mehrheitlich vertretene postkommunistische Nomenklatura [ehem. Staats.- und Parteifunktionäre, die dank ihrer Beziehungen an wirtschaftliches Vermögen und politischen Einfluss kamen] unterstützt, was eine der Ursachen der Machtergreifung Lukaschenkos war.

Vertreter dieser postkommunistischen Nomenklatura war der damalige Ministerpräsident Wjatschaslau Kebitsch. Eben die postkommunistische Nomenklatura wollte Kebitsch zum ersten Präsidenten machen und seinetwegen wurde die Funktion des Präsidenten in die Verfassung eingeführt.  Die Vollmachten und Handlungsspielräume waren jedoch einigermaßen eingeschränkt.

Warum?

Weil Belarus in den Jahren 1993 – 1996 in der Tat eine parlamentarisch-präsidentielle Republik war, also die wichtigsten Befugnisse hatte das Parlament.

Lukaschenkos Weg an die Macht war zweispurig. Erstens hatte er vor den Wahlen in einer Kommission zur Korruptionsbekämpfung unter den höchsten Beamten den Vorsitz inne. Es war damals ein sehr tragfähiges Thema und er konnte damit soziales Kapital schlagen. Mehr noch, die Medien waren damals unabhängig und über Lukaschenko berichteten damals alle bedeutenden Zeitungen, was ihm schnell zur Popularität verhalf.

Er wurde also eine Art Volkstribun, der zivilgesellschaftliche Freiheiten nutzte, um die Macht zu ergreifen?

Durchaus ja. Die zweite Eigenschaft, die für ihn sprach, war die Jugend. Vor dem Hintergrund der alten Nomenklatura wie Wjatschaslau Kebitsch sah er ziemlich ehrgeizig und… roh aus. Und das gefiel den Menschen.

Die belarussische Gesellschaft war in dieser Zeit agrar. Die Zahl der Stadtbewohner überstieg die der auf dem Lande Lebenden bereits in den siebziger Jahren, es waren aber Zuzügler aus Dörfern und Kleinstädten. Die Mentalität änderte sich nicht – sie blieb agrar und autoritär.

Lukaschenko vermochte es, in dieser Kultur primitive Erwartungen zu nutzen, die diese Kultur hervorbrachte. In Belarus war lange Jahre der Spruch Tscharka und Schkwarka, [sinngemäß: Glas (Wodka) und Speck], also die einfachsten Dinge für einfache Menschen und einfache Bürger, für welche die Begriffe Freiheit, Demokratie oder Unabhängigkeit keinen Wert hatten.

Wenn es also möglich war, solch abstrakte Slogans gegen Greifbares zu tauschen, war die Mehrheit gewillt, es anzunehmen. Deswegen haben sie Lukaschenko gewählt und später in weiteren Referenden unterstützt, mit denen seine Macht gestärkt wurde.

Da entschieden sich die Menschen, Demokratie, historische, kulturelle und sprachliche Werte aufzugeben. Belarussische Gesellschaft war im hohen Grade russifiziert und sowjetisiert, es war ein erfolgreiches Projekt der Kommunisten. In den neunziger Jahren konnte man sehen, worauf ein sowjetischer Mensch basiert, für den die Unabhängigkeit und der eigene Staat ohne Bedeutung sind.

Ein wichtiger Aspekt ist die sehr schwierige wirtschaftliche Lage, die es möglich machte, Werte wie Demokratie, Freiheit oder Pluralismus mit dem gesellschaftlichen Chaos und Anarchie gleichzusetzen. Ähnliche Prozesse gab es übrigens zu gleicher Zeit in Russland.

Absolut. Den gemeinsamen Nenner für die Mehrheit der belarussischen, aber auch der ukrainischen oder russischen Gesellschaft bildete der mit der Demokratie verbundene Chaos. In Wirklichkeit war er eine Folge des Niedergangs des autoritären Systems. Vor 1991 waren die Bürger an den Entscheidungsprozessen nicht beteiligt. Diese Verantwortung lag immer irgendwo da oben, in den Händen der Regierenden.

Belarussische Gesellschaft wusste nicht, wie man mit den neuen Rechten umgehen, in dem neuen Staat und im Rahmen der neuen politischen Wirklichkeit funktionieren soll. Zumal diese Periode der Unstabilität sehr schnell und effektiv die zuvor der kommunistischen Nomenklatura nahestehende, sog. goldene Jugend zu nutzen wusste, die mit der Zeit zu einer Gruppe der Oligarchen wurde.

Ähnlich war es bei den Vertretern der ehemaligen Geheimdienste, die sich der Banken und Unternehmen bemächtigt hatten. Wegen dieser Plünderung, die zu dem Demokratisierungsprozess keinerlei Bezug hatte, hatte die Gesellschaft nichts mehr und andererseits identifizierte sie sich nicht mit dem neuen System. Die Menschen wurden um die Möglichkeit gebracht, normal zu funktionieren. Ihnen fehlten Absicherung, Stabilität und Zukunftsperspektiven.

Gerade dies machte sich Lukaschenko zunutze, indem er versprach, all diejenigen, die gestohlen und geraubt haben, hinter Gitter zu bringen. Er versprach ebenfalls, staatliche Kontrolle in der Wirtschaft wiederherzustellen. Er wollte Instrumente aus den UdSSR-Zeiten nutzen. Der Staat sollte den Wirtschaftssektor, die Industrie und den Agrarsektor direkt steuern. Bis heute gibt es in Belarus Kolchosen, so wie es in Polen vor der Wende landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften gab. Lukaschenko selbst war früher ein Direktor einer solchen Genossenschaft.

Diese Schritte führten keine Verbesserung der Lebensverhältnisse auf dem Lande, aber die Sozial- und Wirtschaftspolitik in Belarus wurde – vor dem Hintergrund dessen, was sich lange Zeit in der Ukraine und in Russland abspielte – positiv eingeschätzt. Das ist der Grund für die langjährige Unterstützung und Legitimation Lukaschenkos Machtausübung. Solange er den sog. sozialen Vertrag erfüllte, der auf Absicherung des materiellen Wohlstands stützte, genoss er einen breiten und stabilen Zuspruch von bis zu 50 Prozent.

Dann haben wir einen ehemaligen Kolchoseleiter, der zum Superstar der Politik der Korruptionsbekämpfung wurde und, von dieser Welle getragen, die Wahlen gewinnt. Sowohl dem politischen Establishment, als auch anderen Gruppierungen durfte wohl klar gewesen sein, dass nun auf die Bühne eine Person kommt, die das politische System einverleiben will.

In dieser kurzen, knapp fünfjährigen Phase der Demokratie, konnte keine neue politische Elite entstehen, die in der Lage wäre, an die Macht zu kommen, diese Mach zu erhalten und den Staat effizient zu führen.

Es regierten Postkommunisten, die an der Idee der Sowjetunion hingen und davon träumten, dass deren Wiederaufbau möglich sein wird. Als Kebitsch die Wahlen 1994 verloren hat, begann die Mehrheit der Elite nach einem anderen, starken Anführer zu suchen. Lukaschenko war in ihren Augen ein geeigneter Kandidat.

Es gab aber auch einen Augenblick des Widerstands. Nach Lukaschenkos Machtübernahme verbarrikadierten sich einige Abgeordneten in einem der Parlamentsgebäude aus Protest gegen die eingeführten Änderungen. Lukaschenko zeigte damals, dass er vor nichts zurückschrecken wird, um seine politischen Gegner zu beseitigen.

Damals stimmte die parlamentarische Mehrheit dem ersten Referendum zu, in dem über Änderung der Staatssymbole und über die Befugnis des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, entschieden werden sollte. Belarussische politische Klasse beschloss, dieses Spiel mit Lukaschenko mitzumachen. Lediglich eine kleine Gruppe mit Sjanon Pasnjak an der Spitze verbarrikadierte sich aus Protest im Parlamentsgebäude. Lukaschenko schickte gegen sie Spezialeinsatztruppen. Die Protestierenden wurden zusammengeschlagen und auf die Straße rausgeworfen.

Es gab keine Reaktion: weder von Seiten der Gesellschaft, noch von den staatlichen Strukturen: Staatsanwaltschaft, Gerichte oder gar von Seiten des Parlaments, in dem es zu dieser Auseinandersetzung kam. Es gab sie nicht, da diese prosowjetische Mehrheit die Entscheidung über Gewaltanwendung befürwortete.

Diese Situation löste einen bedeutenden psychologischen Effekt aus und führte zu einer Wende zugunsten von Lukaschenko. Er zeigte seine Stärke und Bereitschaft, um den Machtkampf allen Mitteln zu führen. Andererseits wurden Schwäche und Unentschlossenheit der Gesellschaft und der demokratischen Institutionen offenbart. Sie konnten nicht richtig funktionieren, wenn sich Personen an deren Spitze immer noch von postsowjetischer Mentalität leiten ließen.

Wir sprachen über die prosowjetische Wende Lukaschenkos, der bemüht war, an die Vergangenheit anzuknüpfen, indem er die Wirtschafts- und politische Krise ausnutzte. Auf welche Art und Weise wurde Russland Lukaschenkos Stütze und Bürge? Und was waren die Beweggründe der Entscheidungsträger in Kreml?

Die Unterstützung für Lukaschenko rührte vor allem daher, dass die Kreml-Eliten verstanden hatten, dank Lukaschenko Belarus weiterhin kontrollieren zu können. Russland manipulierte mit der Idee eines Bundesstaates, die man bereits in der zweiten Hälfte neunziger Jahre zu implementieren begann, und wollte sicherstellen, dass Minsk unter dem militärischen, politischen und wirtschaftlichen Einfluss bleibt.

Lukaschenko war an der Erarbeitung und Umsetzung der einschlägigen Abkommen sehr aktiv beteiligt. In diesem Zeitraum fiel die Russische Föderation auseinander und es war auch von großer psychologischer Bedeutung, Belarus beizubehalten. Russland bekam die Chance zu zeigen, es kann immer noch anziehen und nicht nur verlieren.

Die Integration war für Lukaschenko auch ein Weg, eigene Ambitionen und Interessen durchzusetzen. In seinen Reden machte er keinen Hehl daraus, dass er Präsident eines Bundesstaates werden möchte. Er wollte nach Russland und nach Kreml eben dank diesem Projekt kommen, indem er Belarus – und zwar an Russland – verkauft.

Glauben Sie, dass es realistisch war? Also wenn es Wladimir Putin nicht gegeben hätte, könnte dann Lukaschenko heute in Kreml regieren?

Ich kann es nur schwer sagen, inwieweit so eine Entwicklung wahrscheinlich gewesen wäre. Ich bin aber sicher, dass Lukaschenko selbst daran stark glaubte und alles machte, um sie zu verwirklichen. Es genügt, sich daran zu erinnern, welch aktive Rolle Lukaschenko einst in der Innenpolitik Russlands spielte. Er informierte nicht nur Boris Jelzin und die Präsidialverwaltung, er bereiste diverse Regionen Russlands und traf lokale Amtsträger.

Im Vergleich zu dem alternden Boris Jelzin sah Lukaschenko, zumindest für einen Teil der russischen Wählerschaft, sehr attraktiv aus. Ein Teil der Gesellschaft glaubte, er könne auch für Ordnung in Russland sorgen, wenn er es in Belarus geschafft hatte. Trotzdem bezweifle ich, ob er tatsächlich in der Lage gewesen wäre, solch ein Riesengebiet zu führen.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

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Autoritäres Regime in Belarus – Evolution einer politischen Aggression

Pavel Usov · 23 November 2021

2020 wurde das autoritäre Regime in Belarus mit einer der tiefsten und größten politischen Krisen in seiner Geschichte konfrontiert. Die Quelle der Krise waren massenhafte Fälschungen während der Präsidentschaftswahlen, die nicht nur die Legitimierung des Präsidenten Alexander Lukaschenko infrage gestellt haben, sondern auch wie ein Erdbeben für den gesamten Staatsapparat und für das öffentliche System der Republik waren. In den kommenden Jahren werden die Folgen unausweichlich die interne Lage in Belarus sowie dessen internationale Position beeinträchtigen.

Obwohl die Ereignisse in Belarus 2020 für das autoritäre System verheerend waren und es schien, Lukaschenko-Regime würde bald fallen, ist es dem Regime doch gelungen, zu überleben, stärker zu werden und – in dieser Phase – die größte interne Gefahr zu neutralisieren. Darüber hinaus änderte sich seine politische Struktur und Funktionsweise diametral.

Politischer und kultureller Hintergrund der autoritären Macht in Belarus

Der Grund für solche Vitalität des autoritären Regimes ist sein Charakter sowie kulturelle und politische Umstände, welche die seit 27 Jahren in Belarus bestehende Diktatur begleiten.

In dieser Zeit machte die undemokratische Machausübung Lukaschenkos einige große Wandel durch. Einst hibrid, wurde sie nun neototalitär. Die Eigenart eines neototalitären Systems besteht im allgegenwärtigen politischen Terror, der nach dem Verlust des gesellschaftlichen Zuspruchs durch die jetzige Staatsführung eine Zerschlagung der gesellschaftlichen Autonomie im Bereich der Ideologie, Kultur, Information und Organisation anstrebt, um an der Macht zu bleiben. Es sei darauf hingewiesen, dass Fälschungen und Repressionen immer die Hauptinstrumente der politischen Macht Lukaschenkos waren, wie es übrigens bei einem jeden autoritären Regime der Fall ist. Fälschungen bei Präsidentschaftswahlen 2006 und 2010 führten zu Protesten, gegen die die Behörden sehr hart vorgegangen sind. Der Unterschied bestand darin, dass bei den früheren Wahlen das belarussische autoritäre System weder mit dem Verlust der Legitimation und noch mit der allgemeinen Ablehnung des Leaders konfrontiert wurde. Einerseits führten diese Umstände nach den letzten Wahlen zu einer tiefen politischen Krise, andererseits brachten sie die Regierenden dazu, brutale Repressionen und Massenterror landesweit einzusetzen. Ihr Ziel war es, das „Oppositionelle” als Bestandteil des öffentlichen Lebens abzuschaffen und die Bürger zum absoluten Gehorsam zu bewegen.

Alexander Lukaschenko kam an die Macht, als die belarussische Gesellschaft dabei war, demokratischen Wandel des Staates zu starten. Seit der Unabhängigkeitserklärung 1991 sind bis zu den ersten Präsidentschaftswahlen 1994 gerade drei Jahre vergangen. Vorher waren heutiges Belarus und dessen Bevölkerung mehrere Jahrhunderte lang Teil der autoritären und totalitären Systeme, ohne eigenständiges Staatswesen und ohne politische Tradition, ohne eigenständige politische und wirtschaftliche Freiheiten.

Mit anderen Worten: die Belarussen hatten in ihrer Geschichte keine positive Erfahrung mit einer eigenen zivilgesellschaftlichen Unabhängigkeit und Staatlichkeit. Die Bevölkerung von Belarus war meistens Gegenstand der Politik und kein politischer Akteur.

Die fehlende Subjektivität der Gesellschaft bot Voraussetzungen für einfache Manipulation, nicht nur die der öffentlichen Meinung, sondern auch in Bezug auf den Stellenwert der Behörden und der Gesetze. Die letzteren hatten keinen Wert für die Bürger, da sie lediglich Objekte der geführten Politik ohne eigene Gestaltungskraft waren. Im Endergebnis kam es Mitte der 90er Jahre zu raschen und negativen Veränderungen innerhalb des Landes, die zum Autoritarismus führten.

Hybrider Charakter der politischen Prozesse in Belarus bestand darin, dass der Aufbau von politischen Institutionen im Rahmen einer stark patriarchalischen, prosovietischen, autoritären politischen Kultur stattfand, die das kollektive Bewusstsein des überwiegenden Teiles der belarussischen Gesellschaft prägte. Unter diesen Bedingungen bleiben die Effizienz und Nachhaltigkeit der demokratischen politischen Institutionen sowie die der bürgerlichen Freiheiten (Rechtsvorschriften) immer zweifelhaft. Darüber hinaus ist anzumerken, dass die institutionelle und gesellschaftliche Transformation in eine Zeit der außerordentlich schwierigen wirtschaftlichen Umgestaltungen fiel. Dies muss sich auf die Erwartungen und auf die Weltanschauung der einfachen Bürger ausgewirkt haben, für welche Demokratie und Freiheit leider zu Synonymen des sozialen Chaos und Anarchie wurden.

Selbst heute versucht Lukaschenko, das kollektive Bewusstsein zu manipulieren, indem an apokalyptische Szenen erinnert und den Belarussen Angst mit den „neunziger Jahren“ einjagt.

„Wiktar Schejman (Chef in der Kanzlei des Präsidenten von Belarus) erinnert sich an Zeiten, in denen Brotmangel herrschte und die Nation nichts zu essen hatte. Häufig erinnere ich mich an die Zeit, als wir 1994 in Minsk Brotmehl für lediglich drei Tage vorrätig hatten. Das waren wirklich schwere Zeiten”. Mit solchen Argumenten versuchen der Diktator und sein Propagandaapparat, die Aufrechterhaltung einer starken autoritären Regierung als der einzigen Garantie der Stabilität und der Unantastbarkeit des Staates zu begründen, während die Belarussen ihre Bürgerrechte nicht wahrnehmen können.

Blicken wir aber auf die Anfänge der Diktatur, auf die Wahlen 1994 zurück. Im Prinzip ruhte Lukaschenkos Wahlprogramm auf offenem Populismus, auf dem Versprechen einer Rückkehr ins sozialistische Paradies und in die wundervolle Vergangenheit.

Populismus, scharfe Kritik an der sog. Nomenklatura, also den Altkommunisten, die sich unter den geänderten Bedingungen neu etabliert hatten, prosowjetischer und prorussischer Kurs mit antinationalen Akzenten wurden zu den wichtigsten Programmpunkten seiner Machterlangung. In gewisser Weise war es ein Produkt der im Bewusstsein der belarussischen Gesellschaft, die einen starken Staat und Ordnung wollte, präsenten patriarchalischen Weltordnung. „Die Gesellschaft erwartete, dass Ordnung in dem Sinne geschaffen wird, wie sie in der Sowjetunion existierte”. Ordnung, Gerechtigkeit – das waren Lockvögel, die die Belarussen in den Bann des stufenweise fortschreitenden Verzichts auf Freiheit und Demokratie, des Aufbaus eines autoritären Staates zogen, welcher die Ordnung garantieren sollte. Die belarussische Gesellschaft wurde zum Nährboden für die politische Diktatur.

Konsolidierung eines neuen Autoritarismus in Belarus: Praxis und Methoden des Machtkampfes 

Nach seinem spektakulären Sieg (80 Prozent der Stimmen in der Stichwahl) begann Lukaschenko den Ausbau seines populistischen Fundaments für die Zerlegung demokratischer Mechanismen in Belarus. Mitgetragen wurde dies nicht nur durch die öffentliche Meinung, sondern auch durch die Existenz breiter Kreise der Nomenklatura auf allen Ebenen des Staates, die nach rascher Umorientierung den Interessen des Präsidenten dienen wollte. In der ersten Phase wurden zum wichtigsten Schritt der Machtergreifung in Belarus Referenden 1995 und 1996, mit denen die verfassungsrechtliche Ordnung geändert und dem Präsidenten Lukaschenko uneingeschränkte Befugnisse eingeräumt wurden.

Für ihn und für sein Umfeld war das Referendum aus dem Jahre 1995 eine Art Experiment – ein Versuch der Einschätzung der politischen Situation sowie eine Prüfung, inwieweit die Gesellschaft, intellektuelle Eliten und andere politische Institutionen (Parlament, Verfassungsgericht) in der Lage sein werden, die Gefahr zu erkennen und die Machtergreifung abzuwenden. Lukaschenko stellte der Gesellschaft vier Fragen: nach Anerkennung der russischen Sprache als Staatssprache, nach Änderung der Staatssymbole (Wiederherstellung der eklektischen Symbolik der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik), nach wirtschaftlicher Integration mit der Russischen Föderation und nach der Ermächtigung des Präsidenten, das Parlament auflösen zu dürfen.

Der sowjetische Geist, fehlende nationale Elite sowie politische Unreife der belarussischen Gesellschaft ebneten Lukaschenko den Weg zur absoluten Herrschaft. Die meisten Abgeordneten des Obersten Rates der Republik Belarus (des Parlamentes) unterstützten die Initiative des Präsidenten und die meisten Bürger sprachen sich für alle seine Vorschläge aus. Folglich begann das Land sehr rasch, in Autoritarismus zu geraten.

Es lohnt sich auch, auf einen anderen Aspekt des Gestaltungsprozesses der belarussischen Diktatur und zwar auf die Machtgier von Lukaschenko selbst hinzuweisen. Eben dieser Aspekt war in den kritischsten Momenten der neuesten Geschichte von Belarus entscheidend. Nahezu seit den ersten Amtsstunden war die Macht für Lukaschenko der oberste Wert, für den er bereit war, alles zu tun. Gewalt und Extermination der politischen Gegner wurden zu ständigen Begleitern des Diktators. Noch 1995 widersetzte sich eine Abgeordnetengruppe der Partei Belarussische Volksfront unter der Leitung von Sjanon Pasnjak und der Belarussischen Sozialdemokratischen Hramada von Aleh Trusau dem Referendum, sie trat in den Hungerstreik und blieb in der Nacht von 11. auf 12. April 1995 im Gebäude des Obersten Rates. Auf direkten Befehl von Lukaschenko wurden sie durch den Sicherheitsdienst und eine Spezialeinsatztruppe der Volkspolizei OMON, unter Missachtung jeglicher Rechte und der Immunität der Abgeordneten, zusammengeschlagen und gewaltsam aus dem Sitzungssaal weggebracht.

Absolute Passivität des Obersten Rates, der anderen staatlichen Behörden (der Staatsanwaltschaft) und der Gesellschaft nach diesem Vorfall verlieh Lukaschenko psychologisch die Selbstsicherheit und Handlungskraft. Gleichzeitig stellte es sich heraus, dass es in seinem Umfeld Leute gab, die bereit waren, jedem, auch einen rechtswidrigen Befehl zu folgen.

Auch dann wurde damit begonnen, Militärtruppen zu bilden, die Lukaschenko für seine eigenen politischen Ziele einsetzte. Es soll vermerkt werden, dass diese Truppen (OMON, Sicherheitsdienst) ihre Arbeit ein Jahr nach Machterlangung von Lukaschenko aufgenommen hatten. Deswegen sollte die Brutalität und der offen terroristischer Charakter der Aktivitäten dieser Strukturen in den Jahren 2020–2021 niemanden wundern, das System der Repressionen funktioniert in Belarus seit Jahren.

Das Referendum im Jahre 1996 war der zweite Wendepunkt in der Einführung der totalitären Ordnung in Belarus. Die Entscheidung Lukaschenkos, das zweite Referendum zu organisieren, war eine Folge der schweren Konfrontation zwischen ihm und dem neu gewählten Obersten Rat der 13. Legislaturperiode, dessen Abgeordnete Initiativen des damaligen Präsidenten ziemlich kritisch eingeschätzt hatten. Deswegen wurden Fragen im Zusammenhang mit der Änderung der Verfassung in Form eines Referendums gestellt worden, während es in Wirklichkeit der Entwurf einer neuen Verfassung war, mit der dem Präsident unbeschränkte Befugnisse bekam. Lukaschenkos Handeln führte zu einer schweren politischen Krise im Lande, die Abgeordneten des Obersten Rates beantragten ihrerseits am 19. November 1996 beim Verfassungsgericht, gegen Alexander Lukaschenko ein Amtsenthebungsverfahren wegen systematischer Verletzung der Verfassung und der Rechtsnormen der Republik Belarus einzuleiten. Im Zeitraum von 1995–1996 stellte das Verfassungsgericht fest, dass sechzehn Dekrete des Präsidenten mit der Verfassung bzw. mit der Gesetzgebung der Republik Belarus unvereinbar sind.

Die Zuspitzung der Situation resultierte daraus, dass der Präsident auf verbindlichen Charakter der Referenden bestand, d.h. dass die neue Verfassung und – folglich – neue politische Ordnung sofort nach dem Referendum in Kraft tritt. Der Oberste Rat und andere politischen Organe wollten dem nicht zustimmen.

In diesem für das Land und für die Gesellschaft historischen Moment des Umbruchs haben folgende schlüsselwichtige Faktoren es Lukaschenko ermöglicht, sein Vorhaben zu realisieren:

1. Starker politischer Wille und Determinierung von Lukaschenko selbst;

2. Schwäche, mangelnder politischer Wille, Mangel an Führungspersönlichkeiten und Verantwortung sowie fehlende Verständigung unter den Lukaschenko-Gegnern, die es nicht vermochten, geschlossen aufzutreten. Gleichzeitig begannen in Minsk Proteste und ein Teil der Bevölkerung war bereit, sich für die Verfassung einzusetzen. Anstatt von Anfang an zu versuchen, das Referendum für nichtig zu erklären, formulierten die Abgeordneten alternative Fragen und bestätigten somit die Verfassungsmäßkeit des politischen Projektes von Lukaschenko;

3. Hoffnungen, dass Moskau bei der Konfliktlösung helfen wird.

In gewissem Maße konnten wir gleiche Prozesse und psychologische Züge der politischen Akteure während der Belarus-Krise 2020 beobachten.

1996 hatte die postkommunistische Nomenklatura im Obersten Rat und in anderen regierungstreuen Strukturen nicht genug Mut und Wille, Lukaschenko zu stoppen. Ein damaliger Politiker und Abgeordneter Metschyslau Hryb schilderte: „Wir standen kurz vor einem Bürgerkrieg, wir waren nie so kurz davor wie damals. Er [Lukaschenko] hätte die Macht sicherlich nicht abgegeben. Es wäre zu einer militärischen Konfrontation gekommen”. Diese Worte kann man eher als einen Versuch deuten, eigene Tatenlosigkeit und Schwäche zu rechtfertigen. In dieser Zeit hatte Lukaschenko nicht die ausreichende Ressourcen, um die Macht mit Gewalt zu erhalten. Die Aktivitäten des Obersten Rates waren teilweise eine mechanische Reaktion auf Lukaschenkos Politik, ein Abwehrinstinkt. Politiker, die mit einer solch schwierigen Herausforderung nie konfrontiert wurden, hatten die Hoffnung, dass sich die Lage von selbst lösen wird. Eine weitere politische Illusion waren die mit Moskau verbundenen Hoffnungen.

Im November 1996 kam nach Minsk eine Delegation ranghoher Politiker mit dem damaligen Ministerpräsidenten Wiktor Tschernomyrdin an der Spitze, um die politische Krise in Belarus zu lösen. Am 22. November 1996 unterzeichneten der Vorsitzende des Obersten Rates Semjon Scharetzki und der Präsident Alexander Lukaschenko eine Vereinbarung über die gesellschaftliche und politische Situation und über die Verfassungsreform in der Republik Belarus. Vereinbarungsgemäß verpflichteten sich die Abgeordneten, das Amtsenthebungsverfahren zu beenden und Lukaschenko stimmte einem rein beratenden Referendum zu.

Nichtsdestoweniger nutzte Lukaschenko die Verhandlungen und die Vereinbarung ausschließlich dazu, öffentliche Anspannung abzubauen, Rivalen zu desorientieren und eigene Ressourcen zu mobilisieren. Es gelang ihm nicht nur, das Referendum mit einem für ihn – dank direkten Fälschungen und Manipulationen – positiven Ausgang durchzuführen (der Verfassungsentwurf wurde von 70 Prozent der Bevölkerung unterstützt), um die neue Verfassung in Kraft zu setzen.

Nachdem in der Republik ein neues Staatssystem und eine neue Form der Machtausübung eingeführt wurden, wurde zusätzlich mit der neuen Verfassung die bisherige Amtszeit Lukaschenkos zurückgesetzt und somit die nächste Präsidentschaftswahl nicht für 1999, sondern für 2001 anberaumt.

Der Einführung der „neuen Verfassung“ begegnete kein großer Widerstand in der Gesellschaft, deren Mehrheit der Idee der „harten Hand“ wohlwollend entgegensah oder politikverdrossen, passiv war und ihre Anstrengungen auf das wirtschaftliche Überleben fokussierte.

Das Referendum 1996 wird als verfassungsfeindlicher, von Lukaschenko organisierter Umsturz anerkannt. Nach 1996 sind seine Aktivitäten und Entscheidungen der politischen Staatsorgane formell gesehen rechtswidrig.

Mit der Umsetzung der Ergebnisse des Referendums endete die erste Entstehungsphase des autoritären Systems in Belarus, also die Phase der Machtkonsolidierung um Lukaschenko. Die zweite Phase bestand in der Institutionalisierung des autoritären Systems, indem einerseits Institutionen zur Legitimation und Stabilisierung der autoritären Staatsordnung etabliert und gestärkt wurden und andererseits diese politischen und gesellschaftlichen Institutionen abgebaut wurden, die in der Lage wären, Lukaschenkos Macht zu destabilisieren. Dieser Prozess umfasste die physische Eliminierung politischer Regimegegner.

Institutionalisierung des autoritären Staates und dessen Gesellschaft

Der Prozess der Institutionalisierung des autoritären Systems dauerte von 1996 bis 2004. Es wurde ein präsidentielles Regierungssystem eingeführt. Dekrete und Edikte Lukaschenkos besaßen Rechtskraft und bedurften nicht der Unterstützung der Volksversammlung (des ehemaligen Obersten Rates), die nur noch formell existiert und keinen Einfluss auf das politische Geschehen im Lande hat. Lukaschenko konnte die Vorsitzenden der städtischen und regionalen Exekutivkomitees ernennen und die Autonomie der Kommunalbehörden komplett einschränken. Auf diese Art und Weise entstand eine stark zentralisierte präsidentielle Machtstruktur, die zur Hauptressource nicht nur bei einer solchen Vorbereitung der Wahlkämpfe, die die erwünschten Wahlergebnisse sondern auch Erfolge im Kampf gegen die Opposition in Belarus sichert. Die Institutionalisierung des autoritären Systems sicherte die interne Loyalität und Mobilisierung der Nomenklatura, sie war auch der wichtigste Bürge der Kraft des Regimes für die Krisenzeiten. Eben diese Komponente spielte in Verbindung mit der Gewaltkomponente der Staatsmacht eine wichtige Rolle bei der Machterhaltung Lukaschenkos 2020 ab.

Autoritäre Institutionalisierung umfasst eine absolute Unterordnung der Justiz und Verwandlung der Justiz in einen Mechanismus der politischen Repressionen sowie die Errichtung von quasi-zivilgesellschaftlichen Strukturen und Organisationen, deren Aufgabe darin besteht, die Legitimität der Staatsmacht zu bestätigen und einen ideologischen Einfluss auf die jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen auszuüben.

Soweit von den quasi-zivilgesellschaftlichen Organisationen die Rede ist, sollte auf folgende Organisationen hingewiesen werden:

– belarussische Pionierenorganisation. Sie ist in den Grund- und Mittelschulen aktiv, die Mitgliedschaft (derzeit ca. 400 Tausend Mitglieder) ist obligatorisch, sie beschäftigt sich mit der ideologischen und patriotischen Erziehung der Schüler.

– Belarussische Republikanische Junge Union (BRJU). Pendant zu Komsomol (Komsomol: Gesamtsowjetischer Leninscher Kommunistischer Jugendverband). Bis 2020 – 500 Tausend Mitglieder, Mitgliedschaft obligatorisch. Die Organisation beschäftigt sich mit der ideologischen Indoktrination der Mitglieder, wird in die Unterstützung der Wahlprozesse involviert;

– parteiähnliche Organisation Belaja Rus, bis 2020 mit ca. 100 Tausend Mitgliedern;

– staatliche Föderation der Gewerkschaften in Belarus, ihre Mitglieder sind fast alle Mitarbeiter des staatlichen Wirtschaftssektors. Es muss unbedingt vermerkt werden, dass unabhängige Strukturen und Organisationen in staatlichen Institutionen und Unternehmen (Universitäten, Betriebe usw.) verboten sind.

Ein weiterer Schritt in der Bildung der internen Verankerung des Systems und der Erweiterung der Kontrolle bestand in der Vorbereitung und Einführung der sog. „Ideologie des belarussischen Staates”, deren Anfänge in das Jahr 2001 zurückreichen. Auf diese Art und Weise reagierten die Behörden auf Präsidentschaftswahlen in Belarus, die zwar keine politische Krise verursacht hatten, aber zu einer großen Herausforderung für Lukaschenko geworden waren. Er begriff damals, dass ohne tief verankerte Strukturen, ohne eine breite politische und ideologische Unterordnung das autoritäre System nicht in der Lage sein wird, fortzubestehen. Was Lukaschenko schnell und effizient machen konnte, reduzierte sich darauf, auf die politischen Erfahrungen der Sowjetunion zurückzugreifen. Eine wissenschaftliche Definition der Ideologie des belarussischen Staates kann nur schwer formuliert werden. Offizielle Wissenschaftler erläutern dieses Konzept wie folgt:

„Die Ideologie des belarussischen Staates ist ein Zusammenspiel der Ideen und Ideale, die die national-historischen Traditionen und Werte der belarussischen Nation, die grundlegenden Ziele der gegenwärtigen Entwicklung der belarussischen Gesellschaft widerspiegeln. Die staatliche Ideologie wurde etabliert, um eine nachhaltige gesellschaftliche, wirtschaftliche und geistige Entwicklung der Republik Belarus zu unterstützen und die Stärkung der sozialen Eintracht zu fördern”.

Hinter dem Komplex der Theorien und historischer Exkurse verbirgt die staatliche Ideologie lediglich eine wichtige Botschaft: das von Lukaschenko aufgebaute politische System ist die Grundvoraussetzung für die stabile Existenz der Bürger. Seit knapp zwanzig Jahren versuchen die Behörden, die Belarussen davon zu überzeugen, dass das Land ohne Lukaschenko aufhört zu existieren.

Die Ideologie des belarussischen Staates wurde als Bestandteil der Curricula an Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen eingeführt und der ideologische Bereich wurde zu einem weiteren Teil der Kontrolle nicht nur im Bereich Verwaltung und Management, sondern auch in allen staatlichen Strukturen, darunter in staatlichen Unternehmen. Selbstverständlich ist es heutzutage eher schwierig, die Menschen zu zwingen, eine ideologische Botschaft unreflektiert hinzunehmen, aber das Hauptziel der „ideologischen Praktiken“ war es, absolutes Gehorsam zu etablieren und tadellose Umsetzung von selbst absurdesten Anweisungen zu erreichen.

Trotz der Krise aus dem Jahre 2020 kann man nicht sagen, dass regierungstreue quasi-zivilgesellschaftlichen Organisationen, staatliche Ideologie und Propaganda versagt hätten. Die Atomisierung der Gesellschaft, fehlende soziale und berufliche Solidarität, zivilgesellschaftliche Passivität waren die Einflussfaktoren, die es bewirkten, dass die Proteste und Streiks 2020 nicht landesweit stattfanden und das System den starken politischen Schlägen standhalten konnte. Ohne Ergebenheit und Loyalität von Tausenden, die dem Regime in der Hauptstadt und in sonstigen Regionen des Staates dienten, wäre doch eine Politik des Terrors und der Säuberungen heutzutage unmöglich.

Propaganda, ideologische Manipulation und administrative Kontrolle schufen wiederum den politischen Raum für systemische Repressionen gegen Regierungsgegner. Für politische Repressionen ist ein enormes Gewaltapparat zuständig: das Komitee für Staatliche Sicherheit, das Innenministerium, Spezialtruppen der Volkspolizei OMON, Hauptabteilung des Innenministeriums für den Kampf gegen Organisiertes Verbrechen und Korruption (HUBAZiK), Spezialeinheiten zur Terrorbekämpfung ALMAS, Inlandsstreitkräfte und auch der Sicherheitsdienst des Präsidenten. Der Apparat des unmittelbaren Zwangs ist durchaus bei physischer Auseinandersetzung mit den Opponenten beteiligt. Das Ermittlungskommitee, die Staatsanwaltschaft, die Gerichte schaffen „Rechtsgrundlagen” für die Repressionen. 2020 engagierte das Verteidigungsministerium seine Ressourcen noch stärker in intensive Einsätze zur Umsetzung der Terrorpolitik. Für den Repressionsapparat des belarussischen Regimes können u.U. über 200 Tausend Bedienstete arbeiten.

Lukaschenko scheute in den kritischsten Perioden seiner politischen Aktivität von brutalen Methoden der politischen Verfolgung nicht zurück – zuerst war es Mord und nun ging er zu politischen Prozessen über.

1999 wurden im Auftrag von Lukaschenko wichtigste Opponenten liquidiert, die für sein Regime eine Gefahr darstellten: Wiktar Hantschar (in der Vergangenheit ein Verbündeter von Lukaschenko, Vorsitzender der zentralen Wahlkommission bis 1996, einer der Initiatoren des Amtsenthebungsverfahrens), Anatol Krasouski (Geschäftsmann, Anhänger von Hantschar), Juryj Sacharanka (ehemaliger Anhänger von Lukaschenko, Innenminister bis 1996). Die Umsetzung des Plans, die Politiker zu entführen und zu ermorden, übernahmen die Soldaten des Spezialeinsatzkommandos (SOBR) und der Antiterroreinheit Almas mit dem SOBR-Chef Dimitryj Pavlutschenko an der Spitze.

Im gleichen Jahr 1999 starb unter mysteriösen Umständen (an Herzinfarkt) Gennady Karpenko – Wissenschaftler, Abgeordneter, einer der wichtigsten Lukaschenko-Gegnern.

Seit Ende neunziger Jahre bis Anfang 2000 wurde die belarussische Justiz gewaltig umgestaltet und sie wurde zum Instrument der politischen Repressionen im Land. In Belarus schützt das Gesetz den Bürger vom staatlichen Amtsmissbrauch nicht mehr, insbesondere wenn es um politische Fragen geht. Das Gesetz wurde, mit der gesamten Justiz, zum festen Bestandteil der autoritären Staatsordnung.

Erste bekannte politische Prozesse gab es nach den Präsidentschaftswahlen 2001.

In der Regel endeten jede Wahlen mit einer Repressionswelle und der Zuspitzung des autoritären Regierungsstils. Das Gesetz und die Justiz wurden immer mehr repressiver. Besonders harte Repressionen trafen diejenigen, die Lukaschenko den Rücken kehrten und zu seinen Gegnern wurden. Lukaschenko wertete als Verrat ähnliches Verhalten von Personen, die ihm vermeintlich ihre Karriere verdankten. Schauprozesse gegen unbotmäßige Vertreter der obersten Machtebenen sollten alle anderen Funktionäre zur absoluten Loyalität und Unterordnung zwingen.

1999 inhaftiert und 2001 verurteilt wurde der ehemalige Ministerpräsident Michail Tschyhir, der nach dem Verfassungsstreich 1996 sein Amt niederlegte und sich der Opposition anschloss. Am 16. Mai 1999 kandidierte Tschyhir als einer der Oppositionspolitiker in den Präsidentschaftswahlen (dieses Jahr sollten die Wahlen gemäß der Verfassung aus dem Jahr 1994 stattfinden), die von Wiktar Hantschar organisiert wurden.

1999 fand auch der Prozess des ehemaligen Landwirtschaftsministers Siarhiej Lawonau statt, der wegen Korruption angeklagt und zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Auch diesmal war es ein Schauprozess gegen einen politischen Gegner aus den Reihen der Nomenklatura, mit dem versucht wurde, den Machtapparat zur Loyalität gegenüber Lukaschenko zu zwingen. Solche Vorgehensweise wurde zur natürlichen Praxis bei der Umsetzung der Innenpolitik des Präsidenten. Sobald eine Person (Politiker oder Geschäftsmann) aus dem Umfeld von Lukaschenko anfängt, gegen Interessen bzw. Erwartungen Lukaschenkos zu agieren, hat diese Person mit der Rache zu rechnen. Eines der deutlichsten Beispiele kann das Schicksal von Juryj Tschysch sein, der lange Jahre zum Kreis der mit Lukaschenko befreundeten Unternehmer gehörte. 2016 wurde er durch KGB inhaftiert und seine Geschäfte wurden komplett ruiniert. Nach einer der Versionen soll er versucht haben, Kapital aus Belarus zu transferieren. Ein weiteres Mal wurde Tschysch im Oktober 2021 festgenommen.

Unter den politischen Aktivisten, die in das Räderwerk der Justizrepressionen Ende neunziger und Anfang Nullerjahre geraten waren, können Andrej Klimau, Michail Marynitsch, Mikalaj Statkewitsch und Pawel Sewjarynez genannt werden. In den darauffolgenden Jahren stieg die Zahl der politischen Gefangenen intensiv. Die Konfrontation des Systems mit der Gesellschaft endete immer nicht nur mit der Verschärfung der Repressionen, sondern auch mit der Einschränkung der Handlungsspielräume und mit der Verschlechterung der Lebensumstände der Gesellschaft. Das belarussische Strafgesetzbuch und das Bürgerliche Gesetzbuch wurden wiederum immer mehr politisch geprägt.

Eine Zäsur bildete in diesem Sinne das Jahr 2006, in dem weitere Präsidentschaftswahlen stattfanden, die zu Massenprotesten und Ausschreitungen in Minsk führten. Während des Wahlkampfes und der Ereignisse im März anlässlich des Tages der Freiheit (am 25. März 1918 wurde die Unabhängigkeit der Belarussischen Volksrepublik ausgerufen, Lukaschenko erkennt dieses Jubiläum nicht) wurden etwa eintausend Personen festgenommen und verurteilt, viele von ihnen wurden durch die Volkspolizei zusammengeschlagen. Über 300 Studierende wurden exmatrikuliert.

Damals wurde ebenfalls der ehemalige Rektor der Belarussischen Staatlichen Universität Aljaksandr Kasulin, der damals in den Präsidentschaftswahlen kandidierte, festgenommen und zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Im gleichen Jahr wurden Änderungen im Strafgesetzbuch mit der Absicht eingeführt, die zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen, die eine potentielle Gefahr für das System darstellten, vollständig zu lähmen.

Hierzu wurden im Strafgesetzbuch folgende Artikel hinzugefügt:

Artikel 193.1 „Teilnahme an Vorbereitungen von Aktivitäten einer nicht registrierten gesellschaftlichen bzw. konfessionellen Organisation oder Stiftung”. Wer diesen Artikel verletzt, wird mit einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 3 Jahren bestraft.

Art. 239 „Vorbereitung von Personen für Teilnahme an Unruhen und Finanzierung von solchen Aktionen”. Das wird mit einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis 3 Jahren geahndet.

Art. 361 „Aufstachelung zur Übernahme der Staatsmacht”, Haftstrafe von 6 Monaten bis zu 3 Jahren.

Art. 369.1 „Diskreditierung der Republik Belarus, Übermittlung von unwahren, Republik Belarus oder deren Behörden kompromittierenden Informationen betreffend politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, militärische und internationale Situation in der Republik Belarus an einen fremden Staat, eine ausländische oder internationale Organisation”. Haftstrafe von 6 Monaten bis 2 Jahren.

Alle diesen Maßnahmen hatten zum Zweck, den psychologischen und politischen Druck zu erhöhen, aber im hohen Maße waren sie auf die Opposition ausgerichtet.

2006 wurden auf der Grundlage von Art. 193.1 („Aktivität einer nicht registrierten Organisation”) einige Personen verurteilt. Für anderthalb Jahre wurde um seine Freiheit der Chef der oppositionellen Jugendorganisation Junge Front  Dmitry Daschkiewitsch gebracht.

Während der Präsidentschaftswahl 2010 wiederholte sich diese Situation. Zivilgesellschaftliche Versuche, eine Änderung der politischen Ordnung in Belarus demokratisch herbeizuführen, endeten mit Massenrepressionen.

Am Tag der Abstimmung und an den darauffolgenden Tagen wurden über 700 Personen festgenommen und fast alle Präsidentschaftskandidaten der Opposition zusammengeschlagen. Strafverfahren wurden gegen 38 Personen, darunter gegen fünf Kandidaten, eingeleitet.

Die belarussische Gesellschaft geriet in eine Zeit des politischen Terrors, der mit unterschiedlicher Intensität bis 2014 dauerte, als infolge der Entwicklungen in der Ukraine der Westen seine Einstellung zu Alexander Lukaschenko änderte und die Innenpolitik der belarussischen Behörden modifiziert wurden.

Doch weder der „Dialog mit dem Westen” noch das Tauwetter führten zur Änderung der internen Struktur des politischen Systems und des Charakters der Politik von Lukaschenko. Das System blieb nach wie vor hart und repressiv und Lukaschenkos Vorgehen weiterhin brutal. Dies wurde während der Krise um den von Lukaschenko erlassenen sogenannten Dekret Nr. 3 – „Dekret zur Vorbeugung der Erschleichung von Sozialhilfeleistungen” – sichtbar.

Andererseits stellte die belarussische Opposition infolge der Repressionen und des methodischen Abbaus der öffentlichen Aktivitäten keine Gefahr mehr für die Behörden dar. Systemische Krise innerhalb der politischen Organisationen sowie deren rapide Degradation trugen dazu bei, dass sie von den Behörden für eigene Zwecke effizient missbraucht werden konnten. So geschah es eben bei den Präsidentschaftswahlen 2015 und 2020, als die Oppositionsparteien und -organisationen „Urwahlen“ organisierten. Diese Initiative zeigte die absolute Ohnmacht der belarussischen Opposition, gewissermaßen ihren politischen Tod.

Andererseits führte die illusorische Demokratisierung, die Erweiterung der Handlungsspielräume für zivilgesellschaftliche Aktivitäten bei einem Teil der Bevölkerung die Hoffnung herbei, eine politische Wende wäre möglich. Diese Erwartungen gewannen an Intensität mit dem überraschenden Erscheinen neuer politischen Akteure: Wiktar Babaryka, Sergei Tichanowski und Waleryj Zepkala.

Militarisierung des politischen Systems und Einführung von Mechanismen (neo)totalitärer Kontrolle

Enthusiasmus und Hoffnungen der Belarussen prallten 2020 auf ein gut organisiertes und funktionales System, auf starren politischen Willen des Diktators, der ohne zu zögern alle möglichen Mittel zur Bekämpfung der Proteste und der Revolution einsetzte.

Politische Krise, Zusammenbruch der Wählergunst und Mangel an Legitimation zwangen Lukaschenko dazu, breit angelegten Terror und Säuberungen im Machtapparat zu starten. Dieser Prozess änderte sehr schnell den Charakter und die Eigenart des politischen Systems, das binnen eines Jahres von Neoautoriarismus zu Neototalitarismus mutierte.

Als neototalitäre Staatsordnung kann ein Modell bezeichnet werden, das nach Verlust des Wählervertrauens gezwungen ist, sich ausschließlich auf Gewalt, auf weit angelegten Repressionen und auf Terror bei intensiver politischer und ideologischer Kontrolle in allen Bereichen des öffentlichen Lebens sowie fast vollständiger Abschaffung der Informations- und politischen internen Autonomie im Lande zu stützen.

Eine Eigenart des neototalitären Systems, das sich langsam in Belarus etabliert, ist das Ausbleiben einer gezielten physischen Exterminierung der ideologischen Gegner sowie der Verzicht auf politische Reeducation der Einzelnen.

Es sei vermerkt, dass in Belarus einige Handlungsmöglichkeiten bestehen. Die Belarussen dürfen an ausgewählten Kulturveranstaltungen teilnehmen, sie haben Zugang zu Filmen, Literatur und Musik aus der ganzen Welt, sie dürfen sich frei bewegen – soweit ihre Wahlen nicht die politischen Fragen betreffen. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Individualisierung etwas ist, was in gewissem Maße mit der Atomisierung der Gesellschaft verglichen werden kann und bedeutet, dass sich das Individuum ausschließlich in eigene Belange engagieren soll und sich für die Politik nicht interessieren soll. Nach all den Jahren brachte ein solcher Ansatz Erfolge.

Andererseits wird die physische Extermination der „feindlichen“ Elemente durch die erzwungene Emigration der Belarussen ersetzt, die eine Folge der Repressionen gegen den in den Protesten 2020 politisch engagierten Teil der Gesellschaft ist. Nach unterschiedlichen Schätzungen verließen das Land binnen von einem Jahr nach den Wahlen über 100 Tausend Menschen. Und zwar trotz der eingeführten Ausreisebeschränkungen.

Somit eliminiert das Lukaschenko-Regime ziemlich erfolgreich den aktivsten Teil der Gesellschaft, die das System noch stärker destabilisieren könnte. Die Auswanderung ist eine direkte Folge des politischen Terrors im Lande.

Alleine in den ersten sechs Monaten nach den Wahlen in Belarus wurden ca. 30 Tausend Menschen festgenommen. Im Oktober 2021 gab es in Belarus über 880 politische Gefangene. Razzias, Festnahmen dauern bis heute an. Die Aktivitäten der Spezialeinheiten haben ihren Höhepunkt im September dieses Jahres erreicht, als während des KGB-Sturms ein Gegner der Wahlfälschungen Andrej Selzer in der eigenen Wohnung erschossen wurde. Ums Leben kam auch einer der Angreifer.

Terror zielt auf Ideologie und Information ab, was in totalitären Systemen immer präsent war. Repressionen treffen nicht nur die Teilnehmer der Proteste, sondern auch diejenigen, die alternative Informationsquellen organisieren, Informationen verbreiten (insbesondere diejenigen Informationen, die die Behörden als extremistisch eingestuft haben), Behörden bzw. Beamten der Spezialeinheiten in sozialen Netzwerken kritisieren. So wurden zum Beispiel nach der Ermordung von Andrej Selzer 136 Personen wegen Kommentaren zu diesem Vorfall und Kritik der KGB-Maßnahmen festgenommen. Bis 28. Oktober 2021 wurden 218 belarussische Profile und Chats im Nachrichtendienst Telegram als extremistisch eingestuft.

Auf diese Art und Weise wollen die Behörden das soziale Kommunikationsnetzwerk zerschlagen und schnellen Informationsaustausch innerhalb von Belarus lahm legen. Gleichzeitig werden alle mehr oder weniger unabhängigen elektronischen Medien gesperrt und der Zugang zu Informationswebsites, die im Ausland verwaltet werden, eingeschränkt.

In den Jahren 2020–2021 änderten sich wesentlich die Struktur der politischen Ordnung und deren Funktionsweise.

Vor allem nahm die Bedeutung der Spezialeinheiten bei zentralen Entscheidungsprozessen in der Politik und in der Verwaltung zu. Neu geschaffene Posten für die in den Bezirken Brest, Grodno und Minsk zuständigen Personen wurden von ehemaligen Chefs der Institutionen des Gewaltapparates besetzt. Es wurde operative Staatslenkung eingeführt, indem der Sicherheitsrat Befugnisse über die Verfassung hinaus bekam und zum faktischen Schattenkabinett wurde. Sicherheitskräfte etablieren sich auch stufenweise in den Führungsgremien der Hochschulen, um jegliche Anzeichen der Unzufriedenheit zu neutralisieren. So wurde zum Beispiel der ehemalige Kommandant der KBG-Spezialeinheit „Alfa” General Oleg  Tschernyschew zum Vizevorsitzenden im Präsidium der Nationalen Akademie der Wissenschaften ernannt. Diese Prozesse deuten auf die Bildung der neuen regierenden Klasse hin.

Es soll vermerkt werden, dass das Lukaschenko-Regime als eine typische totalitäre Staatsordnung einen breit angelegten Angriff auf den öffentlichen intellektuellen Bereich durchgeführt hat. Ob sich dabei um einen Versuch handelt, einen Raum für unreflektiertes Denken und intellektuelle Mittelmäßigkeit der Gesellschaft zu schaffen, ist schwer zu beurteilen. Sicherlich wollen aber die Behörden sämtliche Quellen der alternativen Meinungsbildung, intellektuelle Eliten zerschlagen, die mehr oder weniger ein starkes, geistiges Fundament für Veränderungen bilden. Aus diesem Grund werden bekannte belarussische Intellektuellen, Schriftsteller, Analytiker und Publizisten zur Ausreise gezwungen oder inhaftiert, wie es bei der Analytikerin Waleria Kostiuhowa und bei dem Philosophen Vladimir Matzkiewitsch der Fall war.

Der Mangel an Unterstützung in der Gesellschaft und die Krise der Legitimation zwangen Lukaschenko, die Kommunalwahlen im Jahr 2021 und die Parlamentswahlen im Jahr 2022 abzusagen. Doch in der Krise wurden selbst die lediglich formell existierenden, pseudodemokratischen Institutionen für das System gefährlich.

In den Jahren 2020–2021 wurden Säuberungen in allen staatlichen Institutionen, von Schulen und Universitäten bis hin zu Regierungsbehörden durchgeführt. Entlassen wurden alle, bei denen jedwede Anzeichen der mangelnden Loyalität gegenüber dem System beobachtet wurden. Gleichzeitig wurde politische und ideologische Kontrolle eingeführt, Anforderungen an Personen verschärft, die in staatlichen Behörden arbeiten wollen. Es wurde ein System zur Erfassung von detaillierten Informationen eingeführt, mit dem politische Sympathien der jeweiligen Person identifiziert werden sollen.

Mit dem Ausbau der politischen Überwachung der Bürger wollen die Behörden für die Zukunft Gehorsam und Loyalität sicherstellen.

Die neue Staatsordnung muss letztendlich formalisiert werden, indem die vom Diktator und von seinem Umfeld vorbereiteten Änderungen der Verfassung eingeführt werden. Von grundlegender Bedeutung wird für Lukaschenko sein, sich die Machterhaltung ohne Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen 2025 zu sichern. Dies soll geschehen, indem in der politischen Staatsordnung ein neues Organ namens Allbelarussische Volksversammlung einberufen wird. Diese Institution kann der Präsident oder dar höchste Staatsführer einrichten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die „neue Verfassung” den Mechanismus der Machtübergabe innerhalb einer Familie festlegen wird.

Die neue politische Ordnung, die sich in Belarus in den Jahren 2020–2021 herausgebildet hat, wird unverändert bleiben, solange Lukaschenko an der Macht bleibt. Die Regierenden wissen sehr wohl, dass es nicht möglich ist, nationale Eintracht zu erreichen und die Krise im Land zu lösen. Jedwede Lockerung des Terrors kann hingegen zu einer politischen Revolution führen. Und dies bedeutet, dass die Politik des Terrors und totalitäre Tendenzen fortgeführt werden, was wiederum die wirtschaftliche, kulturelle und soziale Entwicklung von Belarus sehr stark beeinträchtigen wird.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

 

 

 

Fot: Natallia Rak. Source: Flickr.

Latest / Wie baut man in Belarus eine Rechtsstaatlichkeit auf?

Aleksander Lukaschenko – Aluhut Nummer eins in Belarus

Filip Rudnik · 23 November 2021

Lukaschenko hat eine lange Reise in seinem persönlichen Umgang mit Covid-19 gemacht. Von Corona-Leugnung – mit Hinweisen auf eine Reihe von immunstärkenden Mitteln, wie auf dem Acker arbeiten, Eishockey spielen und Alkohol trinken – bis hin zu dem Zeitpunkt, in dem er selbst die mit dem Virus verbundene Gefahr nicht in Frage stellt. Das ist übrigens nichts verwunderliches, nachdem er – nach eigenen Angaben – selbst infiziert gewesen sei und nach einem ziemlich schwierigen Verlauf genesen sei.

Seine Infektion brachte den belarussischen Machthaber jedoch nicht zur Erkenntnis, die Ausbreitung des im Lande wegen der Delta-Variante herumtobenden Virus wirksam ausbremsen zu wollen.

Schlimmer noch – Lukaschenko scheint die Bemühungen des seit Wochen überlasteten staatlichen Gesundheitssystems mit Ignoranz zu torpedieren. Im Krieg, den er gegen seine eigene Nation seit August 2020 führt, wurde der Schauplatz aus den Straßen und Gefängniszellen in die Kranken- und Leichenhäuser verlegt.

Pandemisches Doppeldenken

Am 22. Oktober hatten die Behörden in Belarus die Maskenpflicht an öffentlichen Orten und in öffentlichen Verkehrsmitteln aufgehoben. Die Entscheidung wurde nach knapp zweiwöchiger Geltungsdauer der Einschränkung getroffen. Und obwohl es bei knapp 10 Millionen Einwohnern seit Anfang Oktober täglich rund zweitausend Neuerkrankungen gibt. Dies sind übrigens offizielle Daten, von Entscheidungsträgern entsprechend präpariert, um Panik zu vermeiden.

Von welchen Überlegungen ließen sich belarussische Behörden bei ihrer Entscheidung, die Bürger von der Maskenpflicht zu „befreien“, leiten? Waren es Studien, die die hypothetische Ineffizienz der Masken belegt hätten? Nein, nicht ein einziger Grund für die Aufhebung der Maßnahme wurde genannt.

Nicht unbedeutend ist aber dabei, dass drei Tage vor der Aufhebung dieser Maßnahme eine Regierungssitzung zur Lage im Gesundheitswesen stattgefunden hat. In der Sitzung traktierte Lukaschenko die Teilnehmer mit einer von den Propagandafunktionären aufgezeichneten Tirade. „Warum machen wir den Leuten Angst?!”, fragte der Diktator und führte weiter aus: „Warum machen wir so ein Spektakel im ganzen Lande? Warum wurde die ganze Volkspolizei auf die Beine gestellt, um für Einhaltung dieser Beschränkungen zu sorgen? Wer gab euch das Recht, die Menschen mit Bußgeldern zu bestrafen? In welchem Artikel steht es so geschrieben?!”. Er ging sogar weiter und ließ seiner aluhütigen Wut freien Lauf: „Ich habe gesehen, wie die Leute in Brest mit Gewalt, mit dem Knie festgehalten wurden und zur Impfung gezwungen wurden. Ich habe euch gebeten, so etwas nicht zuzulassen!”.

Wen meinte Lukaschenko, als er über den Impfzwang redete, wissen wir nicht, anscheinend ließ er sich von seiner Phantasie treiben. Trotzdem wurde die Botschaft sofort verstanden. Drei Tage nach der Sitzung wurde die Maskenpflicht abgeschafft. Mehr noch, binnen einer Nacht verschwanden in Minsk Sticker und Banner mit Informationen für die ÖPNV-Passagiere über die epidemiologische Gefahr. Der Diktator wischte mit einem Wort, wie ein Gott, das Virus weg.

Impfstoff made in Belarus 

Das belarussische Gesundheitsministerium appelliert unterdessen unbeeindruckt von den Worten seines Präsidenten an die Bürgerinnen und Bürger, sich impfen zu lassen – mit dem russischen Sputnik bzw. chinesischen Sinopharm, denn eben diese Vakzine werden im Lande angeboten. Die Vertreter des Ministeriums haben die Messlatte hoch angesetzt. Sie möchten im Endergebnis eine Impquote von 60 Prozent erreichen, während bis jetzt nur knapp über 20 Prozent der Belarussinnen und Belarussen die erste Dosis bekommen haben.

Für die Impfkampagne ist sicherlich auch die Tatsache nicht förderlich, dass die Regierenden widersprüchliche Botschaften aussenden. Die Mitarbeiter des Ministeriums appellieren und möchten die Bevölkerung impfen lassen, während ihr Vorgesetzter Gegenteiliges vertritt.

Lukaschenko will sich nämlich so lange nicht impfen lassen, bis ein heimisches, belarussisches Vakzin angeboten wird. „Sobald es auf dem Tisch liegt, legen wir sofort los: links, rechts und ins Bein – wohin es braucht, werden wir die Nadel stechen”, kündigte er an.

Vielleicht ist es so, dass die belarussische Gesellschaft wegen dem mageren Angebot an Vakzinen impfmüde ist, an deren Wirksamkeit im Vergleich zu den westlichen Produkten gezweifelt wird. Auf andere Vakzine ist jedoch nicht zu hoffen. Lukaschenko ist auf den Westen beleidigt und seine Rhetorik wird es einfach nicht zulassen, Vakzine aus Europa bzw. USA – selbst im Rahmen der humanitären Hilfe – zu kaufen. Was bleibt, ist also das Warten auf das heimische Produkt, dessen Vertrieb wie die Zukunftsmusik vorkommt.

Maske als Symbol der Opposition

Währenddessen hält Corona seine Ernte. In den belarussischen Kanälen bei Telegram werden Bilder aus den überfüllten Krankenhäusern veröffentlicht. Den notwendigen, in den Krankenhäusern jedoch ausgehenden Sauerstoff begann nun das Militär zu liefern. Die Mitarbeiter der Bestattungsinstitute aus ganzem Land berichten anonym über den sprunghaften Anstieg des Auftragsaufkommens. Nach ihren Aussagen gibt es keine Regel mehr – es sterben Menschen aus allen Altersgruppen, mit oder ohne Vorerkrankungen.

Auf die Entwicklungen im Inland antwortete die im Ausland lebende Opposition. Die informelle Anführerin der Opposition, Swetlana Tichanowskaja, bat alle in Belarus, sich impfen zu lassen, Masken zu tragen und soziale Distanz einzuhalten. „Es ist besser, heute die Maske zu tragen und sich impfen zu lassen, als morgen am eigenen Leibe zu erfahren, dass es in den Krankenhäusern keine freien Betten mehr gibt”, betonte Tichanowskaja.

Auf die Aufhebung des „Maskenzwangs” und auf die Aussage der Anführerin der Opposition folgte eine heftige Reaktion in der lukaschenkokritischen Informationslandschaft, als in den oppositionellen Medien und Telegram-Kanälen darauf hingewiesen wurde, dass das Einhalten der Corona-Maßnahmen ein Zeichen des Widerspruchs gegen das Regime ist. Es begann die Aktion unter dem Slogan „Wer keine Maske trägt, der unterstützt das Regime”.

Lukaschenko immer kurzsichtiger

Interessanterweise lieferte eben Lukaschenkos Coronaleugnung 2020 – als er sich über die Gefahr lustig machte – der Gesellschaft Nährboden für den Frust, der das Land letzten Sommer so überschwemmte.

Die belarussische Gesellschaft sah sich allein gelassen, was noch stärker das Vertrauen in die staatlichen Institutionen untergraben hatte. Selbst wenn der Diktator den Wendehals spielen möchte und anfangen würde, alle zur Impfung aufzurufen, würden ihm die Bürger wahrscheinlich erneut nicht glauben.

Im Hinblick auf die politische Rechnung, macht Lukaschenkos Haltung nachdenklich. Seit den Wahlen im August zielt er auf eine Polarisierung ab und spielt zwei Teile der Gesellschaft gegeneinander aus: seine Anhänger gegen die Anhänger der Opposition. Dank Unterstützung der Gewaltstrukturen und der immer noch mehr oder weniger funktionierenden Wirtschaft konnte sich das Regime übers Wasser halten und sich seinen Besitzstand sichern.

Mit dieser Strategie wächst jedoch die Unterstützung für die Regierung nicht, es wird lediglich Öl ins Feuer gegossen und beide Teile der Gesellschaft werden radikalisiert. Den im Internet durchgeführten Studien zufolge besteht derzeitig die belarussische Gesellschaft aus drei, etwa gleich großen Gruppen zusammen: aus dem „Kern” des Protestes, aus der Hochburg der Lukaschenko-Anhänger und aus den „Neutralen”.

Das Virus kann Lukaschenko treffen

Dem Virus ist der politische Streit egal und es macht sich in der Gesellschaft einfach breit. Die kontraproduktive Haltung der Regierenden, gestärkt durch die Aussagen des Diktators, bringt traurige Folgen für alle in Belarus mit sich.

Sie bestätigt übrigens abermals die These, dass die belarussischen Bürger auf sich alleine gestellt sind und auf staatliche Hilfe nicht hoffen können. Obendrein ist die Niederlage der Impfkampagne ein Produkt des geringeren Vertrauens in den Staat, was nun Kosten für den ganzen Machtapparat verursacht.

Wenn die ausbleibende Hilfe des Staates im Zusammenhang mit der Pandemie sichtbar wird, kann es insbesondere die Gruppe der „Neutralen” treffen und die Reihen der Lukaschenko-Gegner stärken. Hier wird es sich nicht mehr um Politik, sondern um blanke Unfähigkeit des Staates handeln, der nicht in der Lage ist, das Minimum an Sicherheitsgefühl im Kampf gegen das Virus zu gewährleisten.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

 

 

 

 

 

Fot. Maksim Goncharenok. Source: Pexels.

Latest / Wie baut man in Belarus eine Rechtsstaatlichkeit auf?

Belarus ist binnen eines Jahres ein totalitärer Staat geworden

Filip Rudnik · 23 November 2021

Am 28. September drangen in eine der Wohnungen in Minsk KGB-Offiziere ein, weil sie einen dort wohnenden Mann der extremistischen Tätigkeit verdächtigt hatten. Nachdem sie die Tür eingetreten hatten, feuerte Andrej Selzer, ein IT-Mitarbeiter, aus einem Gewehr und tötete einen der KBG-Beamten. Es kam zu einer Schießerei, infolge deren auch Selzer ums Leben kam.

Der ganze Vorfall, der durch das Regime als Nachweis für die Existenz eines terroristischen Untergrunds der Opposition dargestellt wird, kann teilweise ein abgekartetes Spiel sein, so die Andeutungen einiger Oppositionellen. Mit Sicherheit lieferte er aber den belarussischen Machthabern den Vorwand, mehr Druck auf die Gesellschaft auszuüben.

Innerhalb von zwei Wochen nach der Schießerei wurden ca. zweihundert Personen festgenommen – sog. Silowiki, Bedienstete des belarussischen Sicherheits- und Militärapparats, für den der Sammelbegriff Machtministerien benutzt wird, starteten Razzias gegen alle, die in sozialen Netzwerken die Schießerei irgendwie kommentiert hatten. Einige dieser Kommentare, in denen angedeutet wurde, Selzer hätte alle Geheimdienstler ohne Reue erschießen sollen, lieferten tatsächlich Anhaltspunkte für eine Festnahme. Es wurden jedoch auch Personen festgenommen, die einfach Mitleid mit den Angehörigen beider Erschossenen zum Ausdruck gebracht haben oder einfach das Tragische an dem Vorfall betont haben.

Für die Behörden war es irrelevant – laut belarussischem Menschenrechtszentrum Viasna sollen sich die Festgenommenen der „Aufstachelung zum sozialen Hass“ bzw. „Beleidigung der staatlichen Beamten” schuldig gemacht haben. Die Inhaftierten können eine Freiheitsstrafe von bis zu zwölf Jahren bekommen. Wegen, erinnern wir noch mal, eines Kommentars im Internet.

Rechtswidrige Neuerung

Menschen wegen Kommentaren in sozialen Netzwerken festzunehmen, ist eine Neuerung in der belarussischen „Rechtsordnung”. Früher war so etwas, im Vergleich zu Russland, eher selten – und sicherlich nicht massenhaft – präsent. Sie zielt auf ein konkretes Ziel ab – indem die Meinungsfreiheit gekappt wird, versucht die Regierung, die Gesellschaft noch stärker einzuschüchtern. Damit alle Menschen in Belarus wissen, dass eine jede, auch nur ansatzweise politische Äußerung strafrechtliche Konsequenzen haben kann. Kurzum: denkt, was ihr wollt, aber behaltet es für euch.

Doch es gibt noch einen weiteren Aspekt, der für den Fortbestand des Regimes nicht weniger wichtig ist. Angesichts der beispiellosen Einbindung der sog. Gewaltministerien (bis auf das Militär) in den Repressalienapparat, müssen die Regierenden die Silowiki immer wieder davon überzeugen, dass sie an ihrer Seite stehen. Sie beteuern ihre lebenslange Dankbarkeit dafür, dass die Volkspolizisten gegen die Protestler vorgingen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie formulieren Vorwürfe gegen diejenigen, die es wagen, in irgendeiner Weise das Vorgehen der Beamten zu kommentieren und gleichzeitig übermitteln Dankbotschaften an die Angehörigen der Machtstruktur, also an die Volkspolizisten, an die Ermittler oder an die Geheimdienstler.

Diese Beteuerungen der Sicherheit sind insoweit wichtig, als die Aktivitäten der Opposition für Gefährdungsgefühle innerhalb der Gewaltstrukturen sorgen. „Cyberguerillas”, die die Datenbanken des Innenministeriums systematisch hacken, veröffentlichten in den vergangenen Monaten eine Reihe von Mitschnitten der Telefongespräche, die die Silowiki untereinander geführt hatten – betroffen waren sowohl einfache Volkspolizisten als auch Chefetagen, darunter Offiziere, die die Niederschlagung der Proteste geleitet haben. Neben schockierenden Details, die zeigen, in welchem Ausmaß die Protestierenden „enthumanisiert” wurden, belegen einige Mitschnitte auch die interne Kritik an den Vorgesetzten.

Es genügt zu sagen, dass alleine die Veröffentlichung der Aufnahmen panikartige Zustände im Ministerium auslöste – kurze Zeit nach dem Leak nahm der Innenminister drei Tage lang keine internen Anrufe ab und die ministerielle Post wurde auf Papier umgestellt.

Ins Internet gelang auch eine Liste der Konfidenten der Volkspolizei. Sie trug zu seiner Art Vergeltungsmaßnahme bei, als der so genannte „Untergrund“ in den Treppenhäusern Sticker mit Hinweisen auf dort wohnende „zivile Quellen“ angebracht hat, um die Nachbarn zu informieren, dass sie quasi unter einem Dach mit einem „Kollaborateur” wohnen.

Straflosigkeit mit Fragezeichen

Interessanterweise bekunden selbst die Anhänger von Lukaschenko die Notwendigkeit, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die ihre Befugnisse überschritten haben. In einer neulich veröffentlichten sozialen Studie des britischen Chatham House haben 32 Prozent der Befragten, die sich als Anhänger des Diktators ausgegeben haben, die Vorstellung von tiefgründigen Ermittlungen zu allen Rechtsverletzungen der Mitarbeiter der Gewaltstrukturen begrüßt.

Allerdings kann die Umfrage u.U. nicht ganz zuverlässig sein – sie wurde im Internet durchgeführt. Es ist jedoch zu betonen, dass eine jede Meinungsforschung angesichts der aktuellen Lage – in der die soziologische Arbeit ohne eine offizielle Erlaubnis einfach verboten ist – goldwerte Erkenntnisse liefert. Zusätzlich weisen die Studien auf eine hohe Dosis an Misstrauen gegenüber sämtlichen staatlichen Organen außer Militär hin, das zur Niederschlagung der Proteste im August nicht herangezogen wurde und als ein unpolitisches Bollwerk gilt.

Dies wurde übrigens durch die Exilopposition erkannt, als nach dem Tod von Raman Bandarenko, der nach seiner Festnahme von den Volkspolizisten misshandelt wurde, Swetlana Tichanowskaja die Initiative des „Nationalen Tribunals” gegründet hat und dann unter Beteiligung von Pavel Latuschka die Internetplattform „Buch der Verbrechen” im Internet eingerichtet wurde, in der sämtliche Informationen zu den von staatlichen Behörden begangenen Straftaten erfasst werden. Das zusammengetragene Material wird anschließend an Interpol, an OSZE und an andere internationale Organisationen weitergeleitet.

Zunehmend zahnlose Opposition

Doch ohne Fall Lukaschenkos scheint eine Sanierung der staatlichen Gewaltstrukturen und der Justiz nicht möglich. Zumal der „Gründungsmord” – eine gesamtschuldnerische Mittäterschaft an der Niederschlagung der Proteste durch das Heer der Bediensteten – Loyalität gegenüber dem System garantiert, da sich alle seit August ununterbrochen die Hände schmutzig machen.

Das Szenario, Lukaschenko tatsächlich zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag fliegen zu lassen, wird sich bei zweispurig umzusetzenden Maßnahmen bewahrheiten, was der Opposition – nach eigenen Angaben – bestens bewusst sei. Gemeint ist hier einerseits, die Gesellschaft im Inland zu erreichen und ein breites Verlangen nach Abrechnung mit dem Verbrechen zu wecken. Zweitens gilt, die Angehörigen der Gewaltstrukturen zu erreichen, die sich unsicher fühlen und bei der Formulierung der Vorwürfe gegen andere Bedienstete helfen könnten. Das wird übrigens bei dem „Buch der Verbrechen” vorgesehen, das die Möglichkeit einräumt, Vorwürfe im Falle der Zusammenarbeit zu mildern.

Das Problem besteht darin, dass die Opposition – trotz aktiver internationaler Präsenz und trotz Zusicherungen, dass eben darauf hingearbeitet wird – immer weniger Möglichkeiten hat, die Lage im Lande zu beeinflussen. Das widerspiegelt die vorgenannte Umfrage von Chatham House. Nur 24 Prozent der Befragten haben von einem EU-Hilfspaket für Belarus gehört, das im Falle eines demokratischen Wandels freigegeben werden soll und als Erfolg von Tichanowskaja und Exilaktivisten stark umworben wird. Mit diesen Daten wird das oppositionelle Narrativ untergraben, man würde die Lage „kontrollieren” und in der Zukunft das Regime zu Fall bringen. Und das Regime wird ohne gesellschaftlichen Druck und gleichzeitigen Rissen in den Strukturen nicht verurteilt.

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Herausgegeben unter der Projektlinie “RAZAM-RAZEM-ZUZAM” aus Mitteln der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

 

 

 

Fot. Jana Shnipelson.Source: Flickr.

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Regierung betrügt Bergleute. Proteste werden zurückkehren.

Mit Urszula Zielińska sprach Tomasz Sawczuk. · 24 November 2020

Die Energielücke nach dem Kohleausstieg soll durch die Kernkraft ausgefüllt werden. Das ist kein Sprung in die Zukunft, sondern ein erneuter Schritt in eine Energieabhängigkeit. Dieses Mal in die der amerikanischen Technologielieferenten, sagt Urszula Zielińska von der Partei der Grünen.

 

Haben die Grünen das Programm des grünen Wandels der Bürgerkoalition [Koalicja Obywatelska, KO] übernommen?

Nein. Wir haben unser eigenes Programm. Mit der Bürgerplattform haben wir uns jedoch in den wichtigsten Punkten der Klimapolitik und der allgemeinen Richtung geeinigt.

Wo liegen die Unterschiede in den Programmen der KO und der Grünen?

Die Unterschiede liegen im Datum für den Kohleausstieg und bei der Höhe der Emissionsreduktion bis 2030 und 2050. Exemplarisch dafür ist die jüngste Abstimmung im Europäischen Parlament, das ein Reduktionsziel von 60 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990 verabschiedet hat. Wir sprachen uns für einen noch höheren Emissionsrückgang von 65 Prozent aus. Die polnische Delegation in der Europäischen Volkspartei (EVP) votierte für ein weniger ehrgeiziges Ziel von 55 Prozent.

Wir sind uns jedoch alle einig, dass wir die Klimaneutralität bis spätestens 2050 erreichen sollten. In unseren Gesprächen einigten wir uns auch darüber, dass wir nicht in die Kernenergie einsteigen wollen.

Das ist eine Forderung, die oft mit den Grünen in Verbindung gebracht wird, ist aber die ganze Bürgerplattform ebenfalls gegen den Bau von Atomkraftwerken in Polen?

Ja. Wir haben es nicht in unserem gemeinsamen Programm festgeschrieben, aber wir waren uns in den Gesprächen einig, dass dies keine gute Richtung wäre.

Warum sind die Grünen eigentlich dagegen?

Die Kernkraft ist heute die teuerste Energiequelle in Europa, während die Preise für Sonnen- und Windenergie auf ein Niveau gefallen sind, das sogar um ein Vielfaches unter dem der traditionellen Energiequellen liegt. Hinzu kommt, dass der Investitionsumfang für ein Land ohne eigene Kernkrafttechnologie enorm wäre. Trotz alledem plant Polen, Finanzmittel in Höhe von mehreren Hundert Milliarden Złoty im teuersten und im Abstieg begriffenen Sektoren der Atom- und Gastechnologie zu binden.

Hinzu kommen noch Risiken und Kosten, die sich aus der langjährigen Lagerung von gefährlichem Atommüll ergeben. In Deutschland findet heute eine dramatische Suche nach einem geeigneten Endlager statt. Die Bundesländer und die Bürger:innen wollen das nicht.

Was wäre aber, wenn mit der Entwicklung der Technologie die Kosten sinken würden und die Bürger:innen sich überzeugen ließen?

Es gibt noch einen triftigen Grund: Das sind die besseren Technologien, deren Preise von Jahr zu Jahr sinken. Die Welt entwickelt sich weiter. Polnische Wissenschaftler:innen meinen, dass aus dem polnischen Wind, Sonne und Biogas ein stabiler Energiemix entstehen kann. Wir haben auch sich entwickelnde wasserstoffbasierte Technologien, die noch teuer sind, aber billiger werden. Ein enormes Potenzial steckt zudem in der Thermomodernisierung und der Energieeinsparung. Das wird reichen. Wir sollten nicht Ressourcen, die wir nicht haben, in die teuerste und für uns neue Nukleartechnologie stecken.

Es überrascht mich aber überhaupt nicht, dass die Amerikaner versuchen, sie uns zu verkaufen. Es handelt sich um eine Auslauftechnologie, die sie weder in Deutschland noch anderen hochentwickelten Ländern, die sie nicht mehr verwenden, verkaufen können. Wer soll sie also kaufen? Polen. Die derzeitige Regierung nimmt gerne die Abfälle anderer, und so werden wir auch eine Technologie, die nicht mehr genutzt wird, kaufen. Das ist absurd.

Kritiker sagen, dass es ohne Kernkraftwerke an sauberen und stabilen Energiequellen fehle, da manchmal die Sonne nicht scheint, der Wind nicht weht und die Technologien zur Speicherung erneuerbarer Energien (EE) noch nicht ausreichen. Was entgegnen Sie solchen Vorwürfen?

Ich schlage vor, mit polnischen Wissenschaftler:innen und Enegieexpert:innen zu sprechen. Neben Solar-, Wind- und Biogas-Energie müssen wir grenzüberschreitende Verbindungen entwickeln, die die Solidarität und Energiesicherheit Europas stärken. Wenn wir die Energieeffizienzziele erreichen, zu denen wir uns im Rahmen des Pariser Abkommens verpflichtet haben, sind wir bereits heute in der Lage, einen Energiemix aus sauberen polnischen Energiequellen zu entwickeln, der für unsere Bedürfnisse ausreichen würde und stabil wäre. Dies bestätigen Energieexpert:innen und andere Fachleute in unserem Land.

Im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie denken wir an verschiedene unerwartete Begebenheiten. Ist ein solcher Energiemix gegen unvorhergesehene Ereignisse resistent genug? Angenommen, irgendwo bricht ein Vulkan aus und der Staub schränkt den Zugang zur Sonne für lange Zeit ein. 

Die Erfahrungen zeigen, dass ein robustes und dauerhaftes System dezentral sein muss. Was die polnische Regierung zurzeit macht, kann nicht als Klimapolitik bezeichnet werden. Bei dieser Konzentration der Energiequellen handelt es sich um eine Politik der vollendeten Tatsachen bei gleichzeitigem Mangel an Strategie. Ein solch zentralisiertes System reagiert besonders empfindlich auf unberechenbare Ereignisse, von denen Sie sprachen. So ist bei uns beispielsweise Wassermangel für die Kühlung eine reale Gefahr. Dieses Problem betrifft sowohl Kohle- als auch Kernkraftwerke, die ebenfalls große Mengen Wasser für ihre Kühlungssysteme benötigen.

Ein System, das auf erneuerbarer Energie basiert, kehrt dieses Paradigma vollständig um. Eine Dezentralisierung, eine Streuung der Energieerzeugung wäre die Folge. Jede:r von uns wäre in gewisser Weise bei der Energieversorgung unabhängig. Alle würden Paneele auf ihren Dächern oder ein Windrad haben, die das Wohngebiet versorgen. Und für die Nacht, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, eine kleine Biogasanlage. Wir hätten ein intelligentes Versorgungsnetz, das auf Angebots- bzw. Nachfrageschwankungen reagieren würde. Dank einer solchen Konstruktion wäre jede Wohnsiedlung unabhängig vom zentralen System und bei unvorhergesehenen Ereignissen widerstandsfähiger.

Die jüngsten Hitzewellen und Feuerwalzen in Australien verdeutlichten die Vorteile eines solchen Systems. Infolge der Hitze und der Brände fehlte Wasser zur Kühlung der Kraftwerke und die mit Kohle betriebene Energieversorgung hörte auf zu funktionieren. Im Bundesstaat Victoria entschuldigte sich die Energieministerin Lily D’Ambrosio dafür, dass das System auf den fortschreitenden Klimawandel mangelhaft vorbereitet war. Die einzigen Menschen, die über Elektrizität verfügten, waren diejenigen, die an eigene oder kommunale Energieversorgung angeschlossen waren. Dies ist ein weiteres Argument gegen eine zentralistische Versorgungsstruktur.

Kürzlich hat das Klimaministerium einen Entwurf zur Energiepolitik Polens bis 2040 vorgestellt. Was sind die Vor- und Nachteile dieses Papiers?

Endlich erkannte man, dass regionalen Plänen für den Energiewandel höchste Priorität zukommen sollte. Das ist ein großer Vorteil. Außerdem hat man, wenn auch nur geringfügig, den Termin für den Kohleausstieg vorverlegt.

Bei dem Rest sehe ich leider nur Probleme. Es ist zwar geplant, früher aus der Kohle auszusteigen, doch es wird kein Termin genannt, was eine Planung unmöglich macht. Vielmehr soll die Energielücke nach dem Kohleausstieg durch die Kernkraft ausgefüllt werden. Das ist kein Sprung in die Zukunft, sondern ein erneuter Schritt in eine Energieabhängigkeit. Dieses Mal in die der amerikanischen Technologielieferanten. Mit der Investition in die Kernkraft bereitet der Regierungsbevollmächtigte für uns eine Verschuldung von mehreren Hundert Milliarden Złoty vor. Die Kosten für den Bau eines Energieblocks werden auf 30 Milliarden Złoty geschätzt und Polen plant sechs davon. Außerdem ist es unklar, wann unser Land die Klimaneutralität erreichen sollte.

Inzwischen fanden Proteste der Bergleute statt. Nach kurzen Beratungen wurde eine Erklärung abgegeben, aus der hervorgeht, dass das letzte Bergwerk 2049 geschlossen werden soll. Wie sehen Sie die Proteste der Bergarbeiter und die Politik der Regierung bezüglich der Abkehr vom Bergbau?

Ich habe den Eindruck, dass die Regierung die Bergleute betrügt. Zwischenzeitlich hatte ich mit Artur Soboń, dem Bevollmächtigten der Regierung für die Energiewende Mitleid, weil er mit den wütenden Bergleuten, die in eine unsichere Zukunft blicken, vor Ort verhandeln musste. Er tat mir persönlich leid. Die Situation der Bergleute ist dabei deutlich schlimmer.

Nur hat Soboń keinen Plan, also gibt es auch keine Klarheit. Die Regierung ändert ihre Meinung je nachdem, wer die Fragen stellt, mit wem sie spricht und macht sie vom Zeitpunkt der kommenden Wahlen abhängig. Aus der Sicht des europäischen Rechts und der Kohlesubventionen ist der Stichtag für die Schließung des letzten Bergwerks im Jahr 2049 völlig unrealistisch.

Ist das zu spät?

Es ist zu spät und wird von der Europäischen Kommission nicht akzeptiert. Die Regierung scheint ein Datum genannt zu haben, nur um die Proteste für eine Weile zu stoppen und sich selbst Zeit zu verschaffen. Ich habe den Eindruck, dass sie wiederkommen werden. Im Übrigen haben die Bergarbeiter bereits angekündigt, dass sie die Proteste überhaupt nicht ausgesetzt haben und wir vor Weihnachten wieder Protestaktionen vor den Werkstoren erwarten können. Schlussendlich muss jemand mit den Bergleuten ehrlich sprechen und Ziele setzen. Sie müssen über Termine informiert werden, zu denen sie reagieren, sich vorbereiten oder sich für neue Aufgaben umschulen können. Aber dazu zu sind weder Minister Sasin [1], Minister Kurtyka noch Ministerpräsident Morawiecki in der Lage. Stattdessen schicken sie einen Stellvertreter, der den Bergleuten etwas vormachen soll.

Das Europäische Parlament hat neulich ein Klimagesetz für die EU verabschiedet.

Wir haben uns sehr gefreut, dass es dem Europäischen Parlament gelungen ist, für das Jahr 2030 ein höheres Klimaziel zu verabschieden. Das ist ein bedeutender Sprung bei der Emissionsreduktion von den bisherigen 40 auf 60 Prozent. Es verdeutlicht, dass die Europäer:innen und das Europäische Parlament verstehen, wie wenig Zeit uns bleibt. Wenn wir fossile Brennstoffe mit der gleichen Geschwindigkeit wie bisher verbrennen werden, erreichen wir laut der Berichte des IPCC in 8 Jahren einen Temperaturanstieg, der im Vergleich zum Beginn des Industriezeitalters um 1,5 Grad Celsius höher liegt. Wir haben also nur noch 8 Jahre Zeit. Ich habe mich auch besonders darüber gefreut, dass einige EU-Abgeordnete aus der Europäischen Volkspartei, wie die Grünen, für ein höheres Ziel von 65 Prozent stimmten.

Es gibt kritische Stimmen, die meinen, dass das Ziel für Polen zu ehrgeizig sei und wir nicht genug Geld für einen energetischen Übergang bekommen, sodass wir es nicht erreichen können.

Ich sehe es anders. Es ist erstens ein Ziel für die gesamte EU. Nun muss es in Einzelziele zerlegt und vom Europäischen Rat in den sogenannten Trilogen akzeptiert werden. Einige Länder deklarieren, dass sie das Ziel viel früher erreichen werden. Es ist aktuell nicht so, dass die 60 Prozent Emissionsreduktion für Polen sofort gelten.

Zweitens: je höher das Ziel, desto ehrgeiziger die Ambitionen Europas und desto größer die Chance für Polen, einen größeren Haushalt für unsere rückständigste und am stärksten von der Kohle abhängige Wirtschaft auszuhandeln. Europa wird es verstehen. Ich würde es in den Verhandlungen einsetzen, anstatt zu sagen, dass wir es nicht tun können und sich dabei mit Händen und Füßen dagegen zu stemmen. Sonst fährt der Zug ab, wir bekommen gar kein Geld und unsere Partner werden nicht mehr mit uns reden. Wir können das nicht zulassen und müssen diese epochale Gelegenheit nutzen.

Wie beurteilen Sie die Haltung der Regierung zu Fragen der Ökologie? In diesem Bereich scheint es einige Veränderungen zum Besseren zu geben. 

Ich habe den Eindruck, dass die Regierung das Ausmaß der Probleme im polnischen Energiesektor sieht. Sie sieht, wie sehr wir in den Entwicklungen hinterherhinken und wie man die Energiepreise manuell niedrig halten muss, weil wir die höchsten Großhandelspreise für Strom in Europa haben. Im Alltag sehen wir nicht, wie viel von diesen Subventionen an Unternehmen wie die Polnische Bergbaugruppe (PGG) und andere Firmen gehen, die bereits so unrentabel sind, dass sie ständig finanziell unterstützt werden müssen.

Es scheint, dass der Ministerpräsident Morawiecki und das Entwicklungsministerium versuchen, eine moderne europäische Richtung einzuschlagen. Es ist jedoch ungeschickt und bleibt wirkungslos. Die fortschrittliche Fraktion in der Regierung wird durch die sehr starke Kohle- und Atomlobby in der Partei und der Regierung blockiert.

Während des EU-Gipfels im Juli dieses Jahres stimmte Mateusz Morawiecki den Klimazielen zu. Dann kehrte er nach Polen zurück und verkündete, dass er mit ihnen nicht einverstanden sei. Er kam hierher und sagte etwas anderes als auf dem Gipfel, weil er vor seiner Regierung und seinen Wählern das Gesicht eines Klimadinosauriers und -leugners zeigen musste und zu sagen hatte, dass die europäische Politik uns an den Rand des Abgrunds führe. Aber ich glaube, dass sich am Ende die Wahrheit durchsetzen wird und die Regierenden – neue Regierende – beginnen werden, verantwortungsvolle Entscheidungen für einen grünen Wandel und die Umsetzung der europäischen Klimapolitik zu treffen. Ich versuche mein Bestes, damit dies so schnell wie möglich geschieht.

[1] Jacek Sasin ist u. a. Minister für Staatsgüter und Regierungsbevollmächtigter für die Umwandlung von Energieunternehmen und den Kohlebergbau, Anm. d. Übers.

[2] Michał Kurtyka ist seit 2020 Klima- und Umweltminister, Anm. d. Übers.

[3] Intergovernmental Panel on Climate Change, Anm. d. Übers.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki

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Die Bergleute haben keine Angst vor Greta Thunberg, sondern vor der Hilflosigkeit der Regierung

Mit Jarosław Niemiec sprach Jakub Bodziony. · 24 November 2020

„Wir sollten ein Subjekt und kein lästiges Problem sein. Wir wollen nicht ein zweites Mal menschlicher Abfall sein, wie es bei der Wirtschaftstransformation von Leszek Balcerowicz der Fall war. Für die Bergleute war es eine Tragödie, die wir nicht so schnell vergessen werden“, sagt der Gewerkschaftler aus dem Bergwerk Bogdanka.

 

Jakub Bodziony: Haben Sie Angst vor Greta Thunberg?

Jarosław Niemiec: Nein, warum? Sie ist ein junges Mädchen und das Gesicht einer Kampagne, aber sie ist nicht das Problem.

Es wirkt, als ob sie es wäre. Als sich die Bergleute aus Bełchatów mit ihr fotografieren ließen, wurden sie von ihren Kollegen aus derselben Branche in den sozialen Medien mit Dreck beworfen. 

Weil es am einfachsten ist, gegen einen Teenager zu hetzen. Die Aggressionen gegen Greta zu richten, lenkt von den wirklichen Problemen ab. Von Menschen, die echten Einfluss auf die Dinge haben. Die harten und starken Bergleute sollten nicht auf Kinder losgehen, sondern sich mit den Stärkeren anlegen. Es wäre zumindest ehrenhafter.

Sind Sie der Meinung, dass Kohlebergwerke in Polen so schnell wie möglich geschlossen werden sollten?

Über Bergwerksschließungen können wir sprechen, wenn in Polen Technologien für erneuerbare Energiequellen auftauchen. Im Augenblick basiert unsere Energieversorgung auf Kohle und eine Schließung der Bergwerke würde dazu führen, dass Energie vollständig aus dem Ausland importiert werden müsste, was eine Bedrohung für die Energiesicherheit darstellen würde. Sollten keine Alternativen zu ausländischen Energiequellen, wie z. B. polnische Kraftwerke, gefunden werden, dann können wir mit einem sofortigen Anstieg der Strompreise rechnen.

Die Bergleute beharren nicht auf der Kohle als Energieträger, sondern wollen eine klare Alternative? 

Natürlich. Die Arbeit an der frischen Luft, auf Fotovoltaikanlagen oder an Windmühlen ist besser als das Malochen unter Tage. Wir brauchen nur einen echten Vorschlag und keine Abfindung, die für drei Jahre reichen würde. Momentan würde eine Schließung der Bergwerke in Schlesien zu einer Degradierung einer ganzen Region führen. Ich bin auf diesem Gebiet kein Experte, aber die Menschen, die sich mit diesem Thema global beschäftigen, wie die berühmte amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, sagen dasselbe wie wir. Wir sollten ein Subjekt und kein lästiges Problem sein. Wir wollen nicht ein zweites Mal menschlicher Abfall sein, wie es bei der Wirtschaftstransformation von Leszek Balcerowicz der Fall war. Für die Bergleute war das eine Tragödie, die wir nicht so schnell vergessen werden.

Inwieweit deckt sich die Arbeit, die Ihr derzeit leistet, mit den Qualifikationen, die in der Branche der erneuerbaren Energien benötigt werden?

Es ist einfacher, als es scheint. Ein Elektriker, der in der Bergbauindustrie beschäftigt ist, muss als hochklassiger Fachmann sowohl mit den grundlegenden Angelegenheiten als auch mit den gesamten Steuerungssystemen vertraut sein. Das heißt, dass er über die erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen verfügt, um mit Fotovoltaik Modulen zu arbeiten. Elektriker, Mechaniker oder Bergleute sind bereit für mögliche Umschulungen. Ein Bergmann muss in allen Situationen mit Problemen fertig werden.

Was erwarten Sie genau, wenn Sie sagen, dass sie als Subjekte behandelt werden wollen?

Es geht darum, dass polnische Energie- und Bergbauunternehmen sich aktiv an der Energietransformation beteiligen. In meinem Bergwerk Bogdanka wurde die Idee geboren, auf dem postindustriellen Gelände Fotovoltaik-Farmen zu bauen. Um die Situation zu vermeiden, dass ein unbekannter Unternehmer kommt und fast die ganze Belegschaft austauscht. Im Mittelpunkt sollten Bergleute stehen, die schrittweise von einer Branche in die andere wechseln. Dies erfordert eine Intervention des Staates, und das ist wohl das größte Problem in Polen. Wir verbinden nach wie vor jede zentrale Planung mit schrecklichen Folgen. In Deutschland haben die Arbeitnehmer ihre Bereitschaft zur Beteiligung an der Energiewende manifestiert und betont, dass sie nach wie vor in der Branche bleiben wollen.

Abb. Max Skorwider

In Polen habe ich nie erlebt, dass Bergleute mit ähnlichen Parolen protestiert hätten. Streiks dienten lediglich der Verteidigung ihrer Gehälter und Privilegien. Darauf reagieren viele Menschen mit Unverständnis. 

Wenn unsere Existenz bedroht wird, gibt es keine Zeit, um über die Transformation nachzudenken. Es geht ums Überleben. Die Abfindungen, die derzeit an entlassene Arbeitnehmer gezahlt werden, sind geradezu lächerlich. Im Augenblick wird uns keine weiche Landung garantiert. Bitte seien Sie nicht überrascht, dass die Bergleute mit Zähnen und Klauen ihr Einkommen verteidigen. Es ist von uns nicht zu erwarten, dass wir eine größere Vorstellungskraft haben und bessere Perspektiven anbieten, als die Leute, die unser Land regieren.

Glauben Sie, dass Jacek Sasin [1] Ihnen auf Augenhöhe begegnen wird? Am Montag kündigte er an, dass das Ende der Kohleverstromung in Polen spätestens 2060 erfolgen wird.

Das glaube ich nicht. Die Gewerkschaftler fordern seit langem eine Strategie für den Bergbau. Minister Sasin hat einen Plan vorgelegt, den man mit drei Worten zusammenfassen kann: „Stilllegung der Bergwerke“. Seit 30 Jahren hat niemand einen realistischen Plan für den Bergbau vorgelegt, und wir haben noch mehr als zwei Jahrzehnte, in denen wir funktionieren sollen. Wir wollen nur wissen, wann und welche Bergwerke geschlossen werden müssen und wie viel und wie lange wir Kohle fördern werden. Wir brauchen Antworten auf diese Fragen, um Vorbereitungsmaßnahmen festzulegen, technische und wirtschaftliche Arbeiten durchzuführen und die Beschäftigung von Menschen in den Bergwerken zu regulieren.

Die drei Bergwerke, die Jacek Sasin schließen wollte, liegen in unmittelbarer Nähe zueinander. Wenn sie geschlossen werden, wird die gesamte Region [um die Kreisstadt] Ruda Śląska degradiert. Was sollen diese Leute tun, sich eigene „Armenschächte“ [2] buddeln?

Sie bekommen wahrscheinlich eine Abfindung oder einen Zuschuss für Ihr eigenes Unternehmen. 

Klar, 100.000 Złoty reichen wunderbar für eine Dönerbude. Man kann einen Bergmann zu einem Elektriker, Mechaniker oder Betreiber einer Fotovoltaikanlage umschulen, aber nicht zu einem Geschäftsmann.

Ich verstehe den Ansatz der Regierenden nicht ganz. Es liegt doch im Interesse der Regierung, mit den Bergleuten zu einer Einigung zu kommen und einen Plan vorzulegen?

Seit den Zeiten von Donald Tusk ist mir aufgefallen, dass polnische Politiker, wenn sie auf das Wirtschaftssystem stoßen, seltsam hilflos sind. Vor kurzem hörten wir auf einem trilateralen Kommissionstreffen, dass die Herrschenden für die Bergleute das Beste wollen, aber die Europäische Kommission, internationale Abkommen, der Grüne Deal und Greta Thunberg im Wege stünden. Die gegenwärtige Regierung hat über den vermeintlichen Impossibilismus bei Tusk gelacht und verhält sich nun genauso. Natürlich gibt es Parolen über die Souveränität und Unabhängigkeit, wenn es aber um was geht, knien sich die Minister nieder und sagen, dass es unmöglich sei.

Hatten Sie den Eindruck, dass jemand wirklich eine echte Vision für Sie hatte, die über die Konkursverwaltung hinausging?

Nein, genau darum geht es. Sie haben es gut ausgedrückt, denn die Regierung verhält sich wie ein hilfloser Konkursverwalter. Gute und ehrliche Absichten reichen hier nicht aus. Unter den Gewerkschaftlern gibt es einen Witz, bei dem einer fragt: „Wann wird der Plan für den Bergbau fertig sein?“ Die Antwort der Regierung ist immer die gleiche: „Er wird soeben erstellt.“ Dann scherzen wir, dass im Ministerium jemand den Computer eingeschaltet hat. Dafür bräuchte man eigentlich ein Jahr für Verhandlungen. Stellen Sie sich vor, dass wir beschließen, dass ein Bergwerk geschlossen wird. Für jedes Jahr werden für das Budget dieses Postens 40 Milliarden verschiedener Beiträge und Betriebskosten veranschlagt. Wer treibt dieses Geld auf und wo?

Die Bergbauindustrie macht doch riesige Verluste und die Regierung muss die Branche jedes Jahr subventionieren. 

Nein, nein, nein. Das Bergwerk Bogdanka hat in den letzten Jahren Milliardengewinne gemacht, die in den Staatshaushalt geflossen sind.

Problematisch sind, denke ich, nicht Werke wie das in Bogdanka, sondern die, die in der Polska Grupa Górnicza [Polnische Bergbaugruppe] assoziiert sind. 

Insgesamt ist der Bergbau im Staatshaushalt ein Nettobeitragszahler. Obwohl die wirtschaftliche Kalkulation des Abbaus selbst negativ ist, fließt immer noch viel Geld aus den Bergwerken in den Haushalt.

Inwiefern?

Aus Forderungen und Steuern, die dieser Sektor langfristig zahlt, das sind öffentlich zugängliche Berechnungen.

Es gibt auch viele andere [Berechnungen], die aufzeigen, dass wir für jede Tonne Kohle draufzahlen. Aber als die Regierung nach Streikankündigungen nachgab, tauchten Kommentare auf, die man als Kapitulation der Regierenden vor der erpresserischen Drohung, den Konflikt auf die Straßen der Hauptstadt zu bringen, zusammenfassen kann. Zudem gibt es noch die Geschichten über „Dreizehner“ und „Vierzehner“ [über die zwölf Monate reichenden Lohnauszahlungen, Anm. d. Übers.] für Bergarbeiter und Kohlesubventionen wie Boni. Es heißt, es gäbe nur 83.000 Bergleute, und die 38 Millionen Bürger:innen müssten Ihren Forderungen nachgeben.

Man muss die 83.000 mit fünf multiplizieren, da viele Arbeitsplätze mit dem Bergbau verbunden sind. Es zeigt das Ausmaß der möglichen Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und Armut. Außerdem gibt es keine separaten „Dreizehner“ und „Vierzehner“. Die Lohnsumme wird für das ganze Jahr bewilligt, einschließlich aller Verdienste des Bergarbeiters. Ob diese in vierzehn oder zwölf Gehältern ausbezahlt wird, ist unerheblich. Für die Bergwerke ist das eine bequeme Art der Auszahlung. Aber es handelt sich dabei nicht um zusätzliches Geld, nur um eine besondere Form der Überweisung.

Polen soll einer der größten Nutznießer des EU-Fonds für einen gerechten Übergang werden, ist das nicht genug?

Das sind irgendwelche Mittel, die ausgegeben werden können, aber wir sollten uns auf die polnische Regierung verlassen können. Heute gibt es Kritik an der deutschen Regierung, dass Berlin staatlichen Protektionismus praktiziere. Nur macht dies so viel Sinn, wie der Vorwurf an einen Buckligen, dass seine Kinder einen graden Rücken haben. Bei uns könnte es auch so sein. Um den Energiemix zu ändern, braucht es aber einen politischen Willen.

Die Deutschen verbrennen nach wie vor Kohle, nur das diese importiert wird. Und obwohl der Anteil der erneuerbaren Energie im deutschen Energiemix zunimmt, sind gleichzeitig auch die Stromrechnungen für die Normalverbraucher gestiegen. 

Das ist richtig, aber sie machen dabei ein gutes Geschäft. Vor Jahren investierten sie viel Kapital in neue Technologien und werden nun ihre Überschüsse an Länder verkaufen, die bei der Modernisierung ihrer Energieversorgung zu spät kamen.

Aber ist es nicht so, dass sich eine erfolgreiche und umfassende Transformation lohnen muss? Es ist schwierig, Menschen von noblen Ideen zu überzeugen, wenn ihre Umsetzung mit einer Reihe von Kosten und Opfern verbunden ist.

Das ist wahrscheinlich ein falsches Paradigma. Wenn wir immer nur daran denken, was sich lohnt, werden wir alle bald sterben. Vorläufig lohnt es sich für Indien so viel Kohle zu verbrennen wie nur möglich. In China ist die Situation die gleiche. Selbst wenn wir uns nicht selbst vergiften, so tun sie es doch.

Ich denke, dass es sich lohnt nicht zu sterben.

Nur das die Wirtschaft so nicht funktioniert und das wissen sie. Was zählt, ist der Profit hier und jetzt, und wer reich ist, wird einen Platz auf der Welt finden, wo man noch leben kann. Um das Schicksal der Armen hat sich in der Vergangenheit niemand gekümmert, und ich glaube nicht, dass sich das geändert hat.

Damit Polen aus dieser Situation mit heiler Haut davonkommt, muss es sofort viel Geld ausgeben und mit der Illusion eines „kostengünstigen Staates“ brechen. In Deutschland hat niemand mit der Idee gespielt, den Bergbau auf dem freien Markt feilzubieten.

Ist der Vergleich mit Deutschland gerechtfertigt? Es ist doch ein viel reicheres und größeres Land als Polen. 

In einem großen Agrar- und Industrieland wie Polen wird der Energiebedarf wachsen und es kann dabei nicht gespart werden. Einst waren auch Schweden und Finnland sehr arm, aber sie investierten über Jahre hinweg in öffentliche Dienstleistungen und eine staatliche Infrastruktur. Der Energiesektor ist heute ein Element im Blutkreislauf der polnischen Wirtschaft, das wir dramatisch vernachlässigt haben.

Sie haben in einem Text geschrieben: „um gerecht zu sein, muss der Energiewandel antisystemisch ablaufen“. Was heißt das?

Energie ist die Grundlage moderner Gesellschaften, und der Zugang zu ihr sollte eher ein Recht als eine Ware sein. Es scheint mir, dass die Klimakrise dazu führen wird, dass die Besteuerung der reichsten Menschen zu einer Notwendigkeit wird und die Dogmen des freien Marktes infrage gestellt werden. Der Energiehunger in den sich entwickelnden Ländern ist riesig, und wenn wir keine Alternativen vorschlagen, wird er mit Kohle gestillt werden. Einige nennen es Sozialismus, andere Populismus – ich nenne es Systemwandel. Wie der Feudalismus und die Sklaverei muss sich der Kapitalismus radikal verändern oder er wird zu Ende gehen. Andernfalls wird unsere Gier dazu führen, dass die Menschheit einfach vergeht.

 

[1] U.a. Minister für Staatsgüter und Regierungsbevollmächtigter für die Umwandlung von Energieunternehmen und den Kohlebergbau, Anm. d. Übers.

[2] Bei einem Armenschacht (poln. biedaszyb) handelt es sich um eine Art Minibergwerk, das meist von verarmten ehemaligen Bergleuten betrieben wird, vgl. u. a. T. Rakowski: Zwischen Sammeleifer und Archäologie. Die Erfahrung von Geschichte und Gegenwart bei degradierten Gemeinschaften in den polnischen Westgebieten (am Beispiel von Waldenburg und Umgebung), in: Wiedergewonnene Geschichte. Zur Aneignung von Vergangenheit in den Zwischenräumen Mitteleuropas, hg. v. P. O. Loew et al., Wiesbaden 2006, S. 330, Anm. d. Übers.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki

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PiS entwirft fiktive Bedrohungen

Mit Jerzy Buzek sprach Jakub Bodziony · 24 November 2020

Recht und Gerechtigkeit und ihre Koalitionspartner entwerfen oft völlig fiktive Bedrohungen – wie z. B. Flüchtlinge oder LGBT, wobei sie die realen Gefahren ignorieren. Dies wird nicht nur an der Klimapolitik, sondern auch am Coronavirus deutlich.

 

Jakub Bodziony: Reisen Sie mit einem Flugzeug?

Jerzy Buzek: Letzte Zeit habe ich Flugzeuge und Züge gemieden. Früher habe ich auch versucht, mit den Reisen nicht zu übertreiben, aber jetzt verzichte ich aufgrund der Pandemie völlig darauf.

Essen Sie Fleisch?

In den letzten drei Jahren war ich Vegetarier, habe aber wegen gesundheitlicher Probleme in letzter Zeit angefangen, gelegentlich Fleisch zu essen. Meine Tochter ist Veganerin und für mich ein gutes Vorbild.

Aufgrund der Klimafragen?

Ja, das ist der Hauptgrund, sowohl in ihrem als auch in meinem Fall.

Ich frage, weil ich neugierig bin, inwieweit Sie an die Bedeutung individuellen Verhaltens glauben. Einige behaupten, dass das, was wir essen oder wie wir reisen, wenig Einfluss auf die globalen CO2-Emissionen habe.

Auf diese Weise beeinflussen wir unsere Nächsten, somit auch die Umwelt, in der wir tagtäglich leben. Wenn wir unser Verhalten ändern, wird unsere Sichtweise nachvollziehbarer, und das zeigt, dass jeder zum Klimaschutz beitragen kann.

Aber das wird uns nicht retten.

Natürlich nicht, denn es sind Beschlüsse der Regierenden, die für unseren Planeten entscheidend sind. Das soziale Bewusstsein der Polinnen und Polen liegt daher in der Verantwortung staatlicher Behörden. Bitte bedenken Sie, dass noch vor über zehn Jahren die Mehrheit der polnischen Bevölkerung der Meinung war, die Einführung des Euro wäre für uns von Vorteil. Das hat sich geändert, denn die „Recht und Gerechtigkeit“ hat uns viele Jahre lang die europäische Integration im weitesten Sinne verleidet. Dasselbe gilt für Flüchtlinge, deren Leben in Gefahr ist. Vor 2015 meinten die Polen, dass ihnen geholfen werden sollte und ihre Anwesenheit in unserem Land sogar ratsam wäre.

Was hat das mit dem Klima zu tun?

Es ist der gleiche Mechanismus einer Realitätsleugnung. PiS und ihre Koalitionspartner entwerfen oft völlig fiktive Bedrohungen – wie z. B. Flüchtlinge oder LGBT, wobei sie die realen Gefahren ignorieren. Dies wird nicht nur an der Klimapolitik, sondern auch am Coronavirus deutlich. Ich möchte daran erinnern, dass der Premierminister bereits Anfang Juli – wegen politischer Interessen des regierenden Lagers – das Ende der Pandemie verkündet hat. Inzwischen brechen wir in Polen neue Infektionsrekorde, und niemand scheint die Situation unter Kontrolle zu haben.

Worin besteht die Ignoranz der gegenwärtigen Regierung in der Klimapolitik?

Sie äußert sich vor allem in Bezug auf die Bergleute, die wie ganz Schlesien, instrumentell behandelt werden. Die politischen Machtzentren verhielten sich so, als hätten sie kein grundlegendes Verantwortungsgefühl für hunderttausende Menschen, die im Bergbau und in verwandten Branchen beschäftigt sind. Während vergangener Wahlkampagnen hörten wir Märchen über die Dauerhaftigkeit des Bergbausektors und seine angeblich glorreiche Zukunft.

Wir hätten genug Kohle für die nächsten 200 Jahre – meinte Präsident Andrzej Duda vor nicht allzu langer Zeit.

Heute erwähnt er es nicht mehr. Die nächsten Wahlen kommen erst in drei Jahren, so dass die Regierung innerhalb von vier Tagen – wie sie es am Freitag selbst verkündete – die Liquidierung der gesamten Bergbauindustrie beschlossen hat. Von heute auf morgen stellte sich heraus, dass wir bis 2049 vollständig aus der Kohle aussteigen können und wollen.

Wie beurteilen Sie die von der Regierung und den Bergleuten beschlossene Vereinbarung?

Ob Kohle in der Energiewirtschaft eingesetzt wird oder nicht, bestimmt die Geologie, d. h. die Erschließbarkeit der Vorkommen, und die Wirtschaftlichkeit, d. h. die Rentabilität der Förderung. Im Falle des polnischen Rohstoffs fallen beide Faktoren negativ aus. Hinzukommt noch ein allgemeiner Rückgang der Nachfrage nach Kohle, weil andere Energiequellen bereits heute billiger und gesundheitlich unbedenklich sind.

Die katastrophale finanzielle Situation des Bergbaus ist kein Zufall. Außerdem verwenden die Energieunternehmen zunehmend importierte Rohstoffe aus dem Ausland – darunter ein gutes Dutzend Millionen Tonnen Kohle aus Russland. In diesem Sinne schreitet die Auflösung der polnischen Bergbauindustrie sehr schnell voran, und ich weiß nicht, ob dies bei solchen Entwicklungen noch bis 2049 dauern wird.

Es ist aber sicher positiv, dass ein bestimmtes Datum genannt wurde. Damit enden die unfruchtbaren Diskussionen, „ob“ wir aus der Kohle aussteigen sollen oder nicht, und wir können uns darauf konzentrieren, „wie“ wir das sozialgerecht, kosteneffizient und gemäß der EU-Bestimmungen umsetzen können.

Die Bedingung für das Inkrafttreten der Vereinbarung soll die Zustimmung der Europäischen Kommission für öffentliche Beihilfen – einschließlich der Subventionen für die laufende Produktion von Bergwerken sein. Die meisten Experten halten das für unrealistisch. 

Es stellt sich also die Frage, ob die Regierung so naiv ist, dass sie glaubt, die Europäische Kommission auf wundersame Weise von ihrem Plan überzeugen zu können, oder ob sie derart zynisch ist und die EU erneut für politisch schwierige Entscheidungen und eigene Ohnmacht verantwortlich machen will. Die Polinnen und Polen wollen aus der Kohle und nicht aus der EU aussteigen. Ich hoffe, dass die Regierung das versteht.

Zuvor hatten die Regierenden angedeutet, dass der Europäische Grüne Deal die Schließung der Bergwerke erzwungen habe …

Wenn es darum geht, etwas jenseits der Fakten anzudeuten, sucht diese Regierung ihresgleichen. Den gesamten Europäischen Grünen Deal auf die Schließung der Bergwerke zu beschränken, ist mehr als eine Vereinfachung – es ist eine wohlkalkulierte Manipulation. Ich habe die Ehre, an diesem größten und umfassendsten Programm in der Geschichte der Europäischen Union mitzuarbeiten. Seine Umsetzung wird dazu beitragen, ein neues Modell der wirtschaftlichen Entwicklung zu schaffen, das auf der Energiewende, grünen Investitionen und der Digitalisierung basiert. Damit soll sichergestellt werden, dass die Europäische Union bis 2050 klimaneutral wird, was bedeutet, dass sich die Summe der emittierten und absorbierten Schadstoffe ausgleicht. Das soll helfen, uns vor einer Klimakatastrophe zu retten.

Der Europäische Grüne Deal ist aber auch eine riesige, strategische Sozialagenda, die zum Ziel hat, die Lebensqualität zu erhöhen, die Gesundheitssicherheit zu gewährleisten, die Situation der Senioren zu verbessern und attraktive Arbeitsplätze für junge Menschen zu schaffen. Paradoxerweise hat uns das Coronavirus diesem Ziel nähergebracht.

Inwiefern?

Zwischen der Pandemie und der Klimakrise gibt es viele Gemeinsamkeiten. Etwas scheinbar Unsichtbares, wie ein Virus oder eine langsam steigende Temperatur, kann enorme finanzielle Verluste verursachen, das Leben eines jeden von uns auf den Kopf stellen und uns sogar physisch bedrohen. Sowohl beim Coronavirus als auch in der Ökologie müssen wir auf die Wissenschaft hören.

Während der strengsten Einschränkungen haben wir gesehen, dass wir weder so mobil sein noch so viel konsumieren müssen und viele Dinge online erledigen können. In Europa gewinnt das Radfahren an Popularität und viele Städte versuchen es zu fördern. Dank einer vorläufigen Änderung des Lebensstils ist unser Energiebedarf deutlich gesunken, was zur Verringerung der Emissionen beigetragen hat. Diese Krisensituation hat uns der Verwirklichung einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft nähergebracht, die eine Revolution im Personen- und Warentransport wie in der Herangehensweise an den Konsum erfordert. Sie konzentriert sich mehr auf das Lokale und die Realisierung des 3R-Ansatzes: „Reduce, Reuse, Recycle“ [Reduzierung, Wiederverwendung und Recycling].

Aber viele Menschen verbinden die Pandemie mit Entsagungen, und das gilt auch für die Ökologie. Verzicht auf Fleisch, Fernreisen oder Kohle. Es ist sehr schwierig, Menschen von seiner Vision zu überzeugen, wenn man ihnen nur weitere Herausforderungen anbietet. Die meisten von uns handeln nach dem Prinzip kurzfristiger Vorteile, und Politiker:innen denken hauptsächlich an die nächsten Wahlen. 

Man kann dies auf sehr pragmatische Fragen reduzieren. Gegenwärtig sterben jedes Jahr 45.000 Polinnen und Polen vorzeitig an Krankheiten, die durch die immense Luftverschmutzung versursacht werden. Das sind um ein Vielfaches mehr Opfer als während der Pandemie, die unsere Lebensweise verändert hat. Mehrere Dutzend Städte in Schlesien und im Dombrowaer Kohlebecken weisen die höchsten Smogbelastungen in ganz Europa auf. Die Bewohner dieser Regionen sind sich dessen bewusst und wollen Veränderungen.

Ein anderes Beispiel: die fast jährlich aufkommenden Dürren verursachen Brände auf riesigen Waldflächen und verwüsten Ernten, was die Bauern finanziell belastet und dann uns trifft, wenn Gemüse- und Obstpreise immer horrendere Preise erreichen. Zu anderen Zeiten haben wir bisher unbekannte Wirbelstürme und Regenfälle mit katastrophalen Folgen.

Wenn nicht Kohle, was dann?

Es ist heute bekannt, dass Energie aus Wind oder Sonne billiger ist. Vor Kurzem hat sich die Regierung für eine Energieversorgung durch Prosumenten geöffnet. Die Bürger reagierten beinahe sofort – auf immer mehr Dächern in Städten und Dörfern werden Fotovoltaik-Paneele angebracht.

Es sollen ebenfalls riesige Investitionen im Zusammenhang mit Offshore-Windparks auf den Weg gebracht werden.

Das veranschaulicht, wie viel von der Herangehensweise und der Entscheidungen der Regierung abhängt, die zuvor durch das Entfernungsgesetz den Ausbau der Windkraftanlagen auf dem Land effektiv blockiert hat. Wir haben durch diese Entscheidungen viel zu viel Zeit verloren, daher freue ich mich über diesen Anflug des gesunden Menschenverstands.

Aber kann man Bergleute, die ihr ganzes Leben untertage gearbeitet haben, davon überzeugen, sich in der Höhe oder auf See eine Arbeit zu suchen?

Während der parlamentarischen Kampagne vor mehr als 20 Jahren legten wir den gesamten Umstrukturierungsplan für den Bergbau auf den Tisch, und er wurde von den Gewerkschaftern akzeptiert. Deshalb ist es meiner Regierung dank des großen Engagements von Minister Janusz Steinhoff gelungen, die Bergbaureform zu meistern.

Die Bewertungen dieser Veränderungen fallen nicht eindeutig positiv aus.

Innerhalb von 2 bis 3 Jahren haben wir 23 Bergwerke geschlossen. Das Ausmaß der Herausforderungen war enorm, deshalb werde ich diesen Erfolg verteidigen. Dank der damaligen Maßnahmen haben die Gemeinden eine reale Entscheidungsmöglichkeit erhalten, ob und wie in ihrem Gebiet Kohle abgebaut werden sollte. Und das zu Recht, denn der Kohleabbau stellt oft eine Bedrohung für die Bewohner dieser Gebiete dar.

Wir haben in Żory, Gliwice, Tychy und Sosnowiec Sonderwirtschaftszonen eingeführt. Heute arbeiten in der modernen Industrie, die auch für junge Menschen attraktiv ist, zehntausende hochqualifizierte Spezialisten. Die Bergleute verließen die Bergwerke aus freien Stücken, und das Sozialpaket für den Bergbau garantierte ihnen den notwendigen Schutz. Arbeitnehmer, die in der Branche bleiben wollten, wurden in profitable Betriebe versetzt.

Wie würden Sie demzufolge anstelle der Regierung in der gegenwärtigen Situation handeln?

Ich werde den Regierenden keine Ratschläge erteilen – auch weil ich nie in ihrer Situation war. Wir haben die Bergleute nicht betrogen ‒ weder während des Wahlkampfes noch nach dem Wahlsieg. Wir führten Gespräche darüber, wie der Bergbau wirklich gerettet werden kann. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war erfolgreich, und der Bergbausektor verzeichnete für die nächsten zehn Jahre Gewinne.

Die PiS sagt etwas anderes und macht dann etwas anderes. Vor zwei Jahren schlug ich im Europäischen Parlament vor, einen Fonds für einen gerechten Übergang einzurichten. Der Grund für seine Entstehung war die Unterstützung der Regionen, in denen die Veränderungen im Energiesektor am schwerwiegendsten sein werden. In Polen sind es Schlesien, das Konin- und Wałbrzych-Becken und in Zukunft auch Bełchatów wie das Lublin-Becken.

Na gut, aber im Falle Polens bringt eine solche Transformation enorme Kosten mit sich. PiS weist darauf hin, dass die Mittel der Europäischen Union für diesen Zweck unzureichend sind. 

Im Parlament und in der Europäischen Kommission ist es uns gelungen, viel Geld für Polen zu gewinnen – auf dem Tisch lagen fast 40 Milliarden Złoty. Deshalb sollten wir für zusätzliches Geld aus dem europäischen Haushalt kämpfen. Dabei gibt die Regierung bisher, gelinde gesagt, keine allzu gute Figur ab. Der Vorschlag im Europäischen Rat, d. h. auf der Ebene der zwischenstaatlichen Entscheidungen, den Fonds für einen gerechten Übergang um mehr als 60 Prozent zu kürzen, ist ein Beweis dafür.

Was ist der Grund für diese Entscheidung?

Fragen Sie dazu den polnischen Ministerpräsidenten, er ist derjenige, der für Kürzungen bei diesem Fonds gestimmt hat. Ich werde es nie verstehen, wie der Ministerpräsident bei dieser Sache, die zur polnischen Staatsraison gehört, nachgeben konnte.

Die Regierungsseite behauptet, dass die Erklärung zur Klimaneutralität Polens bis 2050 zu radikal sei. Und davon hat die EU den Zugang zu größeren Ressourcen für die Transformation abhängig gemacht. 

Sie mag zu radikal sein, aber das hat doch niemand von uns erwartet! Sowohl die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Dezember- und Juli-Gipfel beziehen sich auf einen Beitrag zur Klimaneutralität der EU im Jahr 2050 und nicht auf die Notwendigkeit, dass jedes Land bis dahin eine solche Neutralität erreichen muss. Das ist ein fundamentaler Unterschied und es ist umso schwieriger zu verstehen, warum Polen zweimal dagegen stimmte.

Riesige Geldsummen aus dem Fonds, die in bestimmten Regionen Polens investiert würden, hätten Entwicklungspotential und würden die Lage im gesamten Land verbessern. Wir haben heute, pejorativ ausgedrückt, das einfachste und teuerste Energiesystem in der gesamten Union. Es ist an der Zeit, damit aufzuhören.

Die zentrale Aufgabe für Polen sollte darin bestehen, Mittel aus dem Fonds für einen gerechten Übergang zur Finanzierung von Gasenergie zu beantragen. Das wird es uns ermöglichen, schnell und kontrolliert von der Kohle wegzukommen. Im Gegensatz zur Kernenergie erfordern Gasinvestitionen nicht so viel Geld und bilden eine gute Übergangslösung, denn nach 2050 sollten wir auch anfangen, diesen Brennstoff aufzugeben.

Gibt es noch eine Chance, dieses Geld zu bekommen?

Polen sollte so bald wie möglich seine Teilnahme am Klimaneutralitätsprogramm erklären, so wie es die anderen 26 EU-Länder getan haben. Der gegenwertige Widerstand ist auch ein Element der bereits erwähnten Realitätsleugnung.

Andere Länder haben entschiedene Maßnahmen in dieser Richtung ergriffen, bevor der Klimawandel zu dem großen Thema wurde. Franzosen und Belgier sind zu dem Schluss gekommen, dass sich die Transformation für sie langfristig einfach lohnt. Natürlich war der Prozess selbst teuer, aber sie haben ihn ohne EU-Gelder durchgeführt.

Es droht uns, dass die von der Union zum gerechten Übergang bereitgestellten Mittel gekürzt werden. Gleichzeitig kündigt die Europäische Kommission eine Verschärfung bei der Klimapolitik an. Heute gilt das Ziel, die Emissionen bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren; das neue Ziel ist eine Reduzierung um 55 Prozent. 

Die bestehenden EU-Regularien geben uns bis 2030 Zeit für eine Reduktion um ca. 45 Prozent. Die Europäische Kommission stellte eine Analyse vor, die zeigt, dass das Niveau von 55 Prozent im Rahmen unserer Möglichkeiten liegt. Hervorzuheben ist auch, dass einige Umweltorganisationen und Mitgliedstaaten 60 oder sogar 65 Prozent gefordert haben. Finnland hat berichtet, dass es die vollständige Klimaneutralität bis 2035 erreichen wird, während weitere Länder erklären, dass sie dieses Ziel ebenfalls vor 2050 erreichen werden. Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat daher Recht, wenn sie sagt, dass es sich um einen Kompromissvorschlag handelt.

Das Klimaministerium hat kürzlich ein Dokument mit dem Titel „Die Energiepolitik Polens bis 2040“ veröffentlicht. Handelt es sich dabei um eine echte Strategie oder dient es der Imagepflege? 

Mir scheint es, dass die Wende im Machtlager echt ist. Die Maßnahmen von Orlen [polnischer Mineralölkonzern], d. h. das angekündigte Erreichen der Klimaneutralität bis 2050, oder der Polska Grupa Energetyczna [Polnische Energiegruppe], die bis dahin nur grüne Energie produzieren will, sind bereits heute weitreichender als die Ankündigungen aus der Politik. Es ist der beste Beweis dafür, dass diejenigen, die Energieunternehmen leiten und echte Verantwortung für die Zukunft der Branche übernehmen, die Notwendigkeit einer schrittweisen Abkehr von der Kohle ernst nehmen. Das ist ein sehr wichtiges Signal.

Das Regierungsprojekt enthält gute Vorschläge, die davon ausgehen, dass bis 2040 nur noch 11 Prozent der Elektrizität aus Kohle gewonnen werden. Im Augenblick ist es schwierig über Details zu diskutieren, weil diese noch fehlen, doch die allgemeine Zielsetzung des Vorhabens ist gut. Ich hoffe, dass die Bestimmungen in diesem Dokument während der Verhandlungen auf der Minister- und Koalitionsebene nicht verwässert werden.

Ein weiteres gutes Signal ist die Abkehr von der privaten Kohleheizung in den Städten bis 2030. Die Fernwärme ist viel gesünder und billiger. Dies wird zu einer deutlichen Verbesserung der Luftqualität in den Städten führen. Ähnlich verhält es sich mit der angekündigten Abkehr von privaten Kohleöfen auf dem Land in den kommenden 20 Jahren. Eine zentralistische Vision, so charakteristisch für die Vereinigte Rechte [Parteibündnis unter der Führung der PiS, Anm. d. Übers.], könnte zu einem Problem werden.

Warum?

Lokale Verwaltung, Wissenschaftler, Unternehmer und NGOs sollten bei der Entwicklung von Lösungen für die Transformation in bestimmten Regionen eine Schlüsselrolle spielen. Die dort lebenden Menschen müssen darauf vertrauen, dass die EU-Gelder für Projekte ausgegeben werden, die ihr tägliches Leben, insbesondere ihre Gesundheitsbedingungen, verbessern und die Zukunft künftiger Generationen besser machen, die nicht mehr von der biologischen Katastrophe bedroht sein werden. Das Übermitteln von Programmen aus der Warschauer Zentrale nach Schlesien oder Konin untergräbt eine der wichtigsten Ideen des Fonds für einen gerechten Übergang.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki

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Ideen für einen grünen Liberalismus

Kacper Szulecki · 24 November 2020

Alle aus der Geschichte bekannten großen Energietransformationen führten neben technologischen auch zu politischen Veränderungen. Angesichts der gegenwärtigen gigantischen Herausforderung der Dekarbonisierung dürfen wir nicht vergessen, dass diese ebenfalls die Chance auf eine politische Neuaufstellung birgt.

 

Wie könnte eine liberale Antwort auf die Klimakrise und andere Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aussehen? Anstatt künstlich eine neue Form des Liberalismus zu entwerfen, ist es sinnvoller, aufzuzeigen, wie konkrete Antworten auf die gegenwärtigen Krisen aussehen könnten, die Freiheit als zentralen Wert begreifen. Das bedeutet, dass zunächst die wichtigsten Krisen verstanden und diagnostiziert werden müssen.

Ungleichheit, Demografie, Identität und … Umwelt

Seit der Veröffentlichung von Tomas Pikettys „Kapital“ ist viel von den sich vertiefenden ökonomischen Ungleichheiten die Rede (während deutlich weniger dagegen unternommen wird). Sowohl in Industrieländern als auch in sich entwickelnden Staaten treiben Ungleichheiten die Gesellschaften auseinander und führen in einigen Fällen zu Formen sozialer Ausgrenzung mit möglicherweise explosiven Folgen.

Hinzu kommt das Problem des demografischen Wandels, der in seinen Ausmaßen historisch beispiellos ist und daher ein Umdenken in Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft erfordert. Mit diesen Herausforderungen vermengt sich zudem eine Identitätskrise, die mithilfe von Statistiken und makroökonomischen Daten schwieriger zu erfassen ist. Sie liegt der populistischen Politik von rechts und links zugrunde, welche sowohl die liberale Demokratie als auch das politische Zusammenleben verschiedener Kulturen untergräbt.

Über alldem schwebt eine Krise unbekannter Tragweite: es ist die ökologische Krise, zu deren Symptomen der Klimawandel, der dramatische Rückgang der Biodiversität und die Überdehnung anderer Grenzen des Systems unseres Planeten zählen.

Das sind viele Krisen. Es bedeutet jedoch nicht, dass wir in Panik verfallen müssen. Jede dieser vier Krisen entspricht einem Wendepunkt, ist aber noch keine Katastrophe (vielleicht mit Ausnahme der bereits irreversiblen Umweltveränderungen).

Flucht nach vorn

Die Antwort kann weder in einer Rückkehr zur imaginierten idyllischen Vergangenheit liegen, wie es die Konservativen oft vorschlagen, noch in einer Wiederkehr des goldenen Zeitalters des Nachkriegswohlfahrtstaates, wovon manche Sozialdemokraten zu träumen scheinen. Möglich ist nur eine Flucht nach vorn.

Die Richtung sollten drei grundlegende Werte des liberalen Denkens weisen. Zwei von ihnen hat Tomasz Sawczuk in seinem kürzlich erschienen Artikel „W stronę polityki natury.“ [In Richtung einer Politik der Natur] sehr präzise umrissen. Zuallererst geht es um relational verstandene Freiheit, die immer in Beziehung zu anderen und ihren Freiheitsräumen steht. Der zweite Wert ist Solidarität, die man als eine Methode zur Institutionalisierung von Freiheit verstehen kann und damit als Prinzip des gesellschaftlichen Miteinanders die freiheitliche Ordnung regelt. Hierzu muss noch ein dritter, eng verbundener Wert hinzugefügt werden: Verantwortung im Sinne des Auf-sich-Nehmens der Konsequenzen für das eigene Handeln und Nicht-Handeln. Gemeint sind die Konsequenzen gegenüber sich selbst und den anderen. Gegenüber Menschen und Nicht-Menschen, also auch der Natur.

Von der Theorie zur Praxis

Diese drei Werte und ein entsprechendes Verständnis ihrer Bedeutung bilden in turbulenten Zeiten den Rahmen für eine liberale Reaktion auf die ineinandergreifenden Krisen. Das bedeutet nicht, sie einfach in konkrete Handlungsanweisungen zu übertragen – das Übersetzen axiologischer Abstraktionen in praktische Maßstäbe gehört in das Feld der politischen Auseinandersetzung.

Was die Klimakrise betrifft, so können wir schon heute einige Wege aufzeigen. Auf den Seiten von Kultura Liberalna habe ich bereits über die Notwendigkeit geschrieben, die „energiepolitische Xenophobie“ zu überwinden, die die polnische Politik zur Dekarbonisierung beherrscht. Es ist deutlich erkennbar, dass eine angemessene Antwort auf die Klimakrise durch eine – vor allem auf Seiten der polnischen Rechten – verbreitete Identitätskrise blockiert wird. Diese führt dazu, die Energieversorgung allein unter dem Gesichtspunkt nationaler Autarkie anstelle von wechselseitigen Abhängigkeiten zu betrachten. Eine wirksame Dekarbonisierung erfordert jedoch eine Planung auf mehreren Ebenen, vor allem auf regionaler und überstaatlicher Ebene.

Die Europäische Union als Klimaklub 

Ein weiterer Test für Solidarität, Verantwortung und Freiheit auf internationaler Ebene liegt künftig in der unvermeidlichen Entstehung freiwilliger Zusammenschlüsse von Staaten mit einer ehrgeizigen Politik zur Bekämpfung des Klimawandels – sogenannter Klimaklubs. Dabei handelt es sich um Länder, die nicht auf ein weltweit verbindliches Abkommen warten wollen, das trotz des Teilerfolgs der Klimakonferenz in Paris 2015 vielleicht nie zustande kommen wird.

Vieles deutet darauf hin, dass die EU mit ihrem ehrgeizigen Projekt des Europäischen Grünen Deals und ihrer neuen Klimagesetze der erste derartige Klub sein wird. Die weitere Entwicklung eines solchen, durch Europa initiierten Klubs bedarf jedoch der ständigen Unterstützung und demokratischer Legitimation, was bedeutet, dass der Erfolg des Vorhabens von tagespolitischen Auseinandersetzungen abhängen wird, und das auch in Polen. Krampfhaft an einem oberflächlichen Freiheitsverständnis im Sinne der neoklassischen Ökonomie festzuhalten, oder wie die populistische Linke einer Solidaritätsargumentation zu folgen, ohne den Wert der Verantwortung zu berücksichtigen, könnte den Europäischen Grünen Deal untergraben und die Chance auf einen Durchbruch verspielen.

Eine ausgewogene Gesellschaft

Die vier genannten Krisen erfordern eine neue Vision einer ausgewogenen Gesellschaft – einer, die ein neues Gleichgewicht zwischen den Generationen, zwischen den Kulturen und zwischen den Menschen und der Natur findet. Andere, mit den Liberalen konkurrierende weltanschauliche Kreise, werden eigene Zukunftsvisionen vorstellen oder haben dies bereits getan. Von linken Argumenten motivierte Regulierungsforderungen marginalisieren allerdings das Bedürfnis nach Freiheit, während es libertären und anarchistischen Vorschlägen gänzlich an Bewusstsein für die Verantwortung fehlt.

Alle aus der Geschichte bekannten großen Energietransformationen – angefangen mit dem Übergang von Biomasse und menschlicher wie tierischer Arbeitskraft zu einem auf der Verbrennung von Kohle basierenden System, über das Ersetzen von Kohle durch Erdöl im Transportwesen, bis hin zum lokalen Aufstieg von Gas und Atomenergie in der Nachkriegszeit – haben neben technologischen auch zu politischen Veränderungen geführt. Angesichts der gegenwertigen gigantischen Herausforderung der Dekarbonisierung dürfen wir nicht vergessen, dass diese ebenfalls eine Chance für eine politische Neuaufstellung birgt. Die konservativen Gegenvorschläge gründen die Dekarbonisierung auf Technologien, die den politischen und wirtschaftlichen Status quo verteidigen – Atomkraft, CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS), Geo-Engineering und künstliche Atmosphärenkontrolle sind trügerische Ideen, die nur dazu führen, eine tiefgreifende Wende zu verlangsamen.

Die liberale Demokratie muss unter dem Druck populistischer und antiliberaler Kräfte nicht untergehen. Was sie aber unbedingt braucht, ist ein neuer Treibstoff. Die aus Umweltschutzgründen nötige Energietransformation, und die Schwerpunktsetzung auf die Entwicklung dezentral organisierter, erneuerbarer ziviler Energieversorgung (die bereits heute als „demokratisch“ bezeichnet wird) geben Impulse, neu über die Demokratie im Allgemeinen nachzudenken.

Die Utopie einer partizipativen Demokratie, in der alle Lebensbereiche politisiert werden, wird durch den technologischen Wandel praktisch erzwungen und zunehmend durch „assoziative“ Formen der Demokratie ersetzt, in der die Bürger:innen neue Arten der Teilhabe und Bindung in Genossenschaften, Verbänden und Gruppen suchen. Das ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass die Tocqueville‘schen Wurzeln des Liberalismus keineswegs nur an Bedeutung verlieren, sondern sich im Gegenteil im 21. Jahrhundert wieder als aktuell erweisen können.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki

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Museum im Endstadium. Über die Ausstellung „Das Zeitalter des Halbschattens“ (The Penumbral Age) im Warschauer MSN

Weronika Kobylińska · 24 November 2020

Die moderne Museologie kann angesichts der wachsenden Umweltkrise Ausstellungen zu einem Instrument der sozialen Mobilisierung entwickeln. Die jüngste Exposition im Museum für Moderne Kunst [poln. Muzeum Sztuki Nowoczesnej, MSN] in Warschau ist jedoch ein Negativbeispiel und zeigt, wie man es nicht machen sollte.

 

Anthropozän versus Museum

Im Jahr 2000 zeigten der niederländische Atmosphärenchemiker und Meteorologe Paul Crutzen und der amerikanische Biologe Eugene Stoermer auf [1], dass die radikalen und rapiden Veränderungen des Erdballs, die der Mensch, mindestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzieht, nach einer neuen geologischen Epoche in der Geschichte der Erde verlangen – dem Anthropozän. Crutzens und Stoermers gerade eineinhalb Seiten langer Artikel veränderte das zeitgenössische wissenschaftliche Narrativ auf revolutionäre Weise, und zwar nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften (auch wenn sich zugegebenermaßen anfangs nur wenige Forscher über die Folgen dieser Aussagen im Klaren waren).

„Das Verschwinden der Biodiversität, die Umweltverschmutzung, der Klimawandel – die Kunstwelt kann diesen Phänomenen gegenüber nicht gleichgültig bleiben und sollte sich zu diesen Fragen mit Nachdruck äußern.“ Ich bin davon ausgegangen, dass ein solcher Standpunkt im hauptstädtischen Museum für Moderne Kunst vorgestellt würde. Die Ausstellung „Das Zeitalter des Halbschattens“ ist ein Versuch, die Probleme der von Crutzen und Stoermer diagnostizierten Epoche zu veranschaulichen. Ich besuchte die Ausstellung mit großen Erwartungen und vermutete, dass sich die Kurator:innen entschlossen haben zu zeigen, welch wichtige Rolle der zeitgenössischen Kultur im Kampf gegen die negativen Auswirkungen des Anthropozän zukommen kann. Es hat jedoch den Anschein, dass wir noch nicht bereit sind, die anthropozentrische Profilierung der Kultur zu kritisieren.

Unabhängig von der Bewertung der Ausstellung selbst bietet „Das Zeitalter des Halbschattens“ eine gute Gelegenheit für eine breitere Reflexion über die zeitgenössische Rolle des Kurators / der Kuratorin und seiner / ihre Funktion im Museum. Die hitzigen Diskussionen zu diesem Thema haben sich in unseren Kreisen etwas abgekühlt, weil sie (völlig zu Recht) durch die Kritik an den voreiligen und schädlichen Aktionen der neu benannten Direktoren in Institutionen wie dem Nationalmuseum oder dem Zentrum für Zeitgenössische Kunst verdrängt wurde. Neben der kritischen Kommentierung aktueller Fälle politischer Einflussnahme auf kulturelle Institutionen sollten wir auch allmählich in die Zukunft blicken und uns fragen, welche Museumskonzepte wir anstreben wollen. Welche Ziele werden verfolgt, wenn die politischen Spiele endlich enden würden und sich diese Institutionen stärker auf die inhaltlichen Aspekte konzentrieren könnten?

Friss!

Normalerweise schlendern wir durch Museen mit (mehr oder weniger) Interesse. Durch das Warschauer Museum für Moderne Kunst muss man sich mit einer 80-seitigen, grauen Zeitung fortbewegen. Ohne sie sind wir in der Ausstellung „Das Zeitalter der Halbschatten“ völlig verloren, da nur so die allermeisten Objekte aus der Exposition für uns verständlich werden. Ich gebe offen zu, dass ich mich nicht auf das Lesen der Werke selbst und den direkten Kontakt mit der künstlerischen Materie einlassen konnte, weil die Lektüre der Museumszeitschrift (gestört durch die lauten Soundtracks der Videoarbeiten) mir viel Konzentration abverlangte. Mehr noch: Nicht nur ich (eine Kunsthistorikerin) suchte mit verstörtem Blick nach Nummerierungen, um dann nervös in der Zeitung zu blättern, um herauszufinden, „Auf was ich eigentlich schaue?“

Abb. 1: Etwa 1/4 dessen, was man beim Besuch von „Das Zeitalter des Halbschattens“ lesen muss, Fot. W.K.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Besucher:innen dieser Ausstellung die ausführlichen (zwei bis drei Absätze langen) Beschreibungen aller 71 Kunstwerke lesen? Sie ist verschwindend gering. Warum haben sich dann so erfahrene Kurator:innen wie Sebastian Cichocki und Jagna Lewandowska nicht auf eine synthetisierende Beschreibungsstrategie entschieden? Schließlich hätten sie uns unter jedem Objekt eine zweite, knappe Version der Beschreibungen anbieten können. Nun, kurze Zusammenfassungen wären wohl „zu leicht“ verdaulich, und die Institution scheint ihre dominante Stellung manifestieren zu wollen; sie muss die Betrachter:innen „brechen“, mit dem Diskurs verwirren und will mit ihnen wohl keinen partnerschaftlichen Dialog führen. Obwohl ich die Foucault’sche Gleichung ‚Wissen ist Macht‘ kenne, frage ich mich, ob Wissen immer so repressiv für diejenigen sein muss, die ein wenig Appetit nach Erleuchtung haben? Müssen sich Museen ihren Besucher:innen dermaßen entgegensetzen?

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb Paul Valéry, dass man ein Museum „bewundern kann, es gibt aber keines, das einem Wonnen schenkte“ [2]. Die Thesen des französischen Dichters und Essayisten sind nach wie vor beunruhigend aktuell, vielleicht lohnt es sich also, den Status quo zu durchbrechen? Warum erlauben wir den Besucher:innen nicht, sich im Museum heimisch zu fühlen, sich mit dem Raum zu identifizieren? Es als gastfreundlich und freundschaftlich zu definieren, statt die Besucher:innen (ihre mangelnde Vorbereitung und Ignoranz vorwerfend) einzuschüchtern und zu stigmatisieren. Wir können diese Frage umformulieren, indem wir uns auf die etymologischen Ursprünge des Wortes Museum [griech. μουσεῖον mouseíon – „Tempel der Musen“] beziehen: Sollte die Muse, der die Besucher:innen folgen sollten, nicht attraktiv, lehrreich und warmherzig zugleich sein? Es ist in der Geschichte der Museologie schon oft betont worden, dass ein Kunstwerk in einem Museum stirbt (wobei für dieses Problem verschiedene Gründe vorgebracht wurden [3]). Kam das 21. Jahrhundert nun zu der Erkenntnis, dass auch der/die Betrachter:in sterben muss? Mich beschleicht der Verdacht, dass die Kurator:innen von „Das Zeitalter des Halbschattens“ das Werk „Eat death“ (von Bruce Nauman) allzu wörtlich aufgefasst haben und beschlossen, dass es sich nicht lohnt, uns mit etwas anderem zu füttern als mit einem übermäßig diskursiven – und daher toxischen – Brei [4]. Das „Gericht“, das uns im MSN angeboten wird, wird weder als intellektuelles Nährmedium den Appetit der Stammklientel befriedigen, noch wird es einen schmackhaften Anreiz für ein breiteres Publikum bieten.

Aktivieren, sprich: Erstaunen, Verstören, Konfrontieren

Ich hoffte, dass die Kurator:innen von „Das Zeitalter des Halbschattens“ sich darauf konzentrieren würden, die Einstellungen ihrer Besucher:innen zu lenken und ihnen die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagements vermitteln, um die räuberische Politik des Menschen, die unseren Planeten in einem beispiellosen Ausmaß verändert und ausgebeutet hat, zu nivellieren. Das MSN hat großes Potenzial, sein Publikum zu aktivieren. So hoffte ich außerdem, dass das Museum sich vom anachronistischen Konzept eines Spektakels [5], das sich auf den passiven Konsum von visuellen Eindrücken konzentriert, entfernen würde. Ich vertraute darauf, dass das MSN die Welt nicht nur interpretieren, sondern auch versuchen würde, sie zu verändern. Mit großer Enttäuschung und großem Bedauern muss jedoch festgestellt werden, dass die Warschauer Institution der Aufgabe, im Sinne der berühmten elften These Marx‘ über Feuerbach [6], nicht gewachsen ist. Das MSN ist kein Museum, das sich von der Philosophie der Tat leiten lässt. Und dass, obwohl die zeitgenössische visuelle Kultur vielfach bewiesen hat, dass sie großes Potenzial im Bereich mutiger subversiver Aktionen besitzt [7]. Wenn sie sich den Ausgrenzungen verschiedener Arten von Minderheiten widersetzen und den unterdrückenden moralischen Kanon überwinden kann, warum sollte sie dann nicht versuchen, die anthropozentrische Profilierung der Kultur einer kritischen Betrachtung zu unterziehen?

Es kann viele Vorgehensweisen geben, um die Betrachter:innen zu bewegen und zu aktivieren, wobei die vom Kurator:innenteam (und den Künstler:innen) gewählten Methoden in engem Zusammenhang mit den Ausstellungsfragen stehen sollten. Ein Beispiel für eine bedeutende Intervention, die die Fähigkeit des Museums zur Selbstreflexion perfekt demonstriert, war die kuratorische Arbeit von Christopher Morton, die 2017 im Pitt Rivers Museum, einer Institution, die ethnografische und archäologische Sammlungen der Universität Oxford präsentiert, durchgeführt wurde. Morton wollte in die Erzählung der Ausstellung einen künstlerischen Ausdruck einführen, der in einen Dialog (oder gar eine Polemik) mit der Geschichte und dem Charakter der Institution und mit historischen Persönlichkeiten eintreten sollte, die bei der Eröffnung des Museums eine Schlüsselrolle spielten. Daher beschloss der Kurator die Werke von Christian Thompson, einem zeitgenössischen Aborigine-Künstler, aus der Reihe „Museums of Others“ [2016] zu erwerben und führte diese in die Struktur der Dauerausstellung ein [8]. Die Fotografien zeigen Thompson selbst, wie er sich hinter einer grotesken Maske mit einem Porträt von Augustus Pitt Rivers (1827–1900) versteckt. Erinnern wir uns, dass Pitt Rivers in der britischen Wissenschaftsgemeinschaft bedingungslosen Respekt genoss, trotz seiner unbestreitbaren Beteiligung am Prozess der Vergegenständlichung der „Anderen“, d. h. derjenigen, die nicht in das Bild der eurozentrischen Weltsicht des 19. Jahrhunderts passten. Mithilfe dieses Entfremdungsprozesses der Aborigines erreichte Pitt Rivers die Öffentlichkeit und konnte seine Karriere aufbauen. Thompsons Foto voller anprangernder Ironie reißt das bisherige Geschichtsnarrativ des Museums, das Pitt Rivers glorifiziert und positiv bewertet, ein. Damit kehrte Morton die für ethnografische Museen typische Erzählperspektive um. Sie basiert in der Regel auf Betrachtungen „nicht professioneller“ Künstler:innen (in diesem Fall Aborigines), die von einem Anthropologen und Kolonisator aufgeführt werden. Dank Thompsons Arbeiten wird dieses Abhängigkeitssystem niedergerissen. Morton bot dem Publikum die bittere Sichtweise eines einheimischen Künstlers an, der die Geschichte der Institution, die sich die Werke seiner Vorfahren aneignete, kritisch analysierte.

Ein weiteres hervorragendes Beispiel für sozialen Aktivismus auf dem Gebiet kleinerer polnischer Ausstellungsinstitutionen stellt die Strategie Karolina Gembaras dar, die mit dem Kollektiv Sputnik Photos verbunden ist. Sie initiierte das Projekt „Nowi warszawiacy. Nowe warszawianki“ [Neue Warschauer. Neue Warschauerinnen], bei dem die Wirkungsmacht der Fotografie wiederbelebt wurde.

Abb. 2: Ausschnitt aus der Ausstellungszeitung des Projekts „Nowi warszawiacy. Nowe warszawianki“ [Neue Warschauer. Neue Warschauerinnen], das von Karolina Gembara realisiert und kuratorisch betreut wurde. Foto bereitgestellt mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin. Einblicke in das Gesamtprojekt sind hier abrufbar.

Dank dieses Mediums konnten sich diejenigen den unfreundlichen Raum aneignen, die sich als (ungebetene) Gäste der polnischen Hauptstadt fühlten. Obwohl einige von ihnen weiterhin in geschlossenen Zentren leben und andere von der Abschiebung bedroht sind, konnten sie dank der Fotografie ihren Standpunkt visuell wie künstlerisch darstellen und durch die Bilder in der Debatte zu den Problemen der Migration aktiv Stellung beziehen. Die Ausstellung (während der/die Autor:innen die Besucher:innen zu spontanen Fotosessions vor Ort einluden) und die dazugehörende Ausstellungszeitschrift, die in verschiedenen Lesesälen und Bibliotheken kostenlos erhältlich war, verwandelten die Galerie von einem stummen Schaufenster zu einem Raum des sozialen und kulturellen Dialogs, in dem Migrant:innen unmittelbar mit Empfänger:innen ihrer Werke konfrontiert wurden. In Gembaras Vorgehen finden sich Konzepte aus der Geschichte der Fotografie wieder, die die Betrachter:innen zur Interaktion mit dem Medium anregen wollten. So bezieht sich die Autorin beispielsweise auf Francos Vacceris Installation „Leave a Photographic Trace of Your Passing“ aus dem Jahr 1972, die – wie schon der Titel suggeriert – dazu anregte, einen im Raum aufgestellten Fotoautomaten zu betreten und sein angefertigtes Foto in der Galerie aufzuhängen. Die polnische Aktivistin und Fotografin geht jedoch einen Schritt weiter und zwingt die Betrachter:innen zu einer direkten Konfrontation und Stellungnahme zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen. Indem wir Migrant:innen treffen, die uns fragen: „kann ich von dir ein Foto machen“, können wir ihren Schicksalen gegenüber nicht mehr gleichgültig sein.

Scheuen wir uns also nicht, uns auf das Konzept der affektiven Kunstgeschichte zu berufen, vor allem, wenn unser Ziel die Kommunikation mit den Betrachter:innen ist.

Hören wir auf die Bedürfnisse des Publikums

Bezogen auf das – scheinbar banale Thema – der übertrieben aufgeblähten Beschreibungen, gäbe es noch einen weiteren Punkt zu klären: Wenn die Ausstellung menschliche Fehler in dem titelgebenden „Zeitalter des Halbschattens“ behandelt und aufzeigt, dass die Natur nicht weiterhin als eine stumme Welt dienen soll – ohne eigenen Handlungsspielraum und dem Menschen untergeordnet – wäre es dann nicht besser, wenn man QR-Codes verwenden würde, statt zur Überproduktion von Altpapier beizutragen, dessen negative Auswirkungen bereits in der unmittelbaren Nähe des Museums zu finden sind? Mit Bedauern musste ich feststellen, dass die meisten Besucher:innen nach dem Verlassen des MSN das Angebot zur vertiefenden Lektüre des Ausstellungsblattes ausschlugen. Es bleibt die Hoffnung, dass sie sich in der Behaglichkeit des eigenen Heims mit dem Thema erneut auseinandersetzen werden. Die Kurator:innen müssen unser Interesse gewinnen, wenn wir uns auf ihrem Territorium, im Epizentrum des Kunstfeldes, befinden. In dieser Hinsicht haben sie leider eine totale Niederlage erlitten. „Das Zeitalter des Halbschattens“ verdeutlicht, dass sich diese auf mehreren Feldern abspielte: dem Dialog mit dem Publikum, der Auswahl der Objekte und die Art ihrer Präsentation.

Die Kurator innen konnten (oder wollten?) ihre Methoden und Kommunikationsinstrumente nicht neu definieren, um den Bedürfnissen gerecht zu werden; sprich: sie berücksichtigten (außer dem kleinen Kreis der Expert:innen) die Bedürfnisse anderer Akteur:innen nicht, um an dieser Stelle Bruno Latour zu bemühen (dessen Ideen doch hinter der Ausstellung stehen). Wenn wir nicht mal im musealen Mikrokosmos Latours Forderungen umsetzen können, glaube ich nicht, dass wir als Menschheit reif genug sind, um uns von dem hierarchischen System zu lösen, in dem der Mensch die Natur beherrscht.

Nacht der lebenden Toten oder der wiederbelebte Konzeptualismus

Die Ausstellung kann jedoch nicht allein aufgrund dessen kritisiert werden, dass die Besucher:innen eine gedruckte Ausstellungsbroschüre mit sich führen müssen. Schauen wir uns die anderen Aspekte von „Das Zeitalter des Halbschattens“ an. Auf der Ausstellung finden wir einige sehr charakteristische Typen von Werken, die den aktuellen, auch vorhersehbaren Tendenzen der zeitgenössischen Kunst entsprechen. Darunter finden sich unter anderem Zeichnungen, die der primitiven Strömung (Quavavau Manumie, Magdalena Starska) zuzurechnen sind. Sie sind kindlich, vereinfacht und manchmal – wir sollten uns nicht scheuen es zuzugeben – trivial. Eine weitere Gruppe bilden Werke, die sich Chiffren widmen: unauffällige Schnitte auf Millimeterpapier, isometrische Zeichnungen oder Karten, die sich der traditionellen Ästhetik verweigern, wobei es darauf ankommt, die wissenschaftlich-konzeptionelle Grundlage der Realisierung demonstrativ hervorzuheben (z. B. Rasheed Araeen, Agnes Denes). In die dritte Kategorie fallen Fotografien, die hauptsächlich als Substitut für eine bestimmte Performance, Idee oder ein Vorhaben dienen. Die Rolle der Fotografie balanciert zwischen einer kühlen Registrierung eines Ereignisses (z. B. Fotos aus dem Betsy Damon Archiv) und einem fetischisierten Zeugnis eines ephemeren, vergänglichen Kunstwerks (Hamish Fulton). In beiden Fällen konzentrieren wir uns nicht so sehr auf eine bestimmte Aktion, ihren Sinn, sondern – den Künstler oder Künstlerin erinnernd – auf die Art und Weise, wie sie festgehalten wird. Nachdem wir das MSN verlassen haben, könnte uns das Gefühl einer vollständigen Abnutzung der gegenwärtigen visuellen Kunst beschleichen, die uns nichts mehr zu bieten hat. Es sind Wiederbelebungsversuche eines Leichnams der konzeptuellen Tendenzen in Form einer trockenen, fotografischen Aufzeichnung, die niemanden mehr bewegt, überrascht und zum Handeln provoziert. Das vom Ice Stupa Project realisierte „Eis-Stupa in Ladakh“ gehört, meiner Meinung nach, zu den interessantesten Projekten (weil es sich am stärksten an den diagnostizierten Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung orientiert und eine Lösung auf spezifische Probleme anbietet). Es kann aber von den Besucher:innen in der Ausstellung leicht übersehen werden, da es, lediglich von wenigen bescheidenen Fotos repräsentiert, den Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Betrachter:innen gegen einen großen Monitor verliert, auf dem ein überraschendes Video zu sehen ist. In diesem werden wehrlose, titelgebende Fische zu Opfern der von Menschen initiierten Begegnung zwischen Eros und Thanatos (Jonathas de Andrade, “Fish”, 2016 [9]).

Im Zusammenhang mit dem „Zeitalter des Halbschattens“ wird das Problem bei der Gegenüberstellung von bekannten „Top“-Namen mit jungen, ausländischen und Nischen- Künstler:innen deutlich sichtbar. Die Kurator:innen versuchen den Kanon zu diversifizieren und ich unterstütze solche Vorgehensweisen sehr. Leider wurde dies inkonsequent durchgeführt: Was in der polnischen Szene unbekannt ist, wird keineswegs in den Vordergrund gestellt und geht neben den „lautesten“ und für uns bekanntesten Inszenierungen unter. Bei dem Infragestellen von Künstler:innen mit dem höchsten Wiedererkennungswert, waren die Kurator:innen darüber hinaus zu zögerlich (das wird besonders bei der Beschreibung von Richard Longs Werk sichtbar [10]). Paradoxerweise ermöglicht erst die Losung mit dem Titel „die größten Hotties der polnischen Geschichte der Konzeptkunst“ [11], dass sich der/die Rezipient:in irgendwie durch die unklare Struktur der Ausstellung durchbeißt.

Und hier kommen wir zu dem Hauptvorwurf, der dem MSN gemacht werden soll. Die Ausstellung ist inkohärent und chaotisch; anstatt eine konsequente Narration zu entwickeln, gleicht sie eher einem zufälligen Mosaik von Werken, die (auf mehr oder weniger durchdachte Weise) Probleme des Umweltschutzes und des „globalen Wandels“ berühren. Die Kurator:innen verlieren die Kontrolle über die reichhaltige und vielfältige Kunstsammlung. Die große Anzahl der präsentierten Objekte trägt lediglich zur Erstellung beeindruckender Statistiken (und damit zum Aufbau eines spezifischen Erscheinungsbildes) bei, der aber sicherlich nicht die begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit der Besucher:innen fördert. Zudem ruft der Import von Kunstwerken aus Österreich, Australien, Brasilien, Kroatien, Japan, Lettland, den Niederlanden, Deutschland, Pakistan, den USA, Ungarn und dem Vereinigten Königreich Bewunderung hervor, provoziert aber auch gleichzeitig die Frage nach dem CO2-Fußabdruck, der durch den Transport der Werke zu dieser Ausstellung entstanden ist. Es fehlen sowohl die Aufzeichnungen und die Datensammlung als auch die Messung der Treibhausemissionen, die während der Vorbereitung der Ausstellung entstanden sind. Es ist auch schade, dass die Einnahmen aus dem Verkauf von Eintrittskarten und der Mini-Ausstellungsführer nicht für Umweltzwecke bestimmt wurden. Schließlich hätte uns, als eine um den MSN entstandene Gemeinschaft, zum Beispiel die Möglichkeit geboten werden können, einen Luchs zu adoptieren, oder in anderer Weise der Umwelt dienlich zu sein. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man bei der Ausstellung „Das Zeitalter des Halbschattens“ nicht von der Erfüllung eines Bildungsauftrags und der Herausbildung gesellschaftlicher Einstellungen sprechen kann – und genau das erwarte ich von einer Ausstellung im Warschauer Museum für Moderne Kunst. Als ein nachahmenswertes Beispiel lohnt es an dieser Stelle auf die Aktion „Nieużytki Sztuki“ [Kunstverschwendung] [12] zu verweisen.

Viele der im MSN ausgestellten Arbeiten sind grafische Diagramme (weshalb ich erwarten würde, dass sich das Museum von diesen Werkzeugen zu Selbstreflexionen im Bereich der Ausstellungsproduktion inspiriert hätte), was ihre stark konzeptuellen Konnotationen impliziert. Da aber nicht die Geschichte der Konzeptkunst den Gegenstand der Ausstellung bildet, hätte man versuchen sollen, diese Erkenntnisse anders darzustellen. Wäre es nicht wirkungsvoller, im Falle von Robert Morris‘ „Earth Project“ eine großformatige Fotografie zu zeigen, die dieses „moderne Stonehenge“ illustriert, statt den Betrachter:innen nur einige kleine, unscheinbare technische Zeichnungen darzubieten? Eine veränderte Ausstellungsstrategie wäre nicht nur visuell wirksamer, sie wäre auch bei der Vermittlung von Informationen an die Besucher:innen effizienter. Wir hätten eine Annäherung an die reale Erfahrung mit diesem wichtigen Artefakt der Land-Art bieten können, was es dem Publikum erleichtert hätte, die charakteristischen Schlüsselkomponente dieses Werks (seine Ausmaße, Reichweite, Spezifität, Charakter) zu verstehen.

Es war schon mal besser

Roland Barthes stellte Schockfotos in Frage [13] und Susan Sontag kritisierte brutale Reportagen [14] – beide schätzten subtile visuelle Botschaften; sie wollten die Sensibilität der zeitgenössischen Betrachter:innen nicht „abstumpfen“ lassen. Zwischen der Brutalität der (von den oben beschriebenen Theoretiker:innen) visuellen „Vergewaltigungen“ und der stillen Neutralität von technischen Zeichnungen (wie die von Morris) können wir Lösungen finden, die (multisensorisch) neugierig machen und unsere kognitiven Fähigkeiten erweitern können. Beispielsweise wurde auf der (zugegebenermaßen kontrovers kommentierten) Ausstellung „Zmiana ustawienia. Polska scenografia teatralna i społeczna XX i XXI wieku” [Verändertes Setting. Polnische Szenografie am Theater und in der Gesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts, 19. Oktober 2019 bis 19. Januar 2020], die in der Warschauer Nationalen Kunstgalerie Zachęta gezeigt wurde, der Widerhall von Protesten vor der Premiere des Theaterstücks „Klątwa“ [Der Fluch, Regie: Oliver Frljić, 2017] präsentiert. Umgesetzt wurde dies auf eine sehr durchdachte Weise. Den Protesten wurde in einem fast vollständig abgedunkelten und abgetrennten Bereich Raum gegeben, in dem der/die Besucher:in mit lautstarken Äußerungen der Demonstration wie: „Die Polizei lässt das lewactwo [pejorativ für die Linken] zu, die unsere wichtigsten Werte beleidigen!“ / „Ihr seid keine Polen!“, konfrontiert wurde. Ich konnte für eine Weile die Augen schließen, aber es bedeutete mitnichten, dass ich dadurch vor den Angriffen der brutalen Hassrede Zuflucht fand. Eine bewusste Verschiebung des Höhepunkts auf das Ende der Ausstellung führte dazu, dass der/die Besucher:in sich nach dem Verlassen der Kunstgalerie mit dem final Erlebten auseinandersetzen musste. Natürlich sollten nicht immer die gleichen szenischen und erzählerischen Strategien wiederholt werden. Dieses Beispiel veranschaulicht jedoch sehr deutlich, dass es sich lohnt, die Struktur einer Ausstellung gründlich zu überdenken und dabei nicht nur ihre chronologische Achse oder stilistische Kategorien zu berücksichtigen. Es sollten auch die Ausstellungsobjekte in Wirkung und Rhythmus auf die Emotionen der Betrachter:innen abgestimmt werden.

Mission failed

Ich erwartete, dass die Ausstellung „Das Zeitalter des Halbschattens” eine kompromisslose, kritische Anklage der (Zer-)Störung des Gleichgewichts verschiedener Ökosysteme infolge rücksichtsloser Verfolgung menschlicher Interessen sein würde. Das Museum hat jedoch in dieser Hinsicht seine erschreckende Ohnmacht gezeigt und die in den Pressemitteilungen mit großer Sorgfalt beschriebene Mission nicht erfüllt. Schlimmer noch, ich betrachte es nicht nur als ein Versagen einer bestimmten Institution oder eines ausgewählten Kurator:innenteams. „Das Zeitalter des Halbschattens“ steht beispielhaft für ein umfassenderes Problem: Wir wissen, dass wir den Planeten ausgebeutet haben, aber wir können es nicht zugeben. Wir können zwar andächtig Bambus-Zahnbürsten und organische Seifenspäne zum Waschen wiederverwendbaren Windeln propagieren – tatsächlich engagieren wir uns für das Leben nicht-menschlicher Subjekte nur sehr oberflächlich und sind nicht in der Lage, zwischen den Gewohnheiten beider Seiten zu vermitteln‘ [15]. „Homo Anobium św. Franciszek 100% rzeźby” (Homo Anobium St. Franziskus 100% Skulptur, Czekalska+Golec, 1680–1985) und „Plaża w stadium terminalnym” (Der Strand im Endstadium, Isabelle Andriessen, 2018) sind die zwei (einzigen?) beeindruckenden Exponate der Ausstellung, die zu bestätigen scheinen, dass wir es nur noch verdienen, die von uns selbst verursachte globale Atrophie zu beobachten.

Anmerkungen:

[1] P. Crutzen, E. Stoermer: The ‚Anthropocene’, in: Global Change Newsletter, Nr. 41, 2000, S. 17‒18.

[2] P. Valéry: Problem muzeów [Das Problem der Museen], ins Polnische übertragen von B. Mytych-Forajter, W. Forajter, in: Muzeum sztuki. Antologia [Das Kunstmuseum. Eine Anthologie], hg. v. M. Popczyk, Kraków 2005, S. 87 [Erste deutsche Übersetzung s. Carlo Schmidt: Das Problem der Museen, in: Die Zeit, Nr. 51/1958].

[3] Vgl. beispielsweise das auf diesem Feld bereits zur Klassik zählende Werk: J. Clair, Kryzys muzeów. Globalizacja kultury [Originaltitel: Malaise dans les musées], ins Polnische übertagen von J.M. Kłoczowski, Gdańsk 2009.

[4] Gleichzeitig ist es wichtig, die Positionen von Forscherinnen wie Chantal Mouffe und Rosalyn Deutsche zu berücksichtigen, die argumentierten, dass der Aufbau eines Konfliktfeldes positivere Auswirkungen haben kann, als einen (erzwungenen und unaufrichtigen) Kompromiss künstlich zu forcieren. Als Beispiel für dieses nicht friedensstiftende Vorgehen kann sicherlich das provozierende Jonglieren mit der nationalen Ikonografie eines Piotr Uklański gesehen werden. In der Ausstellung „Krzycąc: Polska“ [Sie (gingen und) Schrien: Polen] (Nationalmuseum in Warschau, Kurator: Piotr Rypson, 26. Oktober bis 17. März 2019) präsentierte Uklański in der Haupthalle des hauptstädtischen Museums großformatige Fotografien, die Nationalisten mit roten Fackeln bewaffnet, während eines der Unabhängigkeitsmärsche zeigen. Diese mehrdeutige Arbeit verdeutlichte, wie sich ein mit Unabhängigkeitsgefühlen gesättigter Patriotismus radikalisieren und eine beunruhigende Aggressivität manifestieren kann. Meiner Meinung nach führen radikale Interventionen jedoch, obwohl ihr Potenzial sehr wertvoll sein kann, eher zur kurzfristigen Störung einer bestimmten Ordnung, als dass sie eine Grundlage für den Aufbau einer langjährigen Ausstellungsstrategie sein könnten. Vgl. z. B. E. Laclau, C. Mouffe: Hegemonia i socjalistyczna strategia. Przyczynek do projektu radykalnej polityki demokratycznej” [Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus], ins Polnische übertagen von S. Królak, Wrocław 2007; F. Biały, „Konflikt jako wartość? Demokracja agonistyczna a populizm europejski w ujęciu Chantal Mouffe” [Konflikt als Wert? Agonistische Demokratie und europäischer Populismus aus der Sicht von Chantal Mouffe], in: Refleksje, Nr. 1, 2010, S. 219‒233; R. Deutsche: Agorafobia [Agoraphobie], ins Polnische übertragen von P. Leszkowicz, in: Perspektywy współczesnej historii sztuki. Antologia przekładów «Artium Quaestiones» [Die Perspektiven moderner Kunstgeschichte. Eine Anthologie von Beispielen «Artium Quaestiones»], hg. v. M. Bryl, P. Juszkiewicz, P. Piotrowski, W. Suchocki, Poznań 2009, S. 585‒644.

[5] An dieser Stelle beziehe ich mich auf das von Boris Groys umrissene Konzept, s. ders.: Comrades of Time, in: e-flux, Nr. 11, 2009.

[6] Über die Aktualität von Marx‘ Thesen s. z. B. E. Hobsbawm: Jak zmienić świat. Marks i marksizm 1840‒2011 [Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus], ins Polnische übertragen von S. Szymański, Warszawa 2013.

[7] Die Anfänge der Reflexionen über die subversive Kraft von Museumsausstellungen finden sich u. a. in den kritischen Analysen von Ausstellungen „humanistischer Fotografie“. In diesem Zusammenhang stellt die von Edward Streichen im Rahmen der Ausstellung „The Family of Man“ entworfene vernichtende Dekonstruktion einer utopischen Vision ein interessantes Beispiel dar. Die 1955 erstmals im Museum of Modern Art in New York präsentierte emotional aufgeladene Pressefotografie, propagierte damals die Idee der Einheit der menschlichen Gemeinschaft. Bei der Popularisierung eines mythischen Ideals der Menschheitsfamilie bediente man sich, wie es Barthes feststellte, einer sterilen, für die Ausstellung präparierten Poetik, die der Last der Geschichte entrissen wurde. Das positive Programm dieser Ausstellung schloss von vornherein die Möglichkeit aus, Antagonismen oder Unterschiede zwischen menschlichen Gemeinschaften zu zeigen. Um den einheitlichen und monolithischen Charakter der Menschheitsfamilie zu unterstreichen, wurde den Fotografien ein Model zu Grunde gelegt, das sich perspektivisch-ästhetisch am „weißen Mann“ orientierte; bei der Darstellung anderer Kulturen wirkte dies inkongruent und künstlich. Über die Probleme mit der Ausstellung „The Family of Man“ und seiner Rezeption in Polen, s. z. B. K. Leśniak: The Family of Man w polskiej krytyce artystycznej: socrealistyczny ideał czy ikona nowoczesności? [The Family of Man in der polnischen Kunstkritik. Eine sozrealistische oder modernistische Ikone?), in: Socrealizmy i modernizacje [Sozialistischer Realismus und die Modernisierungen], hg. v. A. Sumorok, T. Załuski, Łódź 2017, S. 353‒381.

[8] Ich bin Chris sehr dankbar, dass er auf meine Bitte eingegangen ist, seine kuratorischen Erfahrungen mit der polnischen Leserschaft in der von mir mitverfassten Zeitschrift Dagerotyp zu teilen; für eine ausführliche Beschreibung, wie der Prozess des Erwerbs und der Einbindung von Thompsons Werk in den musealen Raum des Pitt Rivers Museums verlief, s. C. Morton: From Significant Surface to Historical Presence: Photography as a site of Social Engagement in the Museum / Od znaczącej powierzchni do obecności historycznej: fotografia jako miejsce zaangażowania społecznego w przestrzeni muzeum, in: Dagerotyp. Studia z historii i teorii fotografii, Nr. 2, 2019, S. 67‒93.

[9] Das Video zeigt, wie die männlichen Fischer ihre Beute streicheln, umarmen und küssen. Die freundlichen Gesten verlängern die Qualen der sich in Krämpfen windenden Fische.

[10] Trotz des vorangestellten kritischen Absatzes heben schlussendlich die Kurator:innen die positiven Aspekte seiner Arbeit hervor: „Longs Werk kann jedoch auch als ein Zeichen der Verbindung zwischen Mensch und Umwelt und der Konsequenzen menschlicher Aktivitäten für den ganzen Planeten verstanden werden.“

[11] Ich denke an dieser Stelle an die im MSN gezeigten Werke von Künstler:innen wie: Stefan Krygier, Teresa Murak, Maria Pinińska-Bereś, Joanna Rajkowska, Jerzy Rosołowicz, Magdalena Więcek. Zudem haben wir im Fall von Krygier in der Ausstellungszeitung im ersten Absatz eine deutliche Überhöhung, wenn es dort heißt, dass Władysław Strzemiński „sein Mentor, Meister und Freund“ war; über Maria Pinińska-Bereś erfahren wir hingegen, dass sie eine „Pionierin der Frauenkunst des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Die in zeitgenössischen Debatten zur Methodologie kritisierte Position, dass die Kunstgeschichte aus „großen Maler:innen“ bestünde, wirkt besonders verstörend und anachronistisch, wenn bei der gewählten Erzählperspektive die Epoche des Anthropozäns kritisiert werden soll, (die von einer aufstrebenden Gattung dominiert wurde, die sich andauernd das Recht anmaßt, ihre privilegierte Stellung zu behaupten). Obwohl wir so sehr daran interessiert sind, die bewusste Diagnose und den Verlust der Figur des Kolonisators zu manifestieren, fördern wir ständig de facto eine stark egozentrische Kunst, in der die mythologisierte Figur eines Künstlers vorherrscht, der sich alles, was natürlich ist, aneignet. Erst der Künstler legitimiert den Status eines bestimmten Gebietes als „den künstlerischen Raum“. S. z. B. Richard Long: Throwing a Stone Macgillycuddy´s Reeks, 1977.

[12] Das Projekt von Elżbieta Jabłońska sieht die kostenlose Verpachtung von Grünflächen und Grundstücken neben öffentlichen Galerien und Museen vor. Zu den entscheidenden positiven Aspekten dieser Vorgehensweise gehört nicht nur die Einbeziehung der Öffentlichkeit in den Prozess der Intervention im städtischen Raum, sondern auch die Beseitigung der Barriere zwischen der offiziellen Kulturinstitution und den “gewöhnlichen” Kulturkonsument:innen.

[13] R. Barthes, Foto-szoki [Schockfotos], in: ders.: Mitologie [Mythen des Alltags], ins Polnische übertragen von A. Dziadek, Warszawa 2000, S. 139–141.

[14] Siehe S. Sontag: Widok cudzego cierpienia [Das Leiden anderer betrachten], ins Polnische übertragen von S. Magala, Kraków 2016, S. 9–50.

[15] B. Latour: Polityka natury. Nauki wkraczają do demokracji [Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie], ins Polnische übertragen von A. Czarnacka, Warszawa 2009, S. 135 [in der deutschen Ausgabe aus dem Jahr 2001, S. 122].

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki

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Klimaneutralität Polens – klares Ziel, steiniger Weg

Kacper Szulecki · 24 November 2020

Für Polen hat der gerechte Übergang [im Energiesektor, Anm. d. Übers.] höchste Priorität, denn über uns schwebt nicht nur die Gefahr von Bergarbeiterstreiks, sondern vor allem das Gespenst der Waldenburger „Armenschächte“. [1]

 

In Polen sind Postulate nach Dekarbonisierung und Klimaneutralität nichts Neues. Aber nie zuvor wurde die Debatte darüber dermaßen intensiv geführt und die Verabschiedung eines verbindlichen Kohleausstiegs so realistisch. Gleichzeitig bleiben viele Fragen offen und es gibt keine klaren Aussagen seitens der Regierung, wann und ob die polnische Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt jemals klimaneutral sein werden.

Aus der Sicht eines Liberalismus, der anders verstanden wird als ein Dogmatismus des freien Marktes und des daraus resultierenden „Schafftmannichtismus“ [niedasieizm], handelt es sich einerseits um eine (wenn es um die Ziele geht) sehr einfache Herausforderung, die andererseits (wenn es um alles andere geht) besonders vielschichtig ist.

Das Klima stellt die Politik auf den Kopf

Der fortschreitende Klimawandel, der kaum mehr übersehen werden kann, macht die Frage des Klimaschutzes immer dringlicher. Sie erfordert seitens der Regierung, der kommunalen Selbstverwaltung und praktisch von uns allen klare Erklärungen und sichtbare Maßnahmen. Die Verschiebung der Naturschutzprobleme ins Zentrum der Politik wird weitreichende Auswirkungen darauf haben, wie wir Politik im 21. Jahrhundert im Allgemeinen verstehen.

Einem Element der Klimapolitik müssen wir besondere Beachtung schenken. Wissenschaftler:innen vieler Disziplinen sind sich darin einig, dass die Beseitigung von Treibhausgasemissionen sowie die Rückführung des Kohlendioxids aus der Atmosphäre eine Notwendigkeit darstellt. Nur so können wir eine Katastrophe vermeiden und die Hoffnung auf eine für den größten Teil der Menschheit erträgliche Welt aufrechterhalten.

Wir stehen damit vor einer für die Politik völlig ungewöhnlichen Situation. Üblicherweise bedeutet in einem demokratischen Land Politik zu machen, gegensätzliche Interessen miteinander zu konfrontieren, bis daraus ein Kompromiss entsteht. Das bedeutet, dass das Ergebnis zunächst eine völlig offene Angelegenheit ist. Die Klimapolitik stellt diesen Prozess jedoch auf den Kopf. Diesmal ist das Ziel der Klimaneutralität bekannt, gut definiert und kein Bestand der politischen Auseinandersetzung. Weil es nur ein Ergebnis gibt, liegt es außerhalb des Verhandelbaren. Die Politik hat daher die Aufgabe, den Weg zu diesem Ziel auszuarbeiten.

Aus diesem Grund ist die Herausforderung außerordentlich einfach, weil das Ziel von vornherein vorgegeben ist und gleichzeitig überaus kompliziert. Anstatt Ziele zu setzen, die es zu erreichen gilt, muss die Politik sehr schwierige und komplexe Entscheidungen verantworten. Mit dieser Form des Regierens kommen die bestehenden politischen Institutionen nicht gut zurecht. In einem pessimistischen Szenario kann es passieren, dass diese unvermeidlichen politischen Veränderungen im 21. Jahrhundert nicht zur Vermeidung der Klimakatastrophe führen, aber unterdessen die Grundlagen der nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebauten politischen Ordnung untergraben. Nachdem die politische Praxis auf den Kopf gestellt wurde, werden viele politische Kräfte, sie wieder umzudrehen versuchen und politische Prozesse wie bisher behandeln, also das eigentliche Ziel der Klimaneutralität in Frage stellen, auch wenn dies absolut irrational und auf lange Sicht unmöglich ist.

Abb. Max Skorwider

Auf welchem Weg zur Neutralität – die Frage nach den Instrumenten

Da das Ziel der Dekarbonisierung dem Anschein nach rein technischer Natur ist, stellen sich als erstes die folgenden Fragen: wie, wann und für wie viel? Die Diskussion über den Pfad, der zur Dekarbonisierung führen soll, entfaltet sich in Polen sehr langsam. Am sichtbarsten ist dabei sowohl das Fehlen einer kohärenten und weitreichenden Vision als auch die geringe Beteiligung breiter gesellschaftlicher Kreise an ihrer Entwicklung. Ein Beispiel für die Verworrenheit unserer öffentlichen Debatte ist die Kontroverse darüber, was die Kohle im Energiemix ersetzen soll. Seit einigen Jahren ist in dieser Auseinandersetzung eine scharfe Trennlinie sichtbar. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die erneuerbare Energiequellen (EE) als Hauptinstrument zur Dekarbonisierung sehen. Ihnen gegenüber befinden sich die Befürworter der Kernenergie.

In Wahrheit ist dies eine falsche Opposition, die in der Oberflächlichkeit der Debatte selbst begründet liegt. Tatsächlich lautet die Frage, „ob EE allein ausreichen, um die gesamte polnische Wirtschaft zu dekarbonisieren, oder ob wir hierfür zusätzliche Energiequellen benötigen?“ Wir werden auf die endgültige Antwort noch lange warten müssen, denn der Energiesektor ist eine Domäne der Praxis und nicht der wissenschaftlichen Theorie. Wir sind nicht in der Lage, die Auswirkungen technologischer Entscheidungen, politischer Veränderungen und wirtschaftlicher Trends auch nur für fünf Jahre im Voraus vorherzusagen, denn die Energietransformation ist ein Feld täglicher Experimente.

Bezeichnend für diese Kontroverse ist, dass sich die Diskussionsteilnehmer:innen selten auf aktuelle Daten beziehen, sogar wenn es um verlässliche Modelle für die kurzfristige Entwicklung des Energiesektors geht. Zudem wird der sozioökonomische und politische Kontext, in dem die Energiewirtschaft operiert, ignoriert. Die Befürworter der Kernenergie meiden wie der Teufel das Weihwasser, eine Berechnung der Kraftwerkskosten und möglicher Energiepreise auf Basis verschiedener Finanzierungsszenarien vorzulegen. Eifrige Aktivisten und aufeinanderfolgende Regierungen, die das Projekt polnischer Kernkraft befürworten, haben bisher immer noch keine Antwort gegeben, warum Polen überhaupt und in welchem Umfang Atomenergie braucht. Darauf wiesen vor kurzem Teilnehmer:innen einer Debatte hin, die nach der Begründung für die Entwicklung der Kernkraft in Polen fragten.

Auf der anderen Seite überschreiten Expert:innen und Institutionen, die den Ausbau von EE unterstützen und annehmen, dass diese für eine vollständige Dekarbonisierung ausreichen, ebenfalls selten den Horizont sehr kurzfristiger Visionen. Wir wissen beispielsweise immer noch nicht, wie sehr das polnische elektroenergetische Netz unterfinanziert ist und welche Investitionen erforderlich sind, damit EE ihr Potenzial entfalten können und das Problem einer instabilen Energieversorgung vermieden wird.

Es fehlt an Wissen, da es sowohl an Expert:innen als auch an Stiftungen und Möglichkeiten mangelt, diese Art von Forschung durchzuführen. Daran erinnerte vor Kurzem ein von der Stiftung Instrat initiierter Appell für offenen Zugang zu Daten aus dem Energiesektor. Energiepolitische Strategien der Regierung befinden sich ewig im Planungsstadium, und wenn sie von Zeit zu Zeit doch auftauchen, weiß man nicht, wie sie eigentlich zustande gekommen sind.

Wenn man all das berücksichtigt, ist es nicht verwunderlich, dass die Energiewende in Polen schlafwandlerisch und langsam verläuft. Viele Regierungsvertreter geben darüber hinaus vor, so wie scheinbar viele unabhängige Expert:innen, das Problem nicht zu sehen, dass die Wahl des Pfades zur Dekarbonisierung keine rein technologische Entscheidung ist, sondern beispielsweise auch über die zukünftige Entwicklung bestimmter Regionen, die Stärkung einiger Interessengruppen auf Kosten anderer und schließlich über die Bildung einer bestimmten Machtkonstellation im Energiesektor entscheidet.

Eine gerechte Transformation oder nie wieder Waldenburg 

Abgesehen von den technischen Entscheidungen, d. h. Fragen „mit welchen Technologien werden wir das Ziel am schnellsten und effektivsten erreichen können?“, betreffen die schwierigsten Entscheidungen die politische Ökonomie, d. h. die Frage, wie wir die Kosten und Gewinne der unvermeidlichen Transformation verteilen werden.

Die von der Europäischen Kommission im vergangenen Dezember präsentierten Umrisse eines Europäischen Grünen Deals und die frühere Erklärung des Klimagipfels in Kattowitz legen einen klaren Schwerpunkt auf eine „gerechte Umwandlung“, d. h. de facto auf die politische Ökonomie der Dekarbonisierung. Das wirft Fragen nach den Kosten und Veränderungen auf, von denen einige Regionen, Sektoren und soziale Gruppen mehr als andere betroffen sein werden. Für Polen ist dies eine Angelegenheit höchster Priorität, denn über uns schwebt nicht nur die Gefahr von Bergarbeiterstreiks, sondern vor allem das Gespenst der Waldenburger „Armenschächte“. Wir sollten diese Folgen der „wilden“ Dekarbonisierung des niederschlesischen Kohlebeckens in den 1990er-Jahren als eine schmerzhafte Lektion begreifen.

Bisher fungiert der Slogan der gerechten Umwandlung vor allem als Rechtfertigung für die schleppende polnische Dekarbonisierung, oder als Versprechen, weitere Milliarden aus dem EU-Haushalt entnehmen zu können. Er kann aber auch einen anderen positiven Einfluss auf die Diskussion über die Klimaneutralität haben. Die gerechte Umwandlung macht es möglich, über „technische“ Frage anders nachzudenken und erinnert die Entscheidungsträger:innen daran, dass eine Dekarbonisierung nicht durchgeführt werden kann, wenn man die sozialen Kosten und die Interessen wichtiger Gruppen ignoriert.

Deshalb ist die Politisierung der Diskussion darüber, wie Polens Klimaneutralität erreicht werden kann, so wichtig. Wir sollten den Fehler der (postsozialistischen) Transformationseliten nicht wiederholen und diesen gigantischen Wandel zu einer Aufgabe für Technokraten machen. Erstens würde er so nicht funktionieren, und zweitens würde er unterwegs riesige soziale Konflikte entfachen. Jeder Konflikt böte einen Angriffspunkt für politische Kräfte, der den Sinn der Dekarbonisierung als solche in Frage stellen würde.

Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass selbst wenn Klimaneutralität das einzige rationale Ziel ist, diese Wahrheit ausreicht, um Veränderungen politisch zu rechtfertigen. In einem Interview von Tomasz Sawczuk auf den Seiten der Kultura Liberalna warnte der Philosoph Stanley Fish kürzlich davor, davon auszugehen, dass die Wahrheit als Argument ausreicht, während nämlich Liberale nach Wahrheit streben, will die populistische Rechte einfach nur die Macht erobern. Sie kann es, in Bruno Latours Worten, so machen wie Donald Trump, der vorgibt, auf einem anderen Planeten als der Rest der Menschheit zu leben und deshalb anderen Regeln zu folgen. Wenn die populistische Rechte aber auf die Erde zurückkehrt, wird sich vielleicht zeigen, dass es nichts mehr gibt, zu dem sie zurückkehren kann.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[1] Im Original: wałbrzyskie „biedaszyby“. Nach der Schließung der Bergwerke in den 1990er-Jahren entstanden im niederschlesischen Wałbrzych (Waldenburg) zahlreiche „Armenschächte“, die meistens von entlassenen Bergleuten betrieben wurden, Anm. d. Übers.

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki

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Die Energiewende ist ein irrationales Projekt

Mit Daniel Wetzel sprach Jakub Bodziony · 24 November 2020

Bei der Energiewende wird die Überzeugung vertreten, dass wir in Deutschland 100 Prozent aus Wind und Sonne liefern können. Viele Menschen glauben daran, aber es ist ein irrationales Projekt, sagt Daniel Wetzel.

 

Jakub Bodziony: Was ist die Energiewende?

Daniel Wetzel: Es handelt sich dabei um einen deutschen Versuch, bis 2050 alle fossilen Brennstoffe durch erneuerbare Energieträger zu ersetzen und die Kernkraftwerke abzuschalten.

Warum will die Regierung Kernkraftwerke schließen?

Es ist sehr schwierig, auf diese Frage eine Antwort zu geben, weil hierbei viele Spekulation entstanden sind, deren Wurzeln in einer spezifischen psychischen Disposition der deutschen Gesellschaft vermutet werden? Ich würde bei Entscheidungen, die auf Emotionen beruhen, keinen rationalen Kern suchen. Einige meinen, dass die deutsche Nation in der Natur geboren wurde, was mit dem Sieg der Germanen über die Römer im Teutoburger Wald symbolisiert wird. Andere behaupten, dass in Deutschland eine Tendenz zur Romantik besteht, die sich in einer Abneigung gegen die Großindustrie und einer Rückkehr zur Solar- und Windenergie manifestiert.

Aber die erneuerbaren Energiequellen sind doch auch Teil einer gigantischen Industrie. Außerdem muss Deutschland, wenn es auf Atom verzichten will, es durch einen anderen Brennstoff ersetzen, d. h. durch Gas, dessen Verbrennung zur Umweltzerstörung beiträgt. 

Tatsächlich stellt dieses Projekt heute keine überzeugende Lösung dar. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass der Gas- und Kraftstoffsektor in Deutschland nicht sehr weit entwickelt ist. Es gibt keine deutsche Exxon oder BP. Darüber hinaus sind Umwelt-NGOs gegen die Verwendung von Gas, gerade weil es ein fossiler Brennstoff ist. Gemeinsam mit den Grünen sind sie es, die nach Kohle und Atom mit dem Gas fertig werden wollen und sich am aktivsten gegen den Bau von Nord Stream 2 aussprechen. Der Ansatz der Befürworter der Energiewende basiert auf der Überzeugung, dass wir in Deutschland 100 Prozent der Energie aus Wind und Sonne landesweit liefern können. Viele Menschen glauben das.

Sie nicht?

Es ist eine irrationale Sichtweise, aber kaum jemand schaut auf die Zahlen. Andernfalls würde man feststellen, dass ohne die Unterstützung von Kohle, Gas oder Atom ein solches Projekt unrealistisch ist. Die meisten Politiker und NGOs ziehen es jedoch vor, die Realität zu verleugnen. Aus meiner Sicht ist das ein Irrglaube.

Gegenwärtig hat die Kernenergie den gleichen Anteil wie die erneuerbaren Energien, d. h. etwa 10 Prozent der weltweiten Energieproduktion. Das bedeutet, dass der Sektor der erneuerbaren Energien nach fast 30 Jahren massiver finanzieller Subventionen und enormer politischer Unterstützung immer noch nicht zur Atomkraft aufgeschlossen hat. In Deutschland wäre die Kernkraft wegen des fehlenden CO2-Ausstoßes ein gutes Instrument zur primären Energieerzeugung, aber die Debatte darüber wurde bereits abgeschlossen.

Das heißt?

Keine der einflussreichsten Parteien will die Atomenergie verteidigen, weil dieses Thema in der Gesellschaft keinen Zuspruch findet. Selbst große Energiekonzerne wie RWE und E.ON erklären, dass sie nicht mehr in den Atomsektor investieren wollen, weil sie die dabei entstehenden wachsenden Kosten und das Investitionsrisiko abschreckt. Sie werden dies möglicherweise in Schweden oder Russland tun, wo es eine stabile politische Unterstützung für die Entwicklung dieses Energiesektors gibt. In Deutschland hat das keinen Sinn mehr. Es entspricht dem politischen Konsens in Berlin. Die Industrie ist um ein gutes Image in der öffentlichen Wahrnehmung bemüht, weshalb sie auf erneuerbare Energien (EE) setzt. Sie wollen auf der guten Seite stehen.

Die bisherige Politik hat in den letzten Jahren zu steigenden Energiepreisen in Deutschland geführt. 

Deshalb fordern diese Unternehmen für Investitionen in Wind- und Solarkraftwerke staatliche Unterstützungen. Doch wenn die Zahlen weiterhin nicht stimmen, werden die Energieimporte nach Deutschland zunehmen. Wir befinden uns in einer bequemen Situation, weil wir uns es leisten können. Unsere Politiker machen das, was die Gesellschaft will, auch wenn es nicht ganz rational ist.

Gleichzeitig muss hervorgehoben werden, dass die Effektivität der EE von Jahr zu Jahr zunimmt, weil die Produktionskosten der Investitionen sinken. Kernkraft ist immer noch sehr teuer. Ein gutes Beispiel dafür ist das Kernkraftwerk Hinkley Point in Großbritannien, welches bei der Stromerzeugung doppelt so teuer ist wie Wind- und Sonnenenergie. Das Problem der Instabilität und die damit verbundene kostspielige Energiespeichertechnologie wirkt sich jedoch nachteilig auf die EE aus.

Abb. Jem Sanches, Quelle: Pexels

Wann sollte sich die Energiewende auszahlen?

Nach etwa 30 Jahren riesiger Investitionen. Dann soll unser Energiesystem effizient und kostengünstig sein. Auch wenn sich das bewahrheiten sollte, ist es eher unwahrscheinlich, dass der deutsche Fall für andere Länder wegweisend sein wird. Wir können es uns leisten, weil wir ein sehr reiches Land sind.

Allerdings übt Deutschland Druck auf Länder wie Belgien und die Niederlande aus, dass auch sie ihre Atomkraftwerke abschalten. 

Das stimmt und es fällt mir schwer, es zu erklären. Die Befürworter dieser Forderungen argumentieren, dass diese Kraftwerke nahe der deutschen Grenze liegen, was im Falle eines Zwischenfalls auch der deutschen Bevölkerung schaden könnte. Das fordern die Anwohner der Grenzregionen und werden vom Umweltministerium unterstützt.

Einige Expert:innen meinen, dass mit der Abschaltung von Atomkraftwerken die russischen Gasimporte nach Deutschland steigen werden. Das steht auch in einem Zusammenhang mit dem Pipeline-Projekt Nord Stream 2, das von Berlin forciert wird. 

Sie mögen recht haben, aber die Entwicklung der Energiewende bedeutet nicht unbedingt eine zunehmende Abhängigkeit vom Gas. Ob sie erfolgreich sein wird, wissen wir erst in etwa 10 Jahren. Das beinhaltet zudem eine deutliche Anhebung der Dämmstandards von Gebäuden, wodurch weniger Energie zum Heizen benötigt wird. Es wurde eine Reihe von Programmen entwickelt, um den Austausch von Dämmstoffen in Haushalten zu subventionieren. Auf diese Weise will die Regierung den Gasverbrauch insgesamt reduzieren.

Wenn wir annehmen, dass die deutsche Regierung recht hat. Wozu dient dann Nord Stream 2?

Es handelt sich hierbei um ein Projekt, für das private Unternehmen und nicht die Regierungen aus Deutschland und Russland verantwortlich sind. Manche sind davon überzeugt, dass es immer besser ist, über eine ausgebaute Energieinfrastruktur zu verfügen. Da ist etwas Wahres dran.

Glauben Sie wirklich, dass es ein privates Projekt ist? Angela Merkel und Wladimir Putin haben sich viele Male wohlwollend über diese Investition geäußert und behauptet, dass der zweite Strang der Gaspipeline mit Sicherheit fertiggestellt wird. Darüber hinaus leitet der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den Vorstand in der Nord Stream 2 AG, die für das Projekt zuständig ist. 

Mir ist die politische Konnotation des Projekts bewusst, auch im Hinblick auf die Sicherheit der Ukraine, gegen die der Ausbau der Gaspipeline gerichtet ist. Wenn wir jedoch Kiew unterstützen wollen, das derzeit mit dem Gastransit Geld verdient, können wir diese Mittel jederzeit ebenfalls auf andere Weise zukommen lassen. Man muss dies nicht mit der Frage der Gaspipelines in Verbindung setzen. Weil ich ein Wirtschaftsjournalist bin und nicht aus dem Politikressorts komme, ist es für mich schwierig, an dieser Stelle ein endgültiges Urteil zu fällen.

Aber die wirtschaftliche Begründung für dieses Projekt macht ebenfalls keinen Sinn. Die bestehende Infrastruktur ist immer noch nicht voll ausgelastet und der Ausbau von Nord Stream wird die Gaslieferungen nicht diversifizieren, sondern die Europäische Union noch stärker vom russischen Gas abhängig machen. 

Man kann sich das nicht in Form einer Planwirtschaft vorstellen. Wenn Unternehmen in Frankreich, Österreich und Deutschland dies für eine gute Investitionsmöglichkeit halten, liegt die Entscheidung bei ihnen. Unternehmen gehen Risiken ein und verdienen entweder Geld oder müssen Verluste hinnehmen.

Wir wissen, dass die Rohstoffreserven in Westeuropa zur Neige gehen und die Nachfrage nach Gas steigen könnte. Daher gibt es eine Lücke, die dieses Projekt füllt. Es besteht jedoch keine Abhängigkeitssituation, da es immer möglich ist, flüssigen Gas auf dem Seeweg zu importieren, was durch den Ausbau von LNG-Terminals ermöglicht wird. Wenn der russische Rohstoff zu teuer wird, werden wir ihn von anderen Produzenten kaufen können. Dieser Mechanismus wird die Gaspreise auf einem vernünftigen Niveau halten, und verdeutlicht, dass es auf diesem Markt keine Monopolisten mehr gibt.

Kommen wir zurück zur Energiewende. Was sind die größten Risiken für dieses Projekt?

Dass es auf irrationalen Hoffnungen und nicht auf Fakten beruht. Ein großes Problem ist die gesellschaftliche Akzeptanz der Windenergie, auf der das gesamte Projekt fußt. Gegenwärtig ist der Bau neuer Windkraftanlagen gestoppt, weil viele Menschen nicht wollen, dass sie in ihrer Nachbarschaft aufgestellt werden. Sogar Umweltschützer sind gegen mehr Windräder und viele Fälle landen vor Gericht. Und wir müssten die Zahl der Anlagen pro Jahr verfünffachen, um unsere Ziele zu erreichen.

Wie reagiert die Regierung?

Die Behörden versuchen, Wege zu finden, um die Menschen dazu zu bewegen, Windparks zu akzeptieren. Zusätzliche Gelder werden an die Ortschaften überwiesen, die sich in der Nähe der zukünftigen Anlagen befinden werden. Die Gesetze zum Schutz von Vögeln und Wäldern werden ebenfalls abgeschwächt, sodass sie überall platziert werden können, sogar in bedrohten natürlichen Tierlebensräumen und anderen Schutzgebieten. Ich denke, dass dies nicht ausreicht, um die Ziele zu erreichen.

Welche Änderungen müssen in Deutschland vorgenommen werden, sodass dieses Projekt umgesetzt werden kann?

Zunächst wäre da die Kernenergie, obwohl hier die gesellschaftliche Gegenwehr unüberwindbar zu sein scheint. Es bestehen auch andere Möglichkeiten wie z. B. die CO2-Sequestrierung, dabei wird das Kohlendioxid aus der Atmosphäre ferngehalten und in punktuellen Verschmutzungsquellen gelagert. Auch hier gibt es in der Öffentlichkeit starken Widerstand, obwohl Wissenschaftler des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen die Entwicklung dieser Technologie für notwendig erachten, um die Ziele der Dekarbonisierung zu erreichen. Wir sollten die Streitfragen so schnell wie möglich lösen, um Industriezonen zu schaffen, in denen CO2-Abscheidung und die anschließende Lagerung unter der Erde möglich wird.

Ich denke, dass das Emissionshandelssystem (eng. emission trading system, ETS), d. h. der Handel mit Emissionszertifikaten auf europäischer Ebene das effektivste Instrumentarium ist, das wir entwickeln konnten. Die Schließung der deutschen Kohlekraftwerke sind vor allem auf Marktentscheidungen und nicht auf politische Interventionen zurückzuführen. Deshalb sollten wir uns nicht zu sehr einmischen und dabei nur eine Technologie fördern. Ich glaube an den Markt, der die meisten aktuellen Probleme lösen wird.

Das Europäische Parlament stimmte kürzlich für eine Verschärfung der EU-Klimaziele. Die Abgeordneten fordern eine Reduzierung der CO2-Emissionen in der EU bis 2030, gemessen an den Zahlen von 1990, nicht mehr um 40 sondern um bis zu 60 Prozent. Ist das eine gute Entscheidung?

Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist. Es ist wichtig, dabei nicht zu vergessen, dass dies nur ein Ziel ist. Politiker sind gut darin, Ziele zu setzen, erreicht werden sie selten. Auf lange Sicht frustriert es die Menschen. Wir wissen nicht einmal, ob wir die bisherigen Ziele erreichen, und wir sprechen bereits von einem noch höher gesteckten Vorhaben. Man sollte sich nicht auf Ambitionen, sondern auf Lösungen konzentrieren.

Der Text wurde mitfinanziert durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit im Rahmen der Projektlinie „Deutsch-Polnische Bürgerenergie fürs Klima“, die durch das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland finanziert wird.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Aus dem Polnischen von Jakub K. Sawicki

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Wir agieren in einer staatsähnlichen Realität

Mit Hanna Radziejowska sprechen Jarosław Kuisz und Karolina Wigura · 13 August 2018

Manchmal habe ich den Eindruck, dass in Polen verschiedene Reenactment-Gruppen herrschen: als verfemte Soldaten, Ulanen [eine hist. Kavalleriegattung, Anmerkung d. Ü.] oder Dissidenten des März 1968 Verkleidete, die durch die Straßen ziehen und Streik oder Schießen auf die „Feinde des Vaterlands“ spielen. Wir reden uns ein, dass wir die konkreten Probleme von 2018 durch die Erzählungen unserer Großeltern aus Kriegszeiten oder unserer Eltern aus dem Kommunismus ergründen können.

 

Jarosław Kuisz, Karolina Wigura: Sie waren kaum ein halbes Jahr im Amt, als Sie von der Position der Direktorin des Polnischen Instituts in Berlin wieder abgesetzt wurden. Tat das weh?

Hanna Radziejowska: Natürlich, aber das spielt keine Rolle. Ich bin nicht die erste und werde nicht die letzte sein. Solche Dinge passieren, das sollte man nicht dramatisieren. Die Episode in Berlin ergänzte allerdings viele der Reflexionen aus meinen früheren Erfahrungen mit öffentlichen Einrichtungen in Polen. Kurz gesagt: Es geht darum, dass wir in einer Realität agieren, die kein Staat ist, sondern ihm lediglich ähnlich sieht. Die Welt der Ämter unterliegt zu oft einer Parteien-, geradezu einer Stammeslogik und inhaltliche Kriterien spielen nur eine Rolle unter vielen.

Genau das haben Sie auch in Berlin gesehen?

In Berlin und in Warschau, an verschiedenen Orten meines bisherigen Arbeitslebens. Meine Abberufung aus Berlin war nicht deshalb schmerzhaft, weil ich entlassen wurde, sondern aufgrund ihrer Form. Außerdem deshalb, weil jegliche offizielle Erklärung für diese Entscheidung ausblieb. Versuchen Sie bitte, darauf aus der Perspektive von jemandem zu schauen, der sich bemüht, państwowiec [wortwörtlich Staatsmann; Anhänger von Reformen des öffentlichen Sektors zur Errichtung einer nachhaltig funktionierenden Bürokratie, Anmerkung d. Ü.] zu bleiben und Institutionen zu gestalten, indem er sich auf inhaltliche Spielregeln stützt. Eine solche Situation kann wirklich eine schwierige Erfahrung sein.

Woran denken Sie genau?

Ich habe mich einen Monat lang bemüht, herauszufinden, welche Gründe hinter der Entscheidung meiner Abberufung stehen und erhielt schließlich den Teil einer Korrespondenz zwischen hohen Beamten des Außenministeriums. Daraus ging hervor, dass „mein Wirken noch größeren Schaden für die polnischen Interessen anrichten könnte“, da ich mich mit einem deutschen Journalisten getroffen hatte, „der bekannt für seine negative Einstellung zu den aktuellen Veränderungen in Polen und ein Teil der deutschen medialen Hetzjagd ist“. Es tauchte auch der Vorwurf auf, der Ehemann einer Person, die ich mit einem Dienstvertrag angestellt hatte, sei auf Instagram aktiv und veröffentliche dort Bilder von KOD-Demonstrationen vor der polnischen Botschaft in Berlin.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Mit Verwunderung. Ich dachte, meine Aufgabe wäre es offen zu sein und einen Dialog zu führen. Mit dem erwähnten deutschen Journalisten traf ich mich, um über das Institutsprogramm zu sprechen, das war noch vor meiner Abberufung. Während der Arbeit beurteile ich, ob jemand inhaltlich gut ist und professionell arbeitet, und nicht, welche politische Einstellungen oder Verbindungen die Person oder gar ihre Familie hat.

Haben Sie irgendwann eine Begründung für ihre Abberufung bekommen?

Ich habe nie eine offizielle formelle oder sachliche Begründung erhalten. Daraus kann man schließen, dass die Gründe auf Verleumdungen basieren und nicht auf einer inhaltlichen Analyse meiner Tätigkeit. Das einzige Dokument, das ich vor meiner Kündigung gesehen hatte, war eine positive Einschätzung des Botschafters.

Was war also passiert?

Ende 2017 wurde ich dringend nach Warschau zu einen „klärenden Gespräch über Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit“ gerufen. Während dieses Gesprächs erfuhr ich u. a., dass es skandalös sei, dass ich plane, den Film „Wołyń” von Wojciech Smarzowski zu zeigen. Jemand mit herausgehobener Position im Außenministerium sagte, der Film sei „außergewöhnlich antipolnisch“ und zeige den Deutschen Polen „als ein bäuerliches Land und das würde ihnen Genugtuung verschaffen“. Da begann ich zu verstehen, dass die Beurteilung konkreter Filme durch konkrete Personen im Ministerium tatsächlich nicht besonders rational erfolgt, auf Basis der Unterscheidung zwischen „außergewöhnlich antipolnisch“ und „in Übereinstimmung mit der polnischen Staatsräson“. Ich verstand – das muss ich ehrlich zugeben im Zusammenhang mit einem der Interviews, das ich in Berlin gegeben habe -, dass in der Kulturdiplomatie und in der öffentlichen Diplomatie so etwas wie Parallelwelten existieren.

Was bedeutet das?

Ich habe nie eine „schwarze Liste“ mit Künstlern erhalten und es wurde mir versichert, dass auch keine existiert. Unter den Direktoren der Polnischen Institute waren auch solche, denen es erlaubt war, den erwähnten Film „Wołyń” zu zeigen oder z. B. Olga Tokarczuk einzuladen. Im Laufe der Zeit merkte ich allerdings, dass in Gesprächen Verbote ausgedrückt werden, wie in dem von mir erwähnten Gespräch über den Film „Wołyń”. Oder ein bestimmter Direktor wurde blockiert, da er aus irgendeinem unklaren Grund keine Akzeptanz mehr durch die aktuelle Direktion des Außenministeriums erfuhr. Ich nenne das „reglementierten Pluralismus“.

Ende 2017 wurde ich dringend nach Warschau zu einem „klärenden Gespräch über Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit“ gerufen. Während dieses Gesprächs erfuhr ich u. a., dass es skandalös sei, dass ich plane, den Film „Wołyń” von Wojciech Smarzowski zu zeigen.

Hanna Radziejowska

Diese Situation erinnert in extremer Form daran, wie heute die öffentliche Debatte geführt wird, nämlich indem der Gegner beleidigt und beschimpft wird. Der eine ist Verräter und Hinterwäldler, ein anderer Patriot und Europäer. Man beurteilt nicht die Werke von jemanden; nicht das, was er zu sagen hat und schon gar nicht seine Kompetenzen, man fällt nur ein Urteil. Das recht freie Agieren einiger für die Vermarktung Polens im Ausland zuständigen Beamten (mit der vor kurzem abberufenen Małgorzata Wierzejska an der Spitze), das die Emotionen eines Teils der regierenden Eliten ausdrückte, hat dazu geführt, auf der ganzen Welt die öffentliche Meinung effektiv davon zu überzeugen, dass der Oscar-Preisträger Pawlikowski in seiner Arbeit blockiert wird. Und erst nach dem Erfolg seines neuen Films „Zimna Wojna“ in Cannes stellte sich heraus, dass zu dem Zeitpunkt, als der Film „Ida“ bekämpft wurde, das Ministerium für Kultur und nationales Erbe (eigentlich das Polnische Institut für Filmkunst) seinen neuen Film finanziell gefördert hatte.

Was erstens zeigt, dass sich das regierende Lager uneinig ist und zweitens – einen dramatischen Mangel an Kommunikation.

Das ist die „staatsähnliche“ Wirklichkeit. Ich sehe sie jetzt unter der PiS-Regierung, aber ich habe sie auch in verschiedenen Szenen in den „vergangenen acht Jahren“ auf der kommunalen Ebene und in öffentlichen Institutionen unter PO-Verwaltung gesehen. Wenn der Staat sehr schwach funktioniert, dann verschwinden objektive Mechanismen, die die Grundsätze der Zusammenarbeit regeln, es verschwinden inhaltliche Bewertungskriterien, und diese werden ersetzt durch ideologische Gegensätze: Es entstehen Intrigen und von Inhalten losgelöste Abhängigkeiten. Ich erinnere an die Handlung der Serie „Artysci“ (Künstler) aus der Zeit vor „dobra zmiana“ [der gute Wandel, Anmerkung d. Ü.], unter der Regie von Monika Strzępka und Paweł Demirski. Dort ist der Grund für den Kampf der in der Stadt Herrschenden mit dem Theaterdirektor nicht, dass man den ein oder anderen im Theater tätigen Künstler nicht mag, sondern er beruht darauf, dass es einen geheimen Plan gibt, das Theater zu schließen, um einem Bekannten des Oberbürgermeisters einen großen Bauauftrag zuzuschanzen.

Illustration by Joanna Witek

Einverstanden. Aber die Schwierigkeit besteht ja darin, dass heute, obwohl die Mechanismen vor 2015 genauso ausgesehen haben mögen, die Wirkung eine andere ist: Damals verbesserte sich das Image Polens schrittweise und konsequent. Heute hingegen können wir von einer Imagekatastrophe sprechen. Es gibt also einen fundamentalen Unterschied.

Ich erkläre das so. Ich gehörte einst zum Kreis des Museums des Warschauer Aufstands, dessen Handeln von Wohlwollen gegenüber dem Staat geprägt war und so ist es sicherlich heute noch. Als ich vor meiner Abreise nach Berlin von Bekannten hörte, dass es wenig sinnvoll sei die Reise anzutreten und dass mir nichts gelingen werde, glaubte ich das nicht. Ich nahm an, dass diejenigen, die so reden, das konservative Millieu nicht kennen. Ich erinnerte mich an die Präsidentschaft Lech Kaczynskis, der konservative Ansichten hatte aber gleichzeitig eine ungewöhnlich offene Person war und dem der Aufbau starker, über den Parteien stehender Institutionen ein Anliegen war. Zu den Seminaren über Polen in Lucień lud er Personen aus unterschiedlichen Millieus ein, mit unterschiedlichen Weltanschauungen. Allein in Warschau haben wir als Beispiele der Wirksamkeit seiner Arbeit das Centrum Nauki Kopernik (Kopernikus Wissenschaftszentrum), das Dom Spotkań z Historią (Haus für Begegnungen mit der Geschichte), Polin (Polin – Museum für die Geschichte der Polnischen Juden), eine starke Unterstützung für Theater (Teatr Rozmaitości – Theater der Vielfalt) und das Muzeum Powstania Warszawskiego (Museum des Warschauer Aufstands). Die zweite PiS, d. h. die Partei, die 2015 an die Macht zurückgekehrt ist, scheint mir eine völlig andere Welt zu sein.

Sie sprechen über die Verwaltung insgesamt und nicht über einzelne Vorkommnisse – gab es denn in Berlin andere Situationen, ähnlich der anlässlich Ihrer Abberufung?

Ende November 2017 bereiteten wir als Polnisches Institut gemeinsam mit der Stiftung Topographie des Terrors eine Diskussionsrunde über die Initiative deutscher Aktivisten, Politiker, Künstler und Wissenschaftler vor, die in Berlin ein Denkmal für die polnischen Opfer der deutschen Besatzung in Polen errichten wollen. Diese sehr interessante und schöne Initiative des pensionierten Beamten Florian Mausbach rief in Deutschland eine lebhafte Debatte hervor. Einerseits wurde das Ausmaß der deutschen Verbrechen in Polen thematisiert, andererseits gab es eine Diskussion um das geringe historische Wissen der Deutschen zu dem Thema, außerdem wurde die Frage erörtert, Polen als eigene Kategorie unter den Opfern des Krieges zu führen. Für viele war klar: Sollte es gelingen, dieses Denkmal zu errichten, dann könnte es eines der wichtigeren Orte für die deutsch-polnischen Beziehungen in Berlin werden. In der deutschen Hauptstadt gibt es ähnliche Orte, die gleichzeitig Erinnerungsort und Ort der Bildung und Kultur sind. Wäre eine solche Initiative nicht wichtig für die polnische Staatsräson? Mit dieser Überzeugung bat ich eine hochrangige Person aus dem Ministerium um ein Gespräch, um herauszufinden, was die Regierung darüber denkt. Die Antwort kam voller Verwunderung: „Hat nicht die Gazeta Wyborcza über dieses Denkmal berichtet? Wenn sie wohlwollend über diese Initiative schreiben, heißt das nicht, dass sie schlecht für die polnische Staatsräson ist?“ Diese Anekdote offenbarte mir einen sehr wichtigen Mechanismus, der entgegen dem Anschein auf beiden Seiten der politischen Auseinandersetzung vorzufinden ist. Wir glauben der „anderen Seite“ grundsätzlich nicht, und selbst die zuverlässigste Information wird als unwahr betrachtet, wenn sie in der falschen Zeitung steht. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass Denunziationen zu glaubwürdigeren Informationsquellen werden als offizielle Kanäle.

Heute arbeitet im Außenministerium allerdings eine völlig andere Mannschaft. Jemand anderes ist für die Polnischen Institute verantwortlich. Denken Sie, dass es dadurch tatsächlich zu Veränderungen kommt?

Nach meinem Dafürhalten hat sich schon etwas geändert. Wir werden sehen. Wir sollten hoffen, dass die neue Führung der Abteilung nicht nur über das Programm neu nachdenken wird, sondern auch über die organisationelle und finanzielle Situation der Polnischen Institute. Der Kreis an Leuten, der 2015 an die Macht kam, sprach viel über die Notwendigkeit, seit Jahren vernachlässigte Geschichten zu erzählen, zum Beispiel die Geschichten der Familie Ulma, von Jan Karski und von Irena Sendler. Sie wollten ein universelles und ungewöhnliches, aber noch weitgehend unbekanntes Erbe in die Öffentlichkeit bringen. Die Regierenden sagten sich also 2015: „Lasst uns damit anfangen.“ Diese noble Idee hat aber nicht zu sehr vielen praktischen Tätigkeiten geführt, hauptsächlich aufgrund von Geldmangel und schlechter Organisation.

Trat dieses Problem erst vor zwei Jahren oder schon früher auf?

Zu Zeiten der PO-Regierung wurden die meisten Polnischen Institute adminitrativ mit den Botschaften zusammengelegt. Dadurch verloren sie ihre eigene Infrastruktur und selbständiges Handeln wurde begrenzt. Die PiS führt diese Entwicklung fort. Das Gesamtbudget für Programm und Verwaltung des Instituts in Berlin, das ja noch eine Filiale in Leipzig hat, sowie des Instituts in Düsseldorf beträgt ca. sechs Millionen Złoty und ist damit genauso hoch wie das Budget eines Kulturzentrums in einem der 18 Warschauer Stadtteile! Wenn wir alles zusammenzählen – Verwaltung, Gehälter usw. aller 24 Polnischen Institute auf der Welt, dann haben wir … knapp 40 Milionen Złoty, von denen lediglich ca. 20 Prozent für die Programmarbeit ausgegeben wird. Polen gibt also für die öffentliche und die kulturelle Diplomatie auf der ganzen Welt jährlich acht bis zehn Milionen Złoty aus. Dem Polnischen Institut in Stockholm steht für ganz Schweden ein Budget zur Verfügung, das so hoch ist wie das Budget eines Kulturzentrums in einem Stadtteil von Lublin. Aber im Unterschied zu diesem Kulturzentrum verfügt es über keine Infrastruktur: keine Veranstaltungsräume, kein Filmsaal, keine Gästezimmer. Aus diesem Budget müssen deshalb noch die Miete für Räumlichkeiten bestritten werden, die Übernachtungskosten für Gäste usw. Selbst in der Volksrepublik Polen verfügten die Institute über Gebäude mit entsprechenden Einrichtungen. Heute haben alle Institute außer denen in Berlin, Düsseldorf und New York eine gemeinsame Buchhaltung mit den Botschaften. Das ist, als ob der Direktor eines Kulturzentrums – der, so wie es das Gesetz vorschreibt alleine strafrechtlich haftbar für die Institution ist – alles im Rathaus abrechnen müsste, und jeden Vertrag und jede Rechnung unterschreibt der Bürgermeister. So führt die Dritte Republik die Polnischen Institute. Und erst wenn man das weiß, kann man versuchen, die Arbeit der früheren Direktoren und das was vorher war, ehrlich zu beurteilen.

Das Gesamtbudget für Programm und Verwaltung des Instituts in Berlin, das ja noch eine Filiale in Leipzig hat, sowie des Instituts in Düsseldorf beträgt ca. sechs Millionen Złoty und ist damit genauso hoch wie das Budget eines Kulturzentrums in einem der 18 Warschauer Stadtteile!

Hanna Radziejowska

Gleichzeitig wurde schon, als noch die PO regierte, davon gesprochen, dass das Image Polens in der Welt unbedingt verbessert werden muss.

Nach 2015 sprach man entschlossener darüber, die polnische Sprache in den Ländern zu fördern, in denen es viele Migranten aus Polen gibt. Zweisprachigkeit ist schließlich ein Kapital. In Berlin gibt es viele Polen, die sich sehr gerne ihrer Muttersprache widmen und die möchten, dass ihre Kinder diese lernen. Das Absurde ist, dass das Gesetz, dass die Tätigkeiten der Polnischen Institute regelt, so konstruiert ist, dass die Institute keine Sprachkurse anbieten und auch keine Sprachzertifizierungen durchführen können. Sie dürfen nicht wirtschaftlich tätig werden, d. h. wenn in einem Institut Sprachkurse angeboten werden, dann entweder von einer Nichtregierungsorganisation oder von einer privaten Firma.

Im Instituto Cervantes kann man allerdings Spanisch lernen und im Goethe-Institut Deutsch…

Es gibt sechs Mal so viele Goethe-Institute wie Polnische Institute, und das Budget ist 50 Mal so hoch, außerdem steckt da eine Infrastruktur dahinter. Die gesamte Organisationstruktur dient dazu, dass die Institute effektiv, sachlich und nachhaltig arbeiten können.

Ist der Einfluss des Auswärtigen Amts auf die Goethe-Institute vergleichbar dem Einfluss in unserem Fall?

Die Goethe-Institute arbeiten unter der Oberhoheit des deutschen Auswärtigen Amts, aber dieses hat nicht den direkten Einfluss auf ihre Tätigkeit wie es das polnische Außenministerium hat. Goethe-Institute können auch wirtschaftlich tätig werden. Es gibt Mechanismen, die vor solchen Eingriffen, wie wir sie in Polen haben, schützen. Sie unterscheiden sich nämlich vom Grundsatz her von den diplomatischen Vertretungen. Ein Diplomat führt Gespräche und repräsentiert die Regierung. Ein Institut, das den Kulturbegriff sehr weit auslegt, besteht jedoch aus einem Team, einem Programm und langfristig geplanten Projekten, die von dem Team und dem Direktor realisiert werden. Das plötzliche Abberufen eines solchen Direktors ist nicht gleichzusetzen mit der Abberufung eines Diplomaten, der seine Aufgaben einfach an seinen Nachfolger übergibt. Im Fall einer kulturellen Einrichtung bedeutet das den Abbruch eines langen Prozesses, in dem Vertrauen aufgebaut wurde, in dem Projekte und Programme durchgeführt wurden.

Heißt dass, das die Polnischen Institute, um in den Worten eines bestimmten Politikers zu sprechen, nur theoretisch existieren?

Hier berühren wir das größte Übel Polens, wenn wir über die Reform des Staats nachdenken. Noch nie hat sich eine Gruppe darüber Gedanken gemacht, dass, egal was man erschaffen möchte, immer die Förderung einer guten Managementkultur und institutionelles Denken erforderlich ist. Dass bestimmte Mechanismen notwendig sind, die vor Intrigen schützen und die die Fähigkeit zum nachhaltigen Wirken erst ermöglichen. Ein moderner Staat ist eine Welt von Behörden und Institutionen, in denen Verwaltungshandeln nicht daraus besteht, Anweisungen und Befehle wie in der Armee zu geben oder wie in einer Fabrik Aufgaben zuzuteilen, wie das in den Polnischen Instituten der Fall ist. Gutes Verwalten heißt, Visionen zu haben, gute Energien aufzubauen, an Beziehungen zu arbeiten, Probleme zu lösen sowie Verantwortung zu übernehmen, und außerdem in längeren Zeiträumen zu denken. Und das wäre besonders wichtig in den Polnischen Instituten, wo Programmplanung und Budgetierung in Dreimonatsschritten geschieht.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass in den meisten kommunalen und staatlichen Kultureinrichtungen in Polen 60-70 Prozent der Arbeitszeit für die Lösung interner Probleme, für Konflikte und Intrigen verlorengeht. Die restlichen 30 Prozent können dann der inhaltlichen Arbeit gewidmet werden.

Noch nie hat sich eine Gruppe darüber Gedanken gemacht, dass, egal was man erschaffen möchte, immer die Förderung einer guten Managementkultur und institutionelles Denken erforderlich ist. Dass bestimmte Mechanismen notwendig sind, die vor Intrigen schützen und die die Fähigkeit zum nachhaltigen Wirken erst ermöglichen.

Hanna Radziejowska

Wir möchten Sie gerne nach Ihrer Erfahrung gerade in kommunalen Einrichtungen fragen. Sie haben ja einige Jahre in verschiedenen Warschauer Institutionen gearbeitet.

Die bereits erwähnte Serie „Artyści” (Künstler) beschreibt die Verhältnisse sehr treffend. In einigen Stadtteilen Warschaus lassen sich die Mitglieder des Gemeinderats leicht mit der Anstellung von Familienmitgliedern in kommunalen Einrichtungen oder Gesellschaften “verführen”. Damit werden sie zu Geiseln, wenn es um Abstimmungen und Kämpfe zwischen den Fraktionen geht. Vor kurzem wurde ein Gemeinderatsmitglied für den Widerstand bei einer Abstimmung damit “bestraft”, dass seine Mutter ihre Arbeit als Bibliothekarin in einer Schule verlor. Vor einigen Jahren stimmte ich der Einstellung einer Person nicht zu, die mir von den lokalen Machthabern vorgeschlagen wurde. Das Ergebnis war ein derartiges Mobbing mir gegenüber, dass ich die Arbeit kündigte. Überall dort zeigt sich eine einfache Wahrheit: Wenn es um die Bewirtschaftung öffentlicher Gelder geht, haben nicht immer hochrangige Eltern recht, die meinen, ihre Kinder wären die Begabtesten und sollten deshalb öffentliche Einrichtungen führen. Und Ehepartner beurteilen die Fähigkeiten ihrer Partner nicht immer objektiv. Wir werden keinen effektiv arbeitenden Staat aufbauen, wenn wir unser Denken in diesen Angelegenheiten nicht ändern. Das müssen wir lernen und damit anfangen, private von öffentlichen Angelegenheiten zu trennen.

Ein Anhänger von “dobra zmiana” [der gute Wandel, Anmerkung d. Ü.] würde das so ausdrücken: Wir sind gerade am Reparieren, und weil die Versäumnisse so groß sind, muss man alles komplett zerstören und alle entlassen. Wir beginnen ganz von vorne, insofern ist eine Phase des Durcheinanders zulässig.

Ich verwende mal eine Metapher aus der Luftfahrt. Die Leitung einer Institution kann man mit dem Fliegen eines Segelflugzeugs vergleichen. Damit das Flugzeug fliegt, muss unbedingt ein Gleichgewicht zwischen vier Kräften gefunden werden: zwischen Gravitation – der die Schwerfälligkeit von Institutionen entspricht; dem dynamischen Auftrieb, d. h. der Vision, dem Programm; der Schnelligkeit, also dem fähigen Team bzw. dem erfahrenen Direktor; und dem Widerstand, d. h. der Bürokratie.

Wenn hier inkompetente und ideologisierte Personen herrschen, dann erinnert das an das unkontrolierte Lenken des Segelflugzeugs in einem Luftwirbel. Die Überzeugung, dass man eine Abkürzung nehmen kann, ist kontraproduktiv. Denn es gibt ja im staatlichen Leben keine einzige Abkürzung. Der Aufbau eines guten Images Polens beruht auf harter und jahrelanger institutioneller Arbeit und gleichzeitigem demokratischen und sachlichen Handeln in Wissenschaft und Kultur. Und bei uns sieht alles immer aus wie in “King Julien”, dieser Trickfilmserie, in der King Julien sagt: “Machen wir schnell, bevor wir merken, dass es keinen Sinn hat.”

Was also – abgesehen von einer Budgeterhöhung für die Polnischen Institute – müsste passieren, um diese Situation zu ändern?

Die Diskussion dreht sich oft darum, ob die Institute dem Außenministerium oder dem Ministerium für Kultur und Nationales Erbe unterstehen sollen. Wesentlich wäre es aber, die Institute so zu organisieren, das einerseits eine Programmgestaltung möglich ist, andererseits ein Schutz vor menschlichen und parteigeleiteten Schwächen und Fehlern gewährleistet ist. Außerdem beruht ein Teil der Probleme der Institute auf einem nicht zu lösenden Konflikt zwischen den Bedürfnissen der Leiter der diplomatischen Vertretungen, die die Institute für ihre laufenden Geschäfte brauchen und den Bedürfnissen der Institute, deren Glaubwürdigkeit von einer stetigen und mehrjährigen Programmplanung abhängt. Wenn also jemand die Institute vor Erschütterungen des Ansehens schützen möchte, dann müsste er auf der einen Seite unabhängige Handlungsmöglichkeiten herstellen, und auf der anderen Seite die Bedürfnisse der diplomatischen Vertretungen berücksichtigen und sie durch mehr Personal und ein höheres Budget stärken.

Wenn der Staat sehr schwach funktioniert, dann verschwinden objektive Mechanismen, die die Grundsätze der Zusammenarbeit regeln, es verschwinden inhaltliche Bewertungskriterien, und diese werden ersetzt durch ideologische Gegensätze: Es entstehen Intrigen und von Inhalten losgelöste Abhängigkeiten. Hanna Radziejowska

Ein wichtiges Problem kommt noch hinzu. Die Arbeit im Polnischen Institut machte mir bewusst, worauf das Missverhältnis einer Anstellung von Personen nach polnischem oder deutschem Recht beruht. Das deutsche Arbeitsrecht schützt die Arbeitnehmer so, das eine eventuelle Kündigung gigantische finanzielle Folgen für den Arbeitgeber haben kann. In Polen kann man jemanden in einem Monat oder in drei Monaten ohne Konsequenzen einfach so entlassen. Wenn z. B. von oben die Anweisung kommt: “Oh, hier ist jemand, der für die Gazeta Wyborcza oder die Gazeta Polska gearbeitet hat, bitte entlassen.”, wie viele Leute werden dann den Mut haben, dem zu widersprechen? Jemand mit Empathie würde antworten: “Ok, aber das wird schwierig, die Person hat ein Kind, Familie”, usw. Aber in Einklang mit dem Arbeitsrecht müsste es heißen: “Die Person arbeitet sehr gut, ich habe nichts gegen ihre Ansichten und möchte sie behalten. Und das ist meine Entscheidung als Direktor.”

Es ist verwunderlich, das in Polen, dem Land von „Solidarnośc” und Johannes Paul II., das Arbeitsrecht den Einzelnen so wenig schützt und deshalb die Bürger- und Freiheitsrechte einschränkt. Glauben wir tatsächlich, dass dies keine Konsequenzen für unsere Demokratie und auf unser Verhalten hat?

Das Problem, das bestand, als die PiS an die Macht kam, war, dass viele Leute von den Unzulänglichkeiten der dritten Republik frustriert waren und sie reformieren wollten. Aber das Vorgehen der PiS stellt alles auf den Kopf, verursacht Chaos, das nicht nur zerstörerisch wirkt, sondern auch die Begeisterung dafür nehmen kann, irgendetwas zu verbessern.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass in Polen verschiedene Reenactment-Gruppen herrschen: als verfemte Soldaten, Ulanen [eine hist. Kavalleriegattung, Anmerkung d. Ü.] oder Dissidenten des März 1968 Verkleidete, die durch die Straßen ziehen und Streik oder Schießen auf die „Feinde des Vaterlands“ spielen. Wir reden uns ein, dass wir die konkreten Probleme von 2018 durch die Erzählungen unserer Großeltern aus Kriegszeiten oder unserer Eltern aus dem Kommunismus ergründen können. Ob nun das linke oder das rechte Millieu in Polen, alle sind wir aufgewachsen mit und umgeben von ikonischen Ereignissen der polnischen Geschichte. Verkleidet mit bestimmten Worten und Gesten, die das Verständnis für die sehr schwierigen und tatsächlichen Probleme mit der polnischen Demokratie und Staatlichkeit verschleiern. Andere Demokratien auf der Welt haben auch schwere Krisen durchlaufen. In den 1970er Jahren kämpften die Amerikaner um die Pressefreiheit. In den 1980er und 1990er Jahren bekämpften die Italiener die sizilianische Mafia. Als die Amerikaner sich mit ihrer Demokratiekrise befasst haben, sprachen sie nicht davon, dass es jetzt das Jahr 1862 ist und der Sezessionskrieg wütet. Und die Italiener erwähnten nicht die Sizilianische Vesper und den Überfall der Franzosen im Jahr 1299. Reenactment-Gruppen lösen nicht unsere Probleme hier und heute.

Sie klingen wie eine symetrystka. [Zuschreibung von Journalisten für Personen, die im politischen Streit in Polen „in der Mitte“ bzw. über den Dingen zu stehen scheinen; Anmerkung d. Ü.]

Nein, nicht symetrystka, nur państwowiec. Es gibt viele, die unseren Staat ernst nehmen und es gibt die Sorge um das Gemeinwohl auf allen Seiten des politischen Streits. In der kommunalen Verwaltung in Warschau, in öffentlichen Einrichtungen, in den Stadtteilen, bei Abteilungsleitern und sogar auf höherer Ebene, unter den Ministern und Bürgermeistern gibt es Personen, die – im vollen Bewusstsein ihrer Grenzen – sich bemühen, ein kleines Stück normales Polen zu schaffen. Das kann ein Bereich in einem Stadtteil sein, eine Abteilung in einem Ministerium oder ein Kulturzentrum. Ein Stück Normalität, in dem es um das Gemeinwohl geht und es keine Rolle spielt, ob jemand nicht heteronormativ ist, ob er den Rosenkranz betet oder die Gazeta Wyborcza abonniert hat, ob er die Bücher von Bronisław Wildstein liest, bei Demonstrationen des KOD mitmarschiert oder an den Veranstaltungen zur Erinnerung der Katastrophe in Smoleńsk teilnimmt. Beurteilungen beruhen an solchen Orten auf Kompetenz. In einem solchen Umfeld kann man inhaltlich und professionell arbeiten, sich sicher fühlen und sich entwickeln.

Man kann den Eindruck gewinnen, dass in den meisten kommunalen und staatlichen Kultureinrichtungen in Polen 60-70 Prozent der Arbeitszeit für die Lösung interner Probleme, für Konflikte und Intrigen verlorengeht. Die restlichen 30 Prozent können dann der inhaltlichen Arbeit gewidmet werden. Hanna Radziejowska

Glaubt die Rechte noch an die Möglichkeit, einen gemeinsamen Staat aufzubauen?

Für viele war die Katastrophe in Smoleńsk ein entscheidender Moment. Dort starben państwowcy [Erläuterung s. Frage 2, Anmerkung d. Ü.], u. a. Lech Kaczyński, Władysław Stasiak und Tomasz Merta. Ich erinnere mich an ein Bild aus dem April 2010: russische Polizisten, die achtlos die Särge mit den sterblichen Überresten der Passagiere der Tupolew auf einen Lastwagen werfen. Damals hatte ich den Eindruck, dass mein Staat in Stücke geschlagen wird.

Die Erfahrung von Smoleńsk und ihre Nachwirkungen im öffentlichen Leben (z. B. ungerechte Entlassungen und das “politische” Beschneiden von Zuwendungen) haben unter den Anhängern der rechten Seite der politischen Szene die Überzeugung wachsen lassen, dass es keinen Sinn hat, einen gemeinsamen Staat mit denjenigen zu schaffen oder zu reformieren, die, wie es Włodzimierz Cimoszewicz im April 2010 sagte, “die Ermittlungen führen, als ob es um den Einbruch in eine Garage geht.”

Ohne die Überzeugung, dass wir einen neuen Staat gründen müssen, ist es aber, so glaube ich, nicht möglich, diesen Staat zu reformieren. Schlechte Mechanismen kann man nicht mit schlechten Praktiken und mit Inkompetenz reparieren. Um aus dem Smoleńsk-Trauma herauszukommen, muss der Państwowcy-Ethos in das öffentliche Handeln zurückkehren. Gerechtigkeit macht einen Staat aus, nicht Rache. Gerechtigkeit ist der Rückhalt, d. h. ein sicherer Ort, ein Unterschlupf, die Stütze der res publica und des Gemeinwohls.

Übersetzung aus dem Polnischen: Jutta Wiedmann, Polen.pl

Politics /

Was sollte die Bürgerplattform tun? Auf der Suche nach einem demokratischen Polen

Karolina Wigura · 31 May 2017

Es nimmt nicht wunder, dass die Bürgerplattform (PO) heute unter Grzegorz Schetyna der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zutreibt. Monatelang wurde sie vor allem dafür gerühmt, dass sie eine „Totalopposition“[1] zur PiS sein möchte. All das gemäß der Annahme, sogar ein grundloser Angriff gegen die PiS sei besser als der Ruf nach einer Anhebung des Niveaus der Opposition. So hat unter dem Schlagwort des politischen Realismus die Schludrigkeit Zuflucht gefunden.

Aus den letzthin von dieser Partei verkündeten Forderungen ergibt sich das Bild von Menschen, die nicht über ihren Tellerrand hinausschauen und nach kleinen Bonbons lechzen. Die PO ist heute für die Entwicklung des Programms 500+[2], obwohl sie ursprünglich detaillierte Berechnungen vorstellte, wonach dafür im Haushalt kein Geld da war. Sie möchte das von der PiS abgesenkte Renteneintrittsalter beibehalten, obwohl sie es vorher angehoben hatte.[3] In Warschau gibt sie bekannt, sie wolle Eltern, deren Kinder keinen Platz in einer öffentlichen Krippe erhalten, eine Zulage zahlen, das sog. 400+, und vergisst anscheinend dabei, dass sie selbst vor drei Jahren öffentliche Tagesbetreuungsstellen eingerichtet hat, die verlässlich und außerordentlich günstig sind. Diese gälte es zu stärken und zu entwickeln.

Es bedarf keiner tiefschürfenden Analyse, um zu erkennen, dass die heutige Linie der PO durch und durch reaktiv gegenüber der PiS-Politik ist. Es handelt sich um reine Umfragepolitik, um die Aufgabe des einst mit der PO in Verbindung gebrachten reformerischen und offenen Denkens. Angeboten wird alles Mögliche, und es fehlt offensichtlich an Respekt vor den Wählern, die nur zu gern eine tatsächliche Alternative hätten, einen echten Entwurf für Polen.

Die drei Sackgassen im Denken der heutigen Opposition

In den letzten Jahren wurde die Kritik der liberalen Demokratie den Extremisten überlassen, sei es von rechts oder von links. In der Folge geben die Oppositionsparteien zu verstehen, dass eine Rückkehr zum Status quo von vor dem Oktober 2015 der größte Traum des Durchschnittspolen wäre. Hier zeigt sich die erste von drei Sackgassen im Denken über die zeitgenössische Demokratie. Dieses Denken hält die Demokratie für eine Regierungsform, die einer Reform nicht bedarf.

Diese Überzeugung ist besonders zweifelhaft. Der bedeutende Soziologe Colin Crouch von der Universität Warwick argumentiert, dass die Demokratie am besten dasteht, wenn eine möglichst große Gruppe von Menschen möglichst große Möglichkeiten zur Einflussnahme auf die Politik hat. Das ist eine sehr ehrgeizige Voraussetzung – und kann dennoch die Richtung anzeigen, in die wir gehen sollten, wenn wir uns wirklich eine Gemeinschaft politisch engagierter Bürger wünschen.

Die Wirklichkeit indes, so Crouchs Hinweis, sieht anders aus. Die liberale Demokratie, die nach 1945 in Westeuropa und nach 1989 in Ostmitteleuropa installiert wurde, ist eine von dem oben skizzierten normativen Ideal abweichende Regierungsform. Langfristiges Fernhalten der Bürger von einer Einflussnahme auf die Öffentlichkeit, das Gefühl, die politische Klasse sei vom Alltagsleben losgelöst, führt zu Langeweile, Zorn und Enttäuschung. Diese Empfindungen können bei dem PiS-, Kukiz’15- oder Moderne-Musterwähler unterschiedliche Ursachen haben, bedeutsam ist jedoch, dass alle drei Parteien den letzten Wahlkampf mit Parolen vom Wechsel und, wie man es damals nannte, „Genervtsein“ bestritten.

Gemäß der zweiten Sackgasse des Denkens sind die Bürger unreif und kindlich. Es genügt hier, die vieldeutigen Worte des CNN-Journalisten Fareed Zakaria anzuführen, der 2003 feststellte, eine Politikerneuerung sei erforderlich, denn „was wir heute brauchen, ist nicht mehr Demokratie, sondern weniger“ (sic!). Aber die Bürger sind doch keine Zweijährigen. Sie zu tadeln, ihnen zu sagen, sie hätten keine Ahnung, was auf dem Spiele steht, seien naiv, also de facto ihre Leidenschaften zu ignorieren, endet mit massenhaftem Zuspruch für populistische Anführer (Trump in den USA), pseudodemokratische Manöver (Brexit) und populistische Parteien (PiS).

Die dritte Sackgasse beruht auf der Annahme, wenn schon mit den Leidenschaften der Bürger zu rechnen sei, genüge es, die Sprache oder das Programm der Populisten zu kopieren, um sie auf die eigene Seite zu ziehen. Genau dies tut heute die Bürgerplattform. Es ist aber nicht der einzige Weg.

Auf der Suche nach einem demokratischen Polen

Man darf bezweifeln, ob die PO die Polen heute mit irgendetwas anderem überraschen kann als der gegenwärtigen Strategie radikaler Labilität. Falls sich die PO-Politiker irgendwie zu dem Versuch durchringen, einen Entwurf für Polens Zukunft zu präsentieren, sollten die Umfragebalken vielleicht für eine Weile verbannt werden. Die Autoren eines mutigen Programms dürfen vor Umfrageeinbrüchen keine Angst haben, denn Werte verteidigt man nicht um der Balken willen, sondern für kommende Generationen.

Nehmen wir nur die Flüchtlingsfrage. Die PO gibt klar zu verstehen, sie wolle davon nichts hören. Joanna Kluzik-Rostkowska meint, Polen sollte Flüchtlinge aufnehmen, nicht aber Wirtschaftsmigranten. Als verstände sie nicht, dass in der heutigen Welt die Grenze zwischen diesen beiden stark verwischt ist. Grzegorz Schetyna gibt zu, er sei bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, allerdings nur, wenn die Europäische Union es möchte (audycje.tokfm.pl/audycja/PoranekJacek-Zakowski/120).

Die Flüchtlinge erscheinen in diesen Äußerungen als Quelle von Problemen, die EU hingegen als Quelle der Unterdrückung. Man sollte beachten, dass eine Diskussion „Nehmen wir Flüchtlinge auf oder nicht“ am Thema vorbeigeht. Wir sprechen über einige Tausend Ankömmlinge aus Syrien, während tausende Ukrainer oder Vietnamesen schwarz in Polen arbeiten. Die Frage lautet also, nach welchen Regeln, in welchem Zeitraum, für wieviel Geld wir die Ankömmlinge integrieren und assimilieren wollen, von denen es ohnehin immer mehr in unserem Land geben wird.

Polen ist innerhalb der letzten drei Dekaden von einem traditionellen Auswanderungs- zu einem Einwanderungsland geworden. Das ist eine große Veränderung, die viele Befürchtungen wecken mag, und diese gilt es zu verstehen. Allerdings sind diejenigen Momente unserer Geschichte, auf die wir am meisten stolz sind, Momente der Offenheit und interreligiösen Toleranz, nicht Jedwabne.[4]

Und zu guter Letzt: man sollte die EU nicht als Schreckgespenst für diejenigen verwenden, die Flüchtlinge ablehnen. Wir sind Europäer genauso wie der Rest des Kontinents, und wenn irgendeine europäische Ethik bei uns präsent sein soll, müssen wir Polen sie gemeinsam erschaffen und erneuern, zusammen mit den anderen.

[1]           „Wir werden Totalopposition sein“ – diese strategische Losung gab der Vorsitzende der größten polnischen Oppositionspartei Bürgerplattform, Grzegorz Schetyna, im Februar 2016 aus, nachdem die Partei Recht und Gerechtigkeit die Wahlen gewonnen hatte.

[2]                Das Programm „Familie 500+“ ist ein Anfang 2016 von der PiS eingeführtes Kindergeld in Höhe von 500 Zloty für das zweite und jedes weitere Kind, bei niedrigem Familieneinkommen für jedes Kind.

[3]               Die PO-Regierung hatte in der vorhergehenden Legislaturperiode das Renteneintrittsalter angehoben (67 Jahre für Männer, 65 für Frauen) und argumentiert, die steigende durchschnittliche Lebenserwartung und die damit einhergehende Belastung des öffentlichen Haushalts zwinge zu diesem Schritt. Die PiS-Regierung machte die Reform rückgängig und legte das Renteneintrittsalter auf 65 (Männer) und 60 Jahre (Frauen) fest.

[4]               Am 10. Juli 1941 kam es in dem Städtchen Jedwabne unter deutscher Besatzung zu einem Massenmord an der jüdischen Bevölkerung durch polnische Einwohner. In der öffentlichen Debatte sorgen die Umstände dieses Verbrechens nach wie vor für Kontroversen.

Fot. Tumisu, Pixabay.com [CC0].

Übersetzt von Hans Gregor Njemz.

Politics /

Die polnische Regierung plant den Ausbau der Elektromobilität. Ein sehr konservativer Innovationsplan

Kacper Szulecki · 31 May 2017

„Bei aller pseudoökologischen Rhetorik, bei allen Visionen von steigender Energiesicherheit ist das Regierungsprogramm bezüglich der E-Mobilität doch vor allem – oder fast ausschließlich – Industriepolitik. Eine in sich nicht schlüssige Politik, ähnlich wie Mateusz Morawieckis andere ,Pläne‘“, schreibt Kacper Szulecki, Spezialist für Energie- und Klimapolitik der „Kultura Liberalna“ und Universitätsdozent in Oslo.

Wenn Mateusz Morawiecki sagt, die Zukunft liege in der E-Mobilität, dann hat er natürlich recht[1]. Der Entwicklungsplan für Elektromobilität der polnischen Regierung[2] kombiniert jedoch zwei unterschiedliche Visionen, die stellenweise sehr weit auseinanderliegen oder sogar gegensätzlich sind. Die Argumente für den Ausbau der E-Mobilität im öffentlichen Verkehr und des EV-Sektors (electric vehicles – Elektrofahrzeuge) lauten angeblich wie folgt: ökologische Gesichtspunkte, eine Verringerung der Erdöl-Abhängigkeit (Polen bezieht sein Erdöl ausschließlich aus Russland) sowie die „Reindustrialisierung“ des Landes. Doch tatsächlich ist die Reihenfolge umgekehrt, und die vom Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und vom Energieministerium lancierten Visionen der Reindustrialisierung sind sehr unterschiedlich, wenn sie auch beide im Grunde äußerst konservativ sind. Sehen wir sie uns nacheinander an.

Saubere Autos mit Kohle?

In den meisten Ländern ist die Umstellung des Verkehrs auf Elektroenergie Teil einer Strategie, sich in diesem Sektor von der Kohleenergie zu lösen – also den Ausstoß von Kohlendioxid zu reduzieren, indem man Benzin und Erdöl durch Strom aus „saubereren Quellen“ ersetzt. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür ist Norwegen, das fast seinen gesamten Strom aus Wasserkraftwerken bezieht. Um bei den weltweiten Klimaverhandlungen nichts deklarieren zu müssen (und die Frage nach einer Aufgabe der wirtschaftlich bedeutenden Erdöl- und Erdgasförderung taktvoll zu umgehen) konzentrierte man sich u.a. auf die radikale Unterstützung der E-Mobilität. Im Fall Norwegen bedeutet das allerdings einen tatsächlichen Nutzen für das Klima: die Umstellung von Erdöl auf emissionslosen Strom aus dem Wasserkraftwerk. In Polen, einer tiefschwarzen Insel auf der im Internet sehr beliebten „Electricity Map“ [www.electricitymap.org/], wäre der Effekt allerdings ein umgekehrter: Die hohen Emissionen aus dem Benzinverkehr würden durch noch höhere Emissionen aus Kohlekraftwerken ersetzt.

In Wirklichkeit geht es Minister Morawiecki, wenn er von „Ökologie” spricht, um die öffentliche Gesundheit, die Luftqualität in den Städten und das Smog-Problem. In Warschau zum Beispiel wird über die Hälfte der Luftverschmutzung tatsächlich vom Verkehr verursacht. Statt also die Organisation des Stadtverkehrs radikal zu überdenken, was man zur Zeit in Europa und der ganzen Welt tut, will die polnische Regierung lieber am aktuellen Modell festhalten, die Verschmutzungen jedoch aus den Städten in die Kraftwerke verlegen. Sagen wir es also ganz klar: Ohne eine grundlegende Reform des Energiesektors in Polen und einen rasch vorangetriebenen Ausbau erneuerbarer und emissionsschwacher Energien bleibt der E-Mobilitätsplan höchstens ein pseudoökologisches Projekt.

Heimische Kohle statt Erdöl aus dem Ausland?

Das zweite Argument für diesen Plan ist bereits weit weniger überraschend, wenn man die allgemeine Rhetorik der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bedenkt. Dort ist die Rede von Energiesicherheit, der Unabhängigkeit von Erdöl, das vorwiegend aus Russland importiert wird oder aus anderen politisch verdächtigen Richtungen stammt und das unsere polnische Kohle ersetzen soll. Dazu kommt eine ganz simple ökonomische Rechnung: Wie das polnische Energieministerium angibt, sind 2 % des polnischen Bruttoinlandsprodukts für den Import von Energierohstoffen vorgesehen. Enorm viel Geld, das im Land bleiben könnte, wenn es uns gelänge, den Energieverbrauch zu reduzieren oder den Import durch hierzulande Vorhandenes zu ersetzen: Sonne, Wind, Wasser, geothermische Energie oder Kohle. Von all diesen Alternativen setzt die Regierung natürlich auf die letzte.

An der Zukunftsvision der Minister erstaunt wieder einmal das konservative Denken. Der Plan setzt voraus, dass Elektroautos v.a. vom Gesichtspunkt der Nachfrage aus wichtig werden: dass sie den Stromverbrauch erhöhen, und zwar genau dann, wenn die Regierung es möchte. Dieses Ziel lässt sich aber nicht anders erreichen als durch eine Planwirtschaft, kann man doch die unvorhersehbare und potenziell sehr wechselhafte Konsumption in diesem Zukunftssektor auch dann nicht kontrollieren, wenn man die Energiepreise – wie das Energieministerium angekündigt hat – in den Nachtstunden um 30 % senkt.

Lassen Sie mich kurz erklären, was hier der Punkt ist. Im Moment sind wir eine Praxis gewöhnt, derzufolge fast jeder erwachsene und berufstätige Mensch sein eigenes Privatauto zu besitzen pflegt. Dieses Privatauto dient ihm unter der Woche für die Fahrten zur Arbeit und steht ansonsten auf dem Parkplatz oder in der Garage, und das den Großteil des Tages und der Nacht. Man schätzt, dass Autos in 90-95% der Zeit nur stehen.

Tatsächlich wäre es gut, die Autos gerade während der „Nachtsenke“aufzuladen, in der am wenigsten Strom verbraucht wird und in der die unflexiblen Kraftwerke trotzdem in Betrieb sein müssen. Elektroautos können auch, was das Ministerium ebenfalls erwähnt, als Batterien dienen – als Energiereservespeicher, die wir bei einem plötzlichen Mehrbedarf anzapfen. Dieser Gedanke ist in fast ganz Europa eines der Hauptargumente für einen Ausbau der Elektromobilität, nur in Polen ist er nicht populär. Mit vielen verstreuten Batterien lässt sich nämlich die verstreute Stromgewinnung aus kleinen Quellen erneuerbarer Energien ausgleichen – der polnische Energiesektor aber basiert auf großen, zentral gesteuerten Kraftwerken und will solche Lösungen nicht. Außerdem könnte man ja den Autobesitzern ihre Dienstleistung vergüten müssen, und das wäre erst recht nicht auszudenken.

All das ist jedoch der Versuch, das Modell aus dem 20. Jh. auf das 21. Jh. zuzuschneiden. In vielen europäischen Städten ändert sich zur Zeit die Nutzung von Autos. Gerade bei Elektroautos wird das Carsharing immer populärer; zudem kommen Prototypen von autonomen Fahrzeugen auf den Markt, die keinen Fahrer benötigen und daher viel effektiver genutzt werden können. Statt in 90 % der Zeit auf dem Parkplatz zu stehen, können sie fast unentwegt in Fahrt sein – was wiederum bedeutet, dass sie zu verschiedenen Tageszeiten und möglichst schnell aufgeladen werden müssen.

Und hier taucht das Problem auf. Nehmen wir an, wir haben auf polnischen Straßen bereits mehrere Hunderttausend Elektroautos, deren Nutzer sie jedoch nicht unbedingt – wie vom Energieministerium geplant – nachts an der eigenen Steckdose aufladen wollen. Sie wollen die Autos mitten am Tag aufladen, in der Stadt, an Schnellladestationen (sog. Superchargers). Solche Geräte sind keine Haartrockner; die Stromstärke der neuen Tesla-Stationen beträgt 145kW. Wenn mehrere Tausend Nutzer gleichzeitig ihre Autos aufladen wollten (das ist gerade einmal ein Prozent der im Regierungsplan angestrebten Zahl), trieben sie damit den Energiebedarf des Landesenergiesystems auf maximale Höhe. Hinzu kommt, dass die Supercharger an das lokale Niedrigspannungsnetz angeschlossen sind. Die meisten städtischen Stromnetze hätten ein Problem, diese Feuerprobe zu bestehen.

Wollte man den Plan „eine Million EV bis 2025“ tatsächlich ernst nehmen, wäre die beste Investition für Polen wohl der Bau von Gaskraftwerken – sie könnten nämlich in einem derart schwankenden System die nötige Flexibilität garantieren, wenn man davon ausgeht, dass Kohle weiterhin die Grundlage bilden würde. Gaskraftwerke würden am meisten an vorübergehenden Preisanstiegen verdienen. Natürlich muss man beim E-Mobilitätsprogramm auch beachten – aber es bleibt ja sowieso alles in der Familie –, dass nur das staatliche Oligopol der Großen Vier (PGE, Tauron, Energa i Enea)[3] in der Lage wäre, solche Kraftwerke zu errichten – also die Gesellschaften, die den Plan der Regierung in die Wege leiten. Nur woher soll das Gas kommen?

Reindustrialisierung auf zweierlei Art

Da wir nun schon wissen, dass es eigentlich nicht um Ökologie geht und dass es auf lange Sicht trügerisch sein kann zu glauben, Polen könne sich gänzlich vom Rohstoffimport unabhängig machen, sollten wir zum Kern der Regierungsvorschläge kommen. Reindustrialisierung – das ist das alte Lied der PiS. In Wahrheit kommen hier zwei voneinander unabhängige Thematiken zusammen: einerseits die Renationalisierung des industriellen Sektors, andererseits eine Nostalgie für die polnische Schwerindustrie, die größtenteils nach 1989 zusammengebrochen ist. Es lässt sich nicht verbergen, dass das Modell der Wirtschaftspolitik, das Polen mit dem Anfang der Transformation von zentraler Planwirtschaft hin zur Marktwirtschaft übernommen hat, auf Privatisierung und einer eingeschränkten Rolle des Staates in der Industrie basierte. Allen zur Zeit so populären Verschwörungstheorien zum Trotz war das jedoch nicht das Ergebnis eines Komplotts, sondern geschah lediglich unter dem Einfluss des damaligen neoliberalen Geistes, und die Resultate sind sicherlich auch besser, als es die Verfechter der Narration eines „Polen in Ruinen“[4] wahrhaben wollen. Was nicht heißen soll, dass es keine Alternativen gegeben hätte und gäbe.

Der Entwicklungsplan für Elektromobilität ist ein Beispiel für einen neuen Ansatz in der Industriepolitik – einen Ansatz, bei dem der Staat die erste Geige spielt. Doch die Visionen des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und des Energieministeriums sind sehr verschieden – obwohl theoretisch der gesamte Plan eine von Minister Morawiecki lancierte Strategie ist. Verschieden sind sie, weil auch die Arten, wie der Staat Einfluss auf die Wirtschaft nehmen soll, verschieden sind. Der Minister für wirtschaftliche Entwicklung vertritt ein „asiatisches Modell“, das Energieministerium schwankt scheints zwischen einer zentralen Planwirtschaft und den Ideen Hjalmar Schachts, Wirtschaftsminister in den ersten Jahren des Dritten Reichs.

Tigerbus an der Weichsel

In den Achtziger- und Neunzigerjahren, als die meisten aufstrebenden und westlichen Wohlstand anstrebenden Länder sich an neoliberalen, deregulierenden Mustern orientierten, schlugen einige autoritäre Staaten in Ostasien (u.a. Südkorea, Taiwan, Singapur) einen anderen Weg ein – den Weg des „sich modernisierenden Staates“, wie es in der Entwicklungstheorie heißt. Jene Länder bestimmten ein paar industrielle Sektoren, in denen sie bereits sichtbare Fortschritte erzielt hatten, und steckten zusätzliche Mittel aus dem Staatsbudget in diese Bereiche, legten vorübergehende Steuererleichterungen für sie fest und unterstützten sie durch Wissenschaft und Forschung.

Genau diese Lösung strebt der Minister für wirtschaftliche Entwicklung für das Projekt E-Bus an – nur dass er sich dabei nicht auf die „Tigerstaaten“ bezieht, wahrscheinlich um keine Fragen nach der Asienkrise von 1997 zu provozieren. Neu ist die Idee nicht, von der Förderung „nationaler Champions“ oder von „Clustern“ wird schon seit Jahren gesprochen – auch, weil es sich dabei um eine für und von industriellen Potentaten maßgeschneiderte Wirtschaftspolitik handelt, bei der die Regierung lediglich auf deren Hinweise reagiert. Diesem Umstand zum Dank hat jedoch das Projekt von Vizeministerin Jadwiga Emilewicz Chancen auf Erfolg. Alles daran scheint die richtigen Proportionen zu besitzen – der Motor sind private Firmen, die sich bereits auf dem Markt hervorgetan haben, während der Staat dort helfen, unterstützen, erleichtern und beisteuern soll, wo Privatfirmen selbst tatsächlich nur schwierig investieren können – in Wissenschaft und Technologie.

Schade nur, dass die Regierung, wenn sie über den öffentlichen Verkehr spricht und polnische Erfolgsstorys aufzählt, mit keiner Silbe die Eisenbahn erwähnt. Das ist ein weiterer Zukunftssektor, in dem Polen tatsächlich großes industrielles Potenzial hat – leider kommt die Expansion einer modernen Bahn im Plan der Ministerien nicht vor.

Polnisches Elektroauto für das Volk

Ganz anders sieht die von Vizeminister Michał Kurtyka und dem Energieministerium lancierte interventionistische Vision für das Projekt E-Auto aus. Wie bei den meisten Projekten dieser Regierung scheinen Zahlen hier einzig zu Promotionszwecken zugelassen zu sein – warum sollte Polen bis zum Jahr 2025 ausgerechnet eine Million Elektroautos haben? – und werden weder einer Machbarkeitsanalyse unterzogen noch auf ihren Einfluss auf Markt und Wirtschaft geprüft. Einerseits ist eine Million wirklich viel. Eine Million E-Autos ist auf den Straßen der ganzen Welt erst seit 2015 unterwegs. Und nun will Polen im Laufe von 10 Jahren im Alleingang diese Zahl verdoppeln? Andererseits aber ist eine Million wenig. 2015 waren in Polen über 30 Millionen Autos registriert [http://motoryzacja.wnp.pl/ile-mamy-aut-w-polsce,257988_1_0_0.html], von denen etwas mehr als die Hälfte KFZ-haftpflichtversichert war, also 16-17 Millionen. Kann die Modernisierung von 7 % der gesamten Fahrzeugflotte wirklich das Problem der Luftverschmutzung in den polnischen Städten lösen?

Die ganze Logik wird hinter einem startup-typischen Neusprech versteckt, aber das ist nur Augenwischerei. Wirklich klar sind beim Projekt des Energieministeriums nur die Rahmenrichtlinien: die Stromnachfrage steigern, den Kohlesektor am Leben erhalten und von der blockierten Energiereform ablenken. Über das „Nationale Elektroauto“ lacht man in Polen schon seit fast einem Jahr[5]. Auch wenn es mit Sicherheit kein Polonez mit Melex-Motor wird[6], ist doch deutlich zu erkennen, dass der Staat in diesem Fall Bereiche beschreitet, in denen er sich nicht bewährt. Es sei denn, die Kontrolle über die Wirtschaft wird größer und es gibt bald tatsächlich ein polnisches Elektroauto für das Volk – so wie in Deutschland in den Dreißigerjahren aus einem ähnlichen Propagandamotiv heraus der Volkswagen entstand. Realistischer ist jedoch, dass Polen in die Fußstapfen Norwegens tritt – wenn auch nicht bei dessen aktueller EV-Politik. Anfang der Neunzigerjahre wollten die Norweger auch ein eigenes Elektroauto haben. Bis zum Jahr 2013 verkauften sich davon insgesamt nicht einmal 2.000 Exemplare.

Konservative Innovation – also gar keine

Was die beiden Projekte verbindet, sind das ganz klar konservative Denken, das dahintersteht, und eine Mischung aus Globalisierungsangst und Nationalismus. In der heutigen Welt, bei einem sich radikal wandelnden Modell der Elektroenergie, bekommen Batterien eine Schlüsselfunktion – für Elektroautos und -busse, aber auch für die Stromspeicherung zu Hause, in Fabriken, in Kraftwerken.

Eine wahrhaft ambitionierte Idee für eine polnische, auf Wissen und Innovation gründende Industriepolitik wäre eine Nationale Elektrobatterie – entwickelt von polnischen Wissenschaftlern (in internationalen Konsortien, anders als heute gearbeitet wird) und produziert von polnischen Firmen (selbst wenn ein Teil der Produktion im Ausland stattfände). Statt darauf zu zählen, dass die polnischen Autofahrer sich vom Kauf eines „E-Husaren“ (nicht einmal ein Namenswettbewerb hat bis jetzt stattgefunden) anstelle eines Tesla überzeugen lassen, könnte man dann Tesla-Modelle mit polnischen Batterien unter der Motorhaube importieren.

[1]          Mateusz Morawiecki, seit 2015 stellvertretender Ministerpräsident Polens, von 2015–2016 Minister für wirtschaftliche Entwicklung, seit 2016 Finanzminister sowie Vorsitzender des Wirtschaftskomitees des Ministerrats.

[2]          Entwicklungsplan für Elektromobilität – ein vom polnischen Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und vom Energieministerium erstellter Förderplan für die Entwicklung der nötigen Infrastruktur zum Ausbau der E-Mobilität. Es soll u.a. der Bau eines polnischen Elektroautos finanziert und die größten polnischen Bushersteller unterstützt werden, es soll Subventionen für den Kauf von E-Bussen geben und die Zahl der Elektroautos in Polen stark erhöht werden (bis auf 1 Million im Jahr 2025). Der Plan ist eines der wesentlichen Elemente bei der Realisierung des sog. Morawiecki-Plans, der Reindustrialisierung der polnischen Wirtschaft.

[3]          Die sog. Großen Vier – die vier größten Kapitalgruppen im Bereich der Energiegewinnung in Polen: PGE (Polska Grupa Energetyczna [Polnische Energiegruppe]), Tauron Polska Energia SA [Tauron Polska Energie AG], Grupa Kapitałowa Energa [Kapitalgruppe Energa] und ENEA, die im Rahmen eines Regierungsprogramms zur Konsolidierung des polnischen Energiemarktes gegründet wurden. Ziel des Programms war es u.a., Unternehmen mit großer Wirtschaftskraft zu schaffen, die die Investitionskosten würden tragen und den Energiemarkt in ein Gleichgewicht würden bringen können. Die Staatskasse ist Teilhaberin an allen vier Gruppen (PGE – 57,39%; Energa – 51,52%; Enea – 51,50%; Tauron – 30,06%); sie werden als Instrumente der staatlichen Energiepolitik genutzt. Man kann in Polen zwar von jedem beliebigen Anbieter elektrische Energie beziehen, dennoch ist das Land in Lieferregionen der Großen Vier unterteilt, von denen die Abnehmer ihren Strom bekommen, solange sie sich nicht aktiv für einen anderen Anbieter entscheiden.

[4]          „Polen in Ruinen“ – dieser Slogan wird den Vertretern der PiS zugeschrieben, die ihn während des Wahlkampfes 2015 formuliert haben sollen, um ihr kritisches Verhältnis zum Zustand der polnischen Infrastruktur nach 8 Jahren Regierung durch die sozialliberale Bürgerplattform (PO) zum Ausdruck zu bringen. Die PiS-Vertreter behaupten, eine solche Formulierung nie verwendet zu haben; vielmehr hätten sie lediglich einzelne Sektoren im Vorgehen des Staates unter der PO-Regierung kritisiert und sich für eine „Reindustrialisierung Polens“ ausgesprochen.

[5]          Ironische Bezugnahme auf den Begriff „national“, den die aktuelle Regierungspartei vielen von ihr postulierten Projekten und Reformen beifügt, z.B. „Nationale Medien“ (statt öffentlicher Medien), „Nationales Zentrum der Bürgergesellschaft“ usw.

[6]          Ironische Bezugnahme auf den PKW „FSO Polonez“, der vom 3. Mai 1978 bis zum 22. April 2002 von der Fabrik für Personenwagen in Warschau produziert wurde, sowie auf den in Polen allgemein bekannten Hersteller von Elektrofahrzeugen, die Firma Melex (gegründet bei der Flugzeugfabrik in Mielec), die seit 1971 erfolgreich v.a. Golfmobile produziert.

Il. Bartosz Mamak.

Übersetzt von Lisa Palmes.

Politics /

Was ist los bei der PiS-Regierung?

Tomasz Sawczuk · 31 May 2017

Gemäß der Problemdiagnose, die die PiS für die Dritte Polnische Republik erstellt hat, lässt sich diese Republik nicht einfach mittels pragmatischer institutioneller Veränderungen von Mängeln befreien. Jegliche Reformen werden blockiert, sofern sich herausstellt, dass die Ausführenden einem unerwünschten kulturellen Lager angehören. Der Erfolg des Regierungsprojekts hängt also davon ab, ob das bevorzugte Modell nationaler Identität verbreitet wird. Was dieses Projekt braucht, sind nicht hervorragende Institutionen, sondern loyale Vollstrecker.

Ein enger Mitarbeiter des polnischen Verteidigungsministers Antoni Macierewicz, Bartłomiej Misiewicz, wurde zum Austritt aus der Regierungspartei genötigt, nachdem er am siebten Jahrestag der Flugzeugkatastrophe von Smoleńsk eine hochbezahlte Stelle bei einer großen Rüstungsgesellschaft bekommen hatte. Dieses Ereignis warf die Frage auf, was die Konflikte innerhalb des Regierungslagers eigentlich zu bedeuten haben. Im genannten Fall lautete das Ziel, die Führungsambitionen des Verteidigungsministers zu dämpfen. Nach Ansicht einiger Publizisten, wie z.B. Michał Szułdrzyński von der „Rzeczpospolita“, sollte man die Reibereien innerhalb der Regierungspartei nicht ausschließlich im Sinne eines Machtkampfs zwischen den Fraktionen verstehen.

Das Problem hat Szułdrzyński zufolge einen grundsätzlicheren Charakter: Es handelt sich um einen tiefen ideologischen Konflikt zwischen Romantikern und Positivisten – Befürwortern einer moralischen Konterrevolution und einer Modernisierung – innerhalb der Regierung. Wie der Publizist erklärte, muss die Regierungspartei sich entscheiden: entweder eine antisystemische Ausrichtung oder Pragmatismus; entweder das Beharren auf schablonenhaften polnisch-katholischen Mustern von „Gott und Vaterland“ oder ein Loblied auf die Innovativität. Die PiS hätte indessen wohl gern das eine wie das andere.

Die „Veränderung zum Guten“ als existentielle Aufgabe

Szułdrzyński hat recht. Der innere Konflikt, mit dem die Regierung sich herumplagt, geht über ambitionengeleitetes Gerangel hinaus. Sollte jedoch in der Regierungspartei wirklich ein ideeller Konflikt zwischen Romantikern und Positivisten bestehen, dann ist er unlösbar. Eine tatsächliche Schwierigkeit stellt nämlich nicht die Entscheidung für eine Regierungsstrategie dar, sondern die Natur des PiS-Projekts selbst, das die Partei mit dem Namen „Veränderung zum Guten“ belegt hat.

Jarosław Kaczyńskis Partei hat viel Mühe darauf verwandt, zu beweisen, dass ihr grundsätzlichstes Bestreben darin liege, Polen seinen „Subjektcharakter“ – eine Art nationale „Eigenheit“ – zurückzugeben. Die PiS diagnostizierte, der Durchschnittspole habe sich bis dato in Polen nicht „bei sich zu Hause“ fühlen können. Aus kulturellen Gründen – sei doch die Kultur bislang von kosmopoliten und entwurzelten volksfeindlichen Eliten dominiert worden. Und aus ökonomischen Gründen – hätten sich doch jene Eliten nicht von polnischen Interessen leiten lassen, weswegen die Früchte der wirtschaftlichen Entwicklung nicht gerecht verteilt worden seien.

Zum obersten Ziel der PiS-Regierung wurde in dieser Situation eine Mission für eine nationale Identität, und bei dieser Mission greifen verschiedene symbolische und materielle Elemente ineinander. Gemäß der Problemdiagnose, die die PiS für die Dritte Polnische Republik erstellt hat, lässt sich diese Republik nicht einfach mittels pragmatischer institutioneller Veränderungen von Mängeln befreien. Jegliche Reformen werden blockiert, sofern sich herausstellt, dass die Ausführenden einem unerwünschten kulturellen Lager angehören. Der Erfolg des Regierungsprojekts hängt also davon ab, ob das bevorzugte Modell nationaler Identität verbreitet wird. Was dieses Projekt braucht, sind nicht hervorragende Institutionen, sondern loyale Vollstrecker.

Bartłomiej Misiewiczs Karriere ist so gesehen kein „Arbeitsunfall“, sondern die Quintessenz einer neuen Ordnung. Fragen der Modernisierung müssen funktional der Ideologie untergeordnet werden. Die materielle Modernisierung ist in dieser Vision kein eigenständiges Ziel, sondern – neben der symbolischen Politik – einer der beiden Typen von Instrumenten, mittels derer eine Identität entworfen werden soll.

Stellt man also die PiS vor das Dilemma, vor das Szułdrzyński sie stellt – ob die Legitimierung der Macht sich von jetzt an auf das Gefühl einer „polnischen Eigenheit“ oder auf wirtschaftliche Entwicklung stützen soll, auf die symbolische oder auf die materielle Sphäre –, dann hat die Partei keine Wahl. Mit anderen Worten: Die PiS muss in irgendeiner Form jener „Romantik“ treu bleiben. Das geht nicht ohne große Gesten. Sie muss sich verbrennen – und dabei auch ringsum etwas in Flammen setzen –, denn so ist sie gedacht.

Eine Chance auf Erfolg

Das praktische Problem besteht darin, dass der polnisch-katholische „Gott-und-Vaterland-Teil“ des PiS-Projektes allein keinen Wahlerfolg bringen kann; er muss in einem Paket mit Modernisierungserfolgen daherkommen – eine für die PiS äußerst unbequeme Wahrheit. Hätte Recht und Gerechtigkeit tatsächlich das Volk vom Diktat feindlicher Eliten „befreit“, würde das Volk ihr auf natürliche Weise folgen.

Die PiS muss also die Tatsache verbergen, dass sie in Wahrheit nicht das Volk repräsentiert, sondern jenes „Volk“ wie eine nutzbringende Fiktion behandelt – dass sie es politisch nach ihrem eigenen Abbild erschafft. Die PiS möchte die Regeln der Politik ihrer eigenen Identitätsmission unterordnen, doch das darf sie nicht tun, und sie darf sich auch nicht dazu bekennen. Die Machthaber müssen kompromisslos bleiben, diese Haltung artikuliert ihre Ideale und legitimiert ihre Mission; zugleich jedoch müssen sie flexibel werden, da das Wahlerfolge möglich macht.

Schlussendlich bleibt die Partei also kompromisslos, wenn es um die Form geht – und erweist sich beim Inhalt als vollkommen unentschlossen. Das Glaubensbekenntnis wird wichtiger als die Resultate der Mission, ja sogar als der Glaube selbst. Über die Fortführung des Projekts wird keine festgelegte Doktrin entscheiden, sondern jeweils aktuell erwünschte Seilschaften, wobei eine übergeordnete Autorität diesen gegenüber die endgültige Entscheidungsinstanz darstellen muss – Jarosław Kaczyński.

Die unerträgliche Schwere des Seins

Das Grundprinzip dieses Landsturms erweist sich somit als einfach und paradox: der Elite hinterhereifern. Die PiS bietet Veränderung in Form von hochgezogenen Mauern und einer kraftstrotzenderen Vision einer gemeinschaftlichen Identität – der Inhalt jener Identität aber lässt sich lediglich durch passive Beobachtung der regierungsseitigen Bewegungen bestimmen. Die Entscheidungen der Parteielite sind das einzige Kriterium für Erfolg und Misserfolg.

In dieser Lage kann von den Regierenden nichts anderes verlangt werden, als die Grenzen des Zugangs zur Gemeinschaft zu verteidigen, doch selbst diese Grenzen legt die Regierung taktisch selbst fest. Man kann nun also entweder selbst das Gefühl einer „polnischen Eigenheit“ entwickeln und alles liebgewinnen, was da kommt – oder man findet sich hinter der Mauer wieder. Die Wähler müssen sich mit allem einverstanden erklären, was die Partei vorschlägt. Das ist eine Herrschaft, die man nur unterstützen kann, sonst nichts.

Die Identitätsmission der Regierung verlangt somit eine hohe Dosis an Gehorsam und garantiert keinerlei Resultate. Dieses Projekt bricht immer wieder unter seinem eigenen Gewicht zusammen, muss aber jeden Zusammenbruch als Erfolg im Kampf mit seinen mächtigen und zahlreichen Gegnern präsentieren. Es ist ein Projekt, das sich radikal geben muss – und das zugleich verbergen muss, in welchem Maße es vom Zufall regiert wird.

Es ist ein schlicht unmögliches Projekt. Und von Mängeln befreien lässt es sich nicht.


Fot. Elekes Andor, Wikimedia Commons.

Übersetzt von Lisa Palmes.

Politics /

Das Bild der Moslems in polnischen Medien. Eine Analyse ausgewählter Beispiele

Łukasz Bertram, Adam Puchejda, Karolina Wigura · 31 May 2017

In den letzten Jahren werden Moslems in Polen immer häufiger Opfer von Gewalt.[1] Im Jahr 2016 betrafen 250 Gerichtsverfahren, mithin fast 30 Prozent aller rassistisch oder ausländerfeindlich motivierten Verfahren, Moslems oder Personen, die von den Tätern mit Bekennern des Islams gleichgesetzt wurden. Den Staatsanwaltschaften wurden insbesondere zahlreiche Internetpublikationen angezeigt, deren Verfasser Flüchtlinge als „Dreckschweine“ und „Krankheitsüberträger“ bezeichneten oder dazu aufriefen, „in Auschwitz die Öfen anzuheizen“.

Meinungsumfragen zufolge kommt die Mehrheit der Polen mit Moslems hauptsächlich durch die Medien in Berührung. Nach Angaben des Meinungsforschungsinstitutes CBOS hatten lediglich 12 Prozent der Befragten persönlichen Kontakt mit Bekennern des Islams oder Einwohnern der von den Umfrageteilnehmern für moslemisch gehaltenen Länder (vornehmlich arabische Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas). Dabei ist hervorzuheben, dass Araber zu denjenigen ethnischen Gruppen gehören, die von den Polen am wenigsten gemocht werden. Eine Abneigung gegen sie hegen 67 Prozent der Befragten, das sind 21 Prozentpunkte mehr als in der entsprechenden Untersuchung vier Jahre zuvor. Sympathie für Araber bekunden heute lediglich 8 Prozent der Befragten. Besonders bedeutsam im Zusammenhang mit den im vorliegenden Bericht dargestellten Schlussfolgerungen ist der hohe Prozentsatz derer, die eine Aufnahme von Flüchtlingen aus den arabischen Ländern ablehnen (57 %).

„Die Vorurteile, zumal gegen die moslemische Gemeinschaft, nehmen zu. Im Schnitt alle drei, vier Tage kommt es in unserem Land zu Gewaltakten“, eröffnete der Bürgerrechtsbeauftragte Adam Bodnar ein Treffen mit Vertretern der moslemischen Gemeinschaft in Polen am 21. Juni 2016.[2] Der vorliegende Bericht, den die Arbeitsgruppe des „Kultura Liberalna“-Observatoriums der Öffentlichen Debatte im Auftrag des Büros des Bürgerrechtsbeauftragten erstellt hat, ist auch Bestandteil der Diskussion über die Phänomene des Brandmarkens, Stigmatisierens und Diskriminierens von Vertretern der moslemischen Gemeinschaft in Polen. Die Untersuchungen hatten zum Ziel, das sprachliche Bild der Vertreter dieser Gemeinschaft zu rekonstruieren. Unsere Ausgangshypothese lautete dabei, dass dieses Bild wesentlich beeinflusst wird von Vorstellungen zur moslemischen Gemeinschaft in anderen europäischen Ländern sowie zu Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und Afrika, wie sie sowohl in polnischen als auch ausländischen Medien vorkommen und im Zusammenhang stehen mit der sog. Flüchtlingskrise, die ihren Höhepunkt in den Jahren 2015 und 2016 erreichte.

Die Dauerbeobachtung sieben ausgewählter Presseorgane (Tageszeitungen „Fakt“, „Gazeta Wyborcza“, „Rzeczpospolita“; Wochenzeitungen „Do Rzeczy“, „Newsweek“, „Polityka“, „wSieci“) und von vier Internetportalen (NaTemat.pl, „Dziennik Opinii“, Niezalezna.pl, Fronda.pl) von September 2015 bis September 2016 erfolgte unter dem Gesichtspunkt, dass wir negative Beispiele der Benennung von Moslems und ihrer Gemeinschaft aufzeigen und analysieren wollten. Wir berücksichtigten auch den Kontext, in dem die moslemische Gemeinschaft insgesamt Erwähnung fand, selbst wenn die verwendeten Wörter keinen negativen oder stigmatisierenden Charakter besaßen.

Untersuchungsergebnisse

In den von uns untersuchten Medien wurde die Figur des Moslems in sehr hohem Grade gleichgesetzt mit der Figur des in die Europäische Union einreisenden Flüchtlings. Dementsprechend wurden Ausdrücke, die nicht synonym sind, gleichbedeutend verwendet. Dabei handelt es sich vor allem um folgende Bezeichnungen: Moslems, Araber, Migranten, Flüchtlinge. Feststellbar war auch ein deutliches Zusammentreffen obiger Begriffe und der Ausdrücke: Terrorismus, Terrorist, Islamist, Fundamentalist usf. Dies geschah häufig ohne gebührende Berücksichtigung des situativen Kontextes und der ethnischen oder religiösen Zusammensetzung von Immigranten- oder Flüchtlingsgruppen. Das derart verwischte Bild der Moslems wurde in vielen Fällen zu einem – in rhetorischer Hinsicht – griffigen Werkzeug in Auseinandersetzungen über völlig andere Fragen, z. B. die Entscheidungsmechanismen der EU (betreffend sog. Aufnahmequoten von Flüchtlingen), das u. a. dazu diente, Leser- oder Wählerschaften zu mobilisieren.

Dieses Phänomen bezeichnen wir als Paketdenken. Dieses beruht darauf, dass, wie Tadeusz Ciecierski schreibt, „Ideen, konkrete Anschauungen, Personen, Institutionen usf. der öffentlichen Sphäre summarisch gedacht werden, ausgehend von der irrigen Annahme, es existiere irgendeine objektive und sachliche Grundlage, Dinge miteinander zu verbinden, die in Wirklichkeit wenig miteinander gemein haben.“[3]

Dieses Denken hat im Falle der Flüchtlingskrise zur Folge, dass Teilnehmer der öffentlichen Diskussion sich vorgefertigter Wortfolgen, Argumentationsmuster und Bildwelten bedienen, in denen verschiedene Elemente sich miteinander verknüpfen und gegenseitige Assoziationen hervorrufen, obwohl keine oder kaum eine Verbindung zwischen ihnen besteht. Diese nennen wir Pakete.

Unsere Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass es ein markantes Paket gibt, und zwar die negative Vorstellung von Moslems als unkontrolliert nach Europa strömende Flüchtlinge oder als bereits in Europa lebende, sich terroristisch radikalisierende Immigranten. Weitere Assoziationen in diesem Paket sind Vorstellungen einer alles überflutenden Welle oder gar eines Einfalls, einer Islamisierung,  eines Zusammenpralls der Zivilisationen. Dieses Paket enthält ebenfalls das Bild eines von der schädlichen Ideologie der Multikulturalität verblendeten, sich selbst umbringenden usw. Europas.

Die Hauptbestandteile dieses Pakets können als Charakteristika für die Unterkapitel in der detaillierten Ergebnisdarstellung dienen. Und zwar:

(1) die Metapher der Welle, der Invasion oder des Einfalls von Flüchtlingen und Immigranten aus mehrheitlich moslemischen Ländern, und die damit verbundene Metapher eines hybriden Krieges oder eines Krieges mit anderen Mitteln: dem Terrorismus oder einem „sexuellen“ und „sozialen“ Dschihad;

(2) die Metapher der sog. Ideologie der Multikulturalität, die für die Beschreibung der gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Lage in vielen europäische Ländern wichtig sein und eine Bedrohung für die Souveränitat Polens, christliche Werte und polnische Kulturtraditionen darstellen soll;

(3) die Metapher der „Brutstätten des Dschihad“, d. h. von Immigranten bewohnter Stadtteile, aus denen sich künftige Terroristen rekrutieren;

(4) die Metapher des Zusammenpralls der westlichen Zivilisation mit der Zivilisation des Islams, mit der Flüchtlingskrise 2015-2016 als kritischem Punkt;

(5) die Metapher vom Selbstmord der Eliten oder gar Selbstmord eines Europas, das den oben genannten Bedrohungen nicht die Stirn zu bieten vermag.

Für diese Kurzfassung haben wir uns darauf beschränkt, nur zwei von ihnen darzustellen: die Metaphern der Invasion und der Ideologie der Multikulturalität. Der gesamte Bericht (in polnischer Sprache) ist abrufbar unter:

In den von uns untersuchten Materialien kam das Paket des „positiven Denkens über die Moslems“ kaum vor. Während jedoch die Anhänger des Paketes des „negativen Denkens über die Moslems“ ihre Ansichten begründeten, indem sie sich auf Kategorien wie die Souveränität Polens oder die christlichen Werte beriefen, griffen ihre Kritiker auf einen allgemeineren Katalog europäischer Werte zurück, zu denen sie Toleranz, Menschenrechte, Gleichheit vor dem Gesetz usf. zählten.

Das „negative Paket des Denkens über die Moslems“ herrschte in denjenigen von uns untersuchten Medien vor, die weltanschaulich rechtskonservativ ausgerichtet sind. Einige seiner Bestandteile fanden sich allerdings auch bei linksliberalen Medien wieder. Im Bericht machen wir darauf aufmerksam, dass letztere häufig die Metapher der Flüchtlingswelle oder gar eines -tsunamis verwenden. Zwar besitzen die Ausdrücke „Zustrom“ und „Welle“ sowohl positive als auch negative Kollokationen[4], doch können sie die Flüchtlinge mit einer Überschwemmung, einem ungebändigten Element oder einer Naturkatastrophe assoziieren. In den genannten Medien kam auch die Bezeichnung Dschihadistenbrutstätte vor, die tierische Assoziationen hervorruft und die Ankömmlinge entmenschlicht.

Entscheidend für die Charakterisierung beider Denkweisen war, wo der Gegner des jeweiligen Wertekanons ausgemacht wurde. Das „negative Paket des Denkens über die Moslems“ geht einher mit der Überzeugung, dieser Gegner seien, erstens, ein agressiver Islam und, zweitens, die europäischen Eliten, die versuchen, Polen ihrem Diktat zu unterwerfen. Kritiker dieses Paketes wiederum sehen als Hauptgegner die rechtskonservativen Eliten, die sie gelegentlich mit beleidigenden oder starken Ausdrücken bezeichnen, z. B. als Nazipack (naziolstwo), oder bezichtigen, die Wirklichkeit mit brauner Soße zu übergießen usw.

In der Debatte über die Moslems ließ sich der Mechanismus der Hyperbolisierung beobachten, der darin besteht, dass im Fortgang des Streits neutrale Begriffe durch immer stärker negativ gefärbte ersetzt werden. So verhält es sich beispielsweise mit Bezeichnungen der Flüchtlingskrise, die als Zustrom, Welle, Überschwemmung, Tsunami, Anschlag, Einfall, Invasion, Krieg usw. beschrieben wird. Dies hat Kosequenzen dergestalt, dass Wörter „mitgerissen“ werden, da anfangs neutrale Begriffe, wie Zustrom, letzten Endes mit radikaleren Begriffen gleichgesetzt werden, z. B. Welle, Tsunami usf. Letztlich erschwert dies einen ausgewogenen Diskurs über Moslems erheblich.

1. Die Metapher der Welle, der Invasion, des Krieges

Beispiel:

Titelblatt der Wochenzeitung „Do Rzeczy“ [2015, Nr. 38]: Das Bild einer Menschenmenge, versehen mit der Ankündigung eines Artikels von Rafał Ziemkiewicz mit dem Titel in Großbuchstaben „Das sind Angreifer, keine Flüchtlinge“.

Beispiel:

Titelblatt der Wochenzeitung „wSieci“ [2015, Nr. 37]: Moslems stützen sich auf einen polnischen Grenzbaum, wobei ihre Haltung an eine symbolische Aufnahme aus dem September 1939 denken lässt, die Wehrmachtsoldaten beim Durchbrechen der polnischen Grenze zeigt, online: www.wsieci.pl/numer-37-pmagazine-203.html, Abrufdatum: 20. Dezember 2016.

In den rechtskonservativen Medien waren die Grundkategorien zur Beschreibung der nach Europa kommenden Flüchtlinge Invasion, Eroberung, Einfall, Eindringen usf. Es war auch die Rede von einer Armee (ebenso von einer Horde und Wilden). Charakteristischerweise wurde de facto auch die Gesamtheit der Moslems mit Angreifern gleichgesetzt.

Um den Zustand, in dem sich Europa derzeit befindet, zu beschreiben, wurde der Begriff Krieg verwendet. Dazu wurden auch historische Analogien hergestellt, nicht nur zum Marsch der Roten Armee nach Westen im Jahr 1920, sondern auch zu den Türkenkriegen im 17. Jh.

In diesem Krieg kommen angeblich drei Arten von Waffen zum Einsatz.

1.1. Terrorismus

Beispiel:

Die Syrer sind ein Volk von Anhängern des Terrorismus. Dies ist nicht erst seit gestern so, wegen des Arabischen Frühlings oder des Irakkrieges. Die Syrer sind nicht Opfer der amerikanischen Außenpolitik, des bewaffneten Islams oder anderer beliebter Ausreden. Sie haben den islamischen Terrorismus unterstützt. Millionen von ihnen unterstützen ihn nach wie vor. Sie sind nicht Juden auf der Flucht vor dem Holocaust der Nazis. Sie sind Nazis, die aus dem bombardierten Berlin zu fliehen versuchen.“

[Syryjscy muzułmanie popierają terroryzm (Syrische Moslems unterstützen den Terrorismus), Fronda.pl, 16. Dezember 2015, online: www.fronda.pl/a/syryjscy-muzulmanie-popieraja-terroryzm,62338.html, Abrufdatum: 28. Dezember 2016].

In den gesammelten Texten ist eine Tendenz erkennbar, alle Personen arabischer Herkunft oder Bekenner des Islams gleichzusetzen mit Terroristen, deren Anhängern oder möglichen Rekruten terroristischer Gruppen. Derlei Formulierungen überwogen gegenüber distanzierteren Feststellungen, etwa wenn darauf hingewiesen wurde, dass die riesige Zahl der während der Migrationskrise in die Länder Europas gelangenden Menschen eine Gelegenheit für islamistische Organisationen biete, ihre Mitglieder unter Ausnutzung der verringerten Kontrollmöglichkeiten unter die Flüchtlingsgruppen zu mischen und nach Europa zu entsenden; oder wenn die Befürchtung geäußert wurde, bei den bereits auf dem Kontinent befindlichen Moslems könne es zu wachsender Frustration und Radikalisierung kommen angesichts der Schwierigkeiten, eine so große Zahl neuer Einwohner zu assimilieren.

1.2. „Sexueller Dschihad“

Beispiel:

„Wenn wir die Sache nicht selbst in die Hand (und nicht nur diese) nehmen, werden die Moslems uns besiegen. Und das keineswegs mithilfe des Terrorismus, sondern der Gebärmütter ihrer Frauen“.

[Tomasz Terlikowski, Terlikowski: Papież niezwykle mocno o tym, że Europejczycy sami proszą się o śmierć (Terlikowski: Der Papst findet außergewöhnlich starke Worte dafür, dass die Europäer ihren Tod selbst heraufbeschwören), Fronda.pl, 15. September 2015, online: www.fronda.pl/a/terlikowski-papiez-niezwykle-mocno-o-tym-ze-europejczycy-sami-prosza-sie-o-smierc,56948.html, Abrufdatum: 21. Dezember 2016].

Zur Menge der Beschreibungen, die am häufigsten für Flüchtlinge/Moslems benutzt werden, gehören solche, die mit ihrer Sexualität zusammenhängen. In dieser Erzählweise sind männliche Anhänger des Islams Vergewaltiger, die nicht nur Verbrechen an Frauen begehen, sondern dies gemäß den Regeln ihres Glaubens tun. Mehr noch, es geht hier nicht nur um das Unrecht, das ein Individuum dem anderen antut. Erzwungener Sex wird als Waffe angesehen: als Zeugnis der Herrschaft und der Vegrößerung des Besitzstandes der eigenen Gruppe. Die Sexualität der moslemischen Frauen wiederum wird vor allem mit deren Fruchtbarkeit verknüpft: dem Instrument zur Erlangung eines demografischen Übergewichts.

1.3. „Sozialer Dschihad“

Beispiel:

[Titel] „Der soziale Dschihad kommt auf uns zu. Großer Ansturm auf Sozialhilfe“

[Grzegorz Wierzchołowski, Czeka nas socjalny dżihad. Wielki marsz po zasiłki (Der soziale Dschihad kommt auf uns zu. Großer Ansturm auf Sozialhilfe), Niezalezna.pl, gemäß: „Gazeta Polska“, 17. September 2015, online: niezalezna.pl/71015-czeka-nas-socjalny-dzihad-wielki-marsz-po-zasilki, Abrufdatum: 30. Dezember 2016].

Während der besonders gesteigerten Flüchtlingskrise (im Spätsommer und Frühherbst 2015) erschienen in den analysierten Medien Artikel, in denen ein Bild der Moslems/Migranten gezeichnet wurde, deren Reise nach Europa hochgradig motiviert sei durch das Streben nach dem Recht auf Sozialhilfe (vor allem in Deutschland). Dabei präsentierten einige Medien Berechnungen, in denen die Lage von Flüchtlingen, die Hilfe erhalten würden, verglichen wurde mit der Lage z. B. polnischer Arbeitsloser.

2. Die Metapher der sog. Ideologie der Multikulturalität

Beispiel:

„Wir nehmen auf unserem Boden Moslems auf, deren heutige Religiosität oft fanatisches Ausmaß annimmt, und ein großer Teil von ihnen macht, geleitet von seiner Tradition, gar keinen Hehl daraus, dass er sich nicht zu assimilieren gedenkt. Wir selbst aber sagen uns von unserer christlichen Abkunft los und tadeln diejenigen, die es wagen, sich auf sie zu berufen. Wir glauben an die multikulturelle Utopie, in der die Vertreter verschiedener Kulturen und Religionen symbiotisch miteinander existieren sollen. Die eigene Identität hingegen, deren unbestreitbarer Ursprung das Christentum ist, stellen wir beim Zusammenprall mit anderen Kulturen infrage, indem wir uns automatisch in eine ungleiche, schwächere Position begeben.“

[Marta Kaczyńska, Nasze bezpieczeństwo (Unsere Sicherheit), „wSieci” 2015, Nr. 47, S. 13].

Multikulturalität wird im Pressediskurs nicht präzise definiert, sie ist lediglich ein Schlagwort oder Slogan, ein Sammelbegriff zur Beschreibung einer Reihe von Phänomenen, die aus Sicht der Publizisten negativ sind. Dazu zählen u. a. terroristische Anschläge, wirkungslose oder misslungene Integrationspolitik, die Entstehung teilweise geschlossener, unsicherer Bezirke in Großstädten, tatsächliche oder imaginierte Abneigung gegenüber Christen und dem Christentum, der angebliche Verfall des Nationalstaates und nationaler Identitäten, die Schwächung der sog. traditionellen Familie und der christlichen Moral sowie die zunehmende Sichtbarkeit der moslemischen Religion. In diesem Diskurs wird Multikulturalität weniger zu einem Namen für ein konkretes Gesellschaftsmodell, z. B. des britischen, als vielmehr zu einem Synonym für den von konservativen Publizisten geweissagten „Untergang der westlichen Kultur“.

Polnische Autoren, die die sog. Multikulti-Ideologie in ihren Texten kritisieren, unterscheiden für gewöhnlich nicht zwischen unterschiedlichen Modellen zur Integration von Immigranten in verschiedenen Gesellschaften, z. B. in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien. Dies liegt daran, dass ihre Polemik nicht den konkreten, in diesen Ländern eingeführten Lösungen gilt, sondern einem ideologischen Konzept, welches in ihren Augen mit der Linken und dem Liberalismus zusammenhängt. Daher sind rhetorische Angriffe gegen das Multikulti nicht ohne Grund ausschließlich in Veröffentlichungen solcher Autoren zu finden, die im weitesten Sinne dem Konservatismus zuzurechnen sind. Die im Diskurs über moslemische Flüchtlinge und Immigranten geübte Kritik an der Multikulturalität wird in ihnen zu einer Verteidigung des Konservatismus und der sog. traditionellen Werte.

[1]                 Landesstaatsanwaltschaft, Abteilung Ermittlungsverfahren, Auszug aus dem Bericht über Verfahren wegen Straftaten mit rassistischen, antisemitischen oder ausländerfeindlichen Motiven im 1. Halbjahr 2016, online (polnisch): pk.gov.pl/sprawozdania-i-statystyki/wyciag-ze-sprawozdania-dotyczacego-spraw-o-przestepstwa-z-nienawisci-i-2016.html#.WFJlRpIq5aU, Abrufdatum: 14. Dezember 2016.

[2]                Über die Lage der polnischen Moslems und der Moslems in der Republik Polen bei einem Treffen mit Adam Bodnar im Büro des Bürgerrechtsbeauftragten, online (polnisch): www.rpo.gov.pl/pl/content/o-sytuacji-polskich-muzulmanow-i-muzulmanow-w-rzeczypospolitej-na-spotkaniu-adama-bodnara, Abrufdatum: 3. Januar 2017.

[3]               Tadeusz Ciecierski, O myśleniu wiązkami [Über das Denken in Bündeln], „Kultura Liberalna“ Nr. 107, 18. Januar 2011, online: kulturaliberalna.pl/2011/01/18/ciecierski-wnuk-lipinski-miller-janke-iszkowski-wiazki-pakiety-polska-polityka/#1, Abrufdatum: 12. Januar 2017.

[4]               Vgl. Piotr Żmigrodzki u. a., Wielki Słownik Języka Polskiego [Großes Wörterbuch der polnischen Sprache], online: www.wsjp.pl, Abrufdatum: 12. Januar 2017.

Übersetzt von Hans Gregor Njemz.

Politics /

Die Auslöschung des Rechtsstaats

Łukasz Pawłowski im Gespräch mit Prof. Ewa Łętowska · 31 May 2017

„Das PiS-Schlagwort von der Demokratisierung der polnischen Gerichte ist griffig und zugleich irreführend. Kein Gericht ist jemals demokratisch. Gerichte sollen weise und gerecht sein“, argumentiert Ewa Łętowska, Professorin der Rechtswissenschaften, erste Bürgerrechtsbeauftragte Polens (1988–1992), ehemalige Richterin am Oberverwaltungsgericht und am Verfassungsgericht. Łętowska spricht über die rechtlichen Aspekte der polnischen PiS-Regierung. Sie wirft der Partei vor, die jungen und damit erst wenig etablierten polnischen rechtsstaatlichen Institutionen zu zerstören, sich einer populistischen Rhetorik zu bedienen und die Grundfesten der liberalen Demokratie zu untergraben.

Łukasz Pawłowski: Wie lassen sich die von der PiS eingeführten Änderungen im Rechtssystem beschreiben?

Ewa Łętowska: Eines der charakteristischen Merkmale des Prozesses, in dem wir seit über einem Jahr stecken – die Auslöschung des Rechtsstaats –, ist die Aufgabe der offenen Gesellschaft und damit der Verfassungsgrundlage. Die Verfassung enthält an vielen Stellen die Begriffe „einzelne Person“, „jeder“, „niemand“. Das ist eine äußerst charakteristische Bezugnahme auf eine offene Gesellschaft, die nicht nach dem Status eines Menschen unterscheidet – ob er Staatsbürger ist oder nicht.

Eine offene Gesellschaft ist per definitionem inklusiv. Sie wählt absichtlich einen großen „gemeinsamen Nenner“, damit alle „Verschiedenen“ Platz finden. Die Verfassung mit all ihren Freiheiten und Rechten ist für alle Menschen gedacht. Doch die ganze Idee des derzeitigen Establishments, also der Regierungspartei, besteht darin, die Gesellschaft zu spalten. Eine kleinere, geschlossenere, ethnisch einheitliche Gruppe zu schaffen. Wirft man die „faulen Äpfel“ weg, behält man nur die besten. Und der Rest? Soll sich der Mehrheit anpassen. Für die Verworfenen, die Ausgesonderten gilt nicht dasselbe wie für die wahren Polen.[1]

Das ist eine grundlegende Eigenschaft populistischer Parteien wie der PiS: Sie stellen dem „wahren“ Volk dekadente „Eliten“ und fremdbestimmte „Agenten“ gegenüber. Darüber, wer zu welcher Gruppe gehört, entscheiden natürlich die Parteiführer. Zeigt diese Rhetorik schon konkrete Konsequenzen?  

Natürlich. Wenn in der Verfassung ein Rechtssystem eingeschrieben ist, das verschiedenste Menschen mit einschließen soll, dann ergeben sich daraus bestimmte Richtlinien, wie dieses System zu konstruieren ist und wie zum Beispiel Minderheitenrechte garantiert werden können. Die derzeitige Regierung entfernt sich von dieser Philosophie.

Nehmen wir beispielsweise das Verhältnis zu Ausländern. Heutzutage werden Hilfszentren für Ausländer geschlossen. Gestrichen werden auch finanzielle Zuschüsse für NGOs, die Hilfsleistungen für manche Bedürftige anbieten. So war es u.a. bei Frauenrechtsorganisationen, die sich um Opfer häuslicher Gewalt kümmerten.

Doch es geht hierbei nicht nur um konkrete Vorschriften, sondern auch um eine entsprechende Unterfütterung für dieses System. Die Strategie besteht darin, Gruppen auszugrenzen, die der Regierung auf irgendeine Weise unbequem sind. Das ist ein grundlegender Wandel in der Rechtsauffassung – eine Veränderung der Koordinaten.

Weitere Reformen stehen jedoch unter dem Schlagwort der Öffnung und der Annäherung an den Bürger. Nicht anders ist es mit der derzeit geplanten Reform des Landesrates für Gerichtswesen[2].

Beginnen wir bei den Grundlagen. Richter werden können in Polen zur Zeit nur Juristen mit einer Reihe von Voraussetzungen: Sie müssen u.a. mindestens 29 Jahre alt sein, ein Jurastudium sowie ein Richterreferendariat an der Juristischen und Staatsanwaltlichen Landesschule absolviert und eine Empfehlung des Landesrates für Gerichtswesen erhalten haben. Endgültig in sein Amt berufen wird ein Richter durch den Präsidenten. Auf welcher Grundlage trifft der KRS diese Wahl? Der Hauptvorwurf der PiS gegen das derzeitige System lautet, diese Wahlen seien auf eine bestimmte „Clique“ beschränkt.

Der Vorwurf, die Gerichte seien zu wenig demokratisch, wird seit Jahren erhoben. Das ist das Los der Richter.

Warum?

Einer berühmten Anekdote zufolge wickelte Stańczyk[3] sich eines Tages ein Tuch um den Kopf und ging auf den Krakauer Markt, wo er so tat, als litte er an Zahnschmerzen. Alle wollten ihn heilen, jeder riet ihm etwas anderes. Doch Medizin ist Wissen, und genauso ist es mit dem Recht, man muss es „mit Verstand zu lesen wissen“. Die Menschen können sich einbilden, das wäre leicht. Schließlich sagte schon Lenin, selbst eine Köchin könne ein Land regieren. Gemäß einer solchen Denkweise kann jeder Richter werden. Tatsächlich gibt es Systeme, bei denen in Gerichtsverfahren eine Geschworenenbank zu Wort kommt, auf der gewöhnliche Leute sitzen. Doch man muss bedenken, worüber eine solche Bank urteilt.

Über Schuld oder Unschuld.

Und den ganzen Rest erledigen der Richter und speziell ausgebildete Juristen. Volksvertreter werden also nur bei einem bestimmten Teil der Verhandlung hinzugezogen. Demokratisierung darf nicht darin bestehen, dass eine Person, die keine Ahnung vom Rechtssystem hat, über alle Arten von Fällen urteilen soll. Recht ist Wissen, es stimmt nicht immer mit einem dem „gesunden Menschenverstand“ entspringenden Gerechtigkeitsempfinden überein.

Kürzlich kam ein ausgezeichneter Film in die Kinos, „Verleugnung“. Darin geht es um einen Prozess des bekannten Holocaustleugners David Irving gegen eine amerikanische Historikerin jüdischer Herkunft, Deborah Lipstadt[4]. Er hatte sie wegen Verleumdung angeklagt, weil sie gesagt hatte, dass seine Leugnung des Holocaust und der Gaskammern auf einer Lüge basiere. Der Prozess wurde in England geführt, und die Amerikanerin konnte nicht begreifen, was im Gerichtssaal geschah. Die Juristen, die sie vertraten, versuchten um jeden Preis die Aussage echter Augenzeugen des Holocausts, die den Krieg überlebt hatten, zu verhindern.

Warum denn?

Weil sie aufgewühlt von den schrecklichen Dingen erzählt hätten, die sie erlebt haben, und sicher alles durcheinandergebracht hätten: Entfernungen, Tage, Daten, Menschen. Damit hätten sie die ganze Sache zu Fall gebracht. Zu einem gerechten Urteil kommt das Gericht ein wenig anders – infolge verschiedener Vorschriften – als der Durchschnittsbürger vielleicht denkt. Dieser Film zeigt die Zerrissenheit des Gerichts sehr gut: auf der einen Seite den Zwang einer vorschriftsmäßigen Beweisführung, und auf der anderen das moralische Dilemma, das oftmals damit einhergeht. Ob es uns nun gefällt oder nicht: Will man ein Urteil sprechen, muss man wissen, wie das geht.

Die Idee der Regierungspartei besteht darin, die Gesellschaft zu spalten. Eine kleinere, geschlossenere, ethnisch einheitliche Gruppe zu schaffen. Wirft man die »faulen Äpfel« weg, behält man nur die besten. Und der Rest? Soll sich anpassen.

Ewa Łętowska

Ich will damit nicht sagen, dass unsere Gerichte gut sind. Aber es ist nicht so, wie die populistische Propaganda sagt, dass man jeden X-Beliebigen als Richter einsetzen könnte und er dann seiner Pflicht hervorragend nachkäme.

Die PiS will aber nicht Richter aus dem gemeinen Volk auslosen, sondern behauptet, innerhalb der Richterschaft selbst sei die Wahl der Richter nicht sauber vonstatten gegangen.

Und wie will sie diesen Stand der Dinge ändern? Richterkandidaten sollen vom KRS vorgeschlagen werden, aber wer von den Richtern in den KRS kommt, das soll in der Praxis der Parlamentspräsident bestimmen. Die ganze neue Struktur des KRS soll dem Parteiestablishment den entscheidenden Einfluss auf die Justizpersonalien garantieren.

Die PiS-Politiker berufen sich auf ein besonderes Demokratieverständnis. Sie sagen, ein Abgeordneter hat ein gesellschaftliches Mandat –  er ist schließlich gewählt worden.

Und deswegen kann er bessere Richter benennen? Die Abgeordneten wählen Richter nicht wegen ihres Wissens, sondern so, wie sie die Richter des Verfassungsgerichts wählen wollten: Sie stimmen für „ihre“ Leute.

Und wir sollten daran denken, dass in den KRS weiterhin Richter gewählt werden, also Vertreter der, wie Sie gesagt haben, „undemokratischen Kaste“. Meinen Sie, dass es bei unseren Verhältnissen eine gute Lösung ist, Politikern solche Macht zu geben, und dass Parlamentspräsident Kuchciński eine bessere Wahl trifft als die Richterkollegien? Im letzteren Falle ist es eine Gruppe, die wählt – das ist wohl demokratischer als die Wahl durch einen einzigen Parlamentspräsidenten. Noch dazu, wenn dieser einer Gruppierung angehört, die in Parlament und Senat absolut überwiegt.

Und damit nicht genug. Nach den Plänen der Regierung soll der KRS in zwei Kammern zerschlagen werden. Eine soll vom politischen Element dominiert werden, angehören werden ihr u.a. der Justizminister, vier Abgeordnete und zwei Senatoren. Der anderen sollen 15 von Politikern ernannte Richter angehören. Derzeit gibt es keine Trennung in Kammern; nach der Reform wird dann jedwede Entscheidung eine Einigung beider Kammern erfordern, die sich gegenseitig in Schach halten werden. Ist das etwa eine demokratische Lösung?

Das sagt jedenfalls die Regierung.

Wenn Sie wollen, kann ich diesen populistischen Argumenten etwas entgegensetzen. Das hat jedoch meiner Ansicht nach wenig Sinn, übernehmen wir doch dann die Narration, die uns politische Manipulanten aufzwingen wollen.

Wenn man den Gerichten als solchen ein demokratisches Defizit vorwirft, weil sie nicht in allgemeiner Wahl gewählt werden, dann stimme ich dem zu. Das ist ja das Schöne an den Gerichten. Warum also wollen wir dagegen vorgehen? Viel klüger wäre es, dafür zu sorgen, dass die Gerichte in merito besser werden. Doch ein Wahlsystem, wie es die Regierung vorschlägt, hilft da nicht. Das Problem der Justiz ist vor allem Können, Sensibilität und Mut, und dort müsste man mit der Verbesserung ansetzen.

Auf der Webseite des Justizministeriums kann man eine ganz Liste von Ländern finden, in denen Richter von Politikern ausgewählt werden: Österreich, Deutschland, Dänemark.

Das stimmt, aber diese Länder sind über Jahrzehnte zu dem Wahlsystem gelangt. Bei uns findet das System gerade erst seine Stabilität. Und kaum sind wir zu einem bestimmten Wahlsystem gelangt, verwerfen wir es unter dem Vorwand der Demokratisierung wieder. Hätten wir in Polen solche Politiker und politischen Standards wie in den drei von Ihnen genannten Ländern – dann würde ich mich nicht so beharrlich dagegen sperren.

Aber die Regierung behauptet…

Ich bitte Sie, dass die Regierung etwas sagt, ist für mich kein Argument. Diese Rhetorik dient genau dazu, dass Sie darauf eingehen. Das Schlagwort von der Demokratisierung der polnischen Gerichte ist griffig und zugleich irreführend. Kein Gericht ist jemals demokratisch. Das können und sollen Gerichte auch nicht sein. Sie sollen weise und gerecht sein. All das Gerede von der Demokratisierung lenkt die Diskussion in falsche Bahnen. Das ist ein Deckmantel, in den man  diese Reform hüllt, um ihre wahre Ziele zu verbergen. Angewandte Schampädagogik[5].

Das heißt?

Die Spezialität des Demiurgen (dieses Demiurgen!) ist, die Führung zu übernehmen, indem er Konflikte entfacht[6]. So auch in diesem Fall. Man führt eine Kampagne durch, um die Autorität der Richter zu erschüttern: Man zieht Fälle heran – oft jahrealte –, in denen kontroverse Urteile ergangen sind, man bezichtigt einzelne Richter größerer und kleinerer Delikte. Dazu kommt dann die in Polen auch im Milieu der Richter weit verbreitete Haltung, um jeden Preis die eigenen Leute zu decken und nichts Schlechtes über sie zu sagen, selbst dann, wenn das Milieu Kritik verdient hat. Wenn dann eine ganze PR-Strategie auf diese schlechten Gepflogenheiten zugeschnitten wird, entsteht ein populistisch herangezüchteter Konflikt zwischen Gerichten und Öffentlichkeit.

Ein Gericht kann nicht gut funktionieren, wenn es sich selbst nicht achtet und keine Achtung hervorruft. Ein gutes Beispiel ist das Verfassungsgericht.[7] Ihm ist nicht mehr zu helfen, es ist seiner Würde beraubt, wurde es doch in eine Kneipenschlägerei unter fremder Flagge verwickelt. Dasselbe kann die anderen Gerichte betreffen.

Ein Gericht kann nicht gut funktionieren, wenn es sich selbst nicht achtet und keine Achtung hervorruft. Ein gutes Beispiel ist das Verfassungsgericht. Ihm ist nicht mehr zu helfen, es ist seiner Würde beraubt, wurde es doch in eine Kneipenschlägerei verwickelt.

Ewa Łętowska

Nicht ohne Grund war eine der ersten Entscheidungen nach den Parlamentswahlen die Übernahme der öffentlichen Medien[8]. Das ist ein Informationskanal, mit dem die Weltanschauung von Millionen Polen geformt werden soll. Heute tischt man in den öffentlichen Sendern den Menschen Geschichten auf, die das Vertrauen in die Gerichte erschüttern sollen, etwa Schicksale von Kindern, die ihren Eltern angeblich wegen deren Armut weggenommen wurden. Dabei gab es keinen einzigen der angeführten Fälle wirklich …

Bewegende Geschichten…

Aber sie sind unwahr. Solche Entscheidungen werden nicht wegen der Armut von Familien an sich getroffen, sondern wenn die Familie als solche versagt.

Wohin soll der Konflikt mit den Gerichten letzten Endes führen?

Sofern die Gerichte verfassungsgemäß eine der drei Gewalten darstellen – neben der Legislativen und der Exekutiven –, haben sie naturgemäß die Herrschaft über das Recht. Da nun Rechtsvorschriften nicht genau zu jeder Situation passen können, muss der Richter Rechte abwägen, nach einem Präzedenzfall suchen, überlegen, ob eine bestimmte Lösung zu der gegebenen Situation passt, usw. Diese Macht ergibt sich daraus, dass der Richter das Gesetz interpretiert. Das muss so sein, weil sich kein Rechtssystem herstellen lässt, das ohne Interpretation auskommt.

Betritt aber ein solcher Demiurg die Bühne und verkündet, dass der Staat nach seinem Willen geformt werden soll, so muss er die Macht der anderen Subjekte beschneiden, auch die der Richter.

Und was geschieht dann?

Die Gerichte, die sich schließlich auch nur aus Polen, Menschen aus Fleisch und Blut, zusammensetzen, schotten sich ab. Die Herde rückt zusammen, versucht entweder sich unsichtbar zu machen oder nicht im Wege zu stehen. Es kommt zu Einstellungen, die bei Richtern niemals entstehen sollten: Opportunismus und Vermeidungstaktik.

Professor Małgorzata Gersdorf, Präsidentin am Obersten Gerichtshof, hat zum Widerstand aufgerufen. „Um jeden Zoll Gerechtigkeit muss jetzt gekämpft werden, die Richter sind in der Pflicht. Kein Kampf ohne Opfer“, sagte sie auf einem Richterkongress[9].

Frau Gersdorf ist Juraprofessorin und Präsidentin des Obersten Gerichtshofes. Ich selbst rufe nicht zu solchen Haltungen auf, weil ich mit 77 Lebens- und nach 55 Arbeitsjahren solche Appelle nur zu leicht formulieren könnte. Ich kann mir das erlauben. Aber ein Provinzrichter mit Frau und Kindern, Krediten und Kleinstadtmilieu, wird mehr auf sein Umfeld achten.

Ich sage gar nicht, dass die Reform des KRS sofort negative Folgen zeitigen wird. Aber die Einstellung dieser Regierung zu den Gerichten – die sich auch in den Änderungsvorschlägen für den KRS zeigt – schon.

Bei dieser Veränderung geht es um die Beseitigung alter „Eliten“ und die Beförderung eigener. Das ist eine Neuauflage der „Janitscharenschule“, einer Einrichtung an Sultanshöfen, auf die junge Menschen aus dem ganze Reich geschickt wurden. Der Sultan sorgte für ihre Verpflegung und Ausbildung und kam so zu treu ergebenen Soldaten. Ich behaupte nicht, dass die PiS sich im Wortsinn treue Söldnerheere erschaffen will. Aber sie nutzt ein solches Modell. Einem ebensolchen Zweck dient ihre Bildungs- und Selbstverwaltungsreform.

Welche Folgen hat die Justizreform langfristig für das Staatswesen?

Verheerende.

Wenn das Personal ausgetauscht wird, kehrt das Vertrauen der Gesellschaft in die Gerichte so bald nicht zurück.

Ganz im Gegenteil. Was der Propagandaapparat im Kampf mit dem Justizsystem – u.a. dem Verfassungsgericht – den Menschen einflößt, bleibt. Gewalt hinterlässt Gewalt. Deswegen erheben einige Konservative zu Recht Geschrei.

Einige. Andere finden, in diesen revolutionären Zeiten sei kein Platz mehr für Konservatismus. Marek Cichocki sagte im Gespräch mit der „Kultura Liberalna“: „Wir sind in eine Lage geraten, in der keine Rede mehr davon sein kann, dass wir unsere Institutionen hegen und pflegen, begießen und beschneiden müssen – wofür sich unter normalen Bedingungen ein typischer Konservativer aussprechen würde.“

Hören Sie, mein PESEL beginnt mit einer „40“. Ich schaue mir das Ganze also interessiert an und sage: „Spannende Zeiten“. Aber wenn mein PESEL vorne eine „70“ oder „80“ hätte, dann würde ich mir Sorgen um mich und meine Kinder machen müssen.[10]

Inwiefern?

Wegen der fortschreitenden Demoralisierung.

Wenn so große gesellschaftliche Gruppen stigmatisiert werden, denn es geht ja nicht nur um die Gerichte, sondern auch um Kommunalverwaltungen, Polizisten …

… Militärs …

… NGO-Aktivisten, Geschäftsleute – wenn man alle Vertreter dieser Gruppen ausschließt und anklagt, schafft man eine große Armee Frustrierter und potenzieller Erzfeinde.

Und deswegen habe ich Angst. Ein Staat, der aus einem Apparat besteht, also aus dem Establishment, und der feindliche und abgeneigte Massen gegen sich hat, ist nicht nur ein Staat, in dem es sich schlecht leben lässt, weil er unangenehm ist und eine ungute Atmosphäre herrscht. Er ist auch ein gefährlicher Staat.

Der Apparat wird nämlich mit einer zunehmenden Ergebnislosigkeit seiner Bemühungen konfrontiert: Man macht und macht, aber die Ziele rücken in immer größere Ferne. Die Schuld am mangelnden Erfolg gibt man den „über alle Grenzen gehenden“ Protestlern – die in einer derartigen Situation irgendwie diszipliniert werden müssen. Die Punitivität des Rechts wird immer höher geschraubt. Das passiert bereits jetzt. Beispielsweise wurde jemandem der Prozess gemacht, nur weil er vor dem Sejm demonstriert und ein Transparent mit Kritik an der Regierungspartei in eine Fernsehkamera gehalten hatte.[11] Er wurde beschuldigt, die Arbeit jenes Fernsehjournalisten behindert zu haben, obwohl das Gegenteil der Fall ist: Er hat dessen Arbeit erst ermöglicht. Das ist keine Auslöschung des Rechtsstaats mehr, es ist die Auslöschung der Demokratie.

Es ist zudem pervers, denn es geschieht im Namen der „Medienfreiheit“, also eines Grundpfeilers der liberalen Demokratie.

Natürlich, das ist pervers. Es ist vollkommen klar, dass Freiheiten miteinander kollidieren. Und die Freiheit des einen endet dort, wo die Unfreiheit des anderen anfängt. Im Falle dieses Demonstranten besteht kein Zweifel, dass er die Freiheit der Medien nicht beschnitten hat.

Wohin führen diese ganzen Maßnahmen, wenn sie Erfolg haben?

Zum Autoritarismus.

Man will ja aus einem bestimmten Grund an die Macht …

Bitte fragen Sie mich nicht so etwas. Sie sind ja kein kleines Kind mehr. Man will an die Macht, weil die Macht süß ist.

Ich will der derzeitigen Regierung gar nicht die Sensibilität für die Gesellschaft absprechen, ja, ich bezweifle nicht einmal die Treffsicherheit ihrer Diagnosen. Doch bei der Behandlungsmethode muss ich ganz entschieden Widerspruch einlegen. Im Falle der Justizreform stimmt es nicht, dass die Gewaltenteilung Richterherrschaft bedeuten würde, und es stimmt nicht, dass die Richter eine geschlossene Kaste bilden würden. Und selbst wenn man meinte, es gebe bei ihnen derlei Tendenzen, dann würden sie durch die Mittel, die ihnen die Regierung verabreichen möchte, bestimmt nicht geheilt. Die Änderungsvorschläge führen weder zur „Demokratisierung“ noch – was am wichtigsten ist – zu einer verbesserten Funktionsweise der Gerichte. Aber damit befasst sich überhaupt niemand.

Was ist das vordringlichste Problem der polnischen Gerichte?

Die schlechte Ausbildung. Die Richter sind nicht professionell genug, um aus dem normativen Material, das sie haben, sachkundig eine Lösung herauszuschälen, die nicht nur gesetzeskonform und gerecht ist. Genauso wichtig wäre es, dass sie diese Lösung der Nation erklären könnten. Die Krise der Gerichte ist eine Kommunikationskrise!

Das Problem rührt daher, dass die Gerichte „unbetreut“ sind. Es gibt im Rechtssystem niemanden, der sich mit den Gerichten als Struktur befasst. Ganz sicher nicht der Justizminister, der heute eher ein Generalstaatsanwalt ist und als Parteiaktivist danach trachtet, seine politische Bedeutung zu festigen. Ganz sicher auch der Oberste Gerichtshof nicht, er ist sich nicht einmal so recht bewusst, dass er diese Rolle spielen könnte. Wer also sollte die Gerichte betreuen?

Kommen wir auf die Kommunikationskrise zurück. Die Gerichte wissen nicht, wie sie mit dem Bürger sprechen sollen.

Und sie verspüren kein Bedürfnis danach. Ein Richter verkündet seine Urteile unter dem Adler, in der Robe und im Namen der Republik. Diese Elemente des decorum sind alle notwendig, aber nicht hinreichend. Vielen Richtern scheint es, wenn sie in diesem Gepränge ein Urteil verlesen, als rechtfertige allein die Autorität der Republik ihre Begründung. Das stimmt nicht. Die Hörer des Urteils müssen in der Mitteilung des Gerichts zudem Sorgfalt und Aufmerksamkeit für ihre Probleme und Angelegenheiten erkennen. Fragen Sie mich nicht, worauf das beruht. Ich weiß, wie man das macht, kann es aber nicht erklären. Das muss einer ausstrahlen, man muss sehen können, dass er etwas erklären möchte. Aber das fehlt. Vielleicht ist das ein Fehler in der Richterausbildung.

Ich will der derzeitigen Regierung gar nicht die Sensibilität für die Gesellschaft absprechen, ja, ich bezweifle nicht einmal die Treffsicherheit ihrer Diagnosen. Doch bei der Behandlungsmethode muss ich ganz entschieden Widerspruch einlegen.

Ewa Łętowska

In Polen ist jeder ein „Bürger als Edelmann“, zumal wenn er eine irgendwie geartete Macht hat. Auch ein Richter hat Macht. Bis zum Überdruss wird wiederholt, dass das Richteramt ein Dienst sein soll, dass ein Richter sich – bei aller Würde seines Amtes – von Mitgefühl leiten lassen sollte. Davon wird immer gesprochen, aber Folgen sind keine zu sehen.

Diesen Vorwurf kann man auch vielen anderen Berufsgruppen machen: Ärzten, Hochschuldozenten, Unternehmern.

Stimmt. Wir sprachen von der Demokratisierung. Meiner Überzeugung nach besteht sie gerade darin. Wenn ein Arzt auf einen Patienten trifft, weiß er besser, was diesem fehlt. Aber er muss es ihm erklären wollen. Bei einem Juristen ist es ähnlich.

Der Gedanke, die Wahl der Judikativen durch demokratisch gewählte Politiker könne die Lösung für eine Demokratisierung der Judikativen sein, ist naiv und doktrinär. Man muss der Judikativen etwas beibringen, damit sie fach- und sachkundiger wird, und sie zu Verantwortung und Achtsamkeit erziehen, damit sie sich bürgerschaftlich engagiert. Keines dieser Ziele erreicht man durch eine Wahl der Richter aus dem Volk oder durch die Ernennung von Fachleuten durch Politiker. Das ist ein bisschen so wie bei einem Symphonieorchester. Man darf mangelndes Können um Gottes Willen nicht durch Demokratie zu ersetzen versuchen.

Ist das Gesetz, das der Justizminister vorschlägt, verfassungskonform?

Denken Sie an Möglichkeiten, hic et nunc vor dem Verfassungsgericht gegen dieses Gesetz zu klagen? Das hat wenig Sinn, ist doch dem Verfassungsgericht jetzt die Funktion einer Legitimierungsmaschine zugewiesen worden. Falls ich ungerecht bin oder mich irre, werde ich in zwei Jahren (denn so lange dauert es, bis man das sehen kann) mit aufrichtiger Freude meinen Irrtum zugeben. Aber vielleicht wollen Sie wissen, ob dieser Vorschlag, den Status des KRS zu verändern, meiner Einschätzung nach der Verfassung widerspricht?

Ja. In Absatz 4, Artikel 187 der Verfassung heißt es: „Die Ordnung, den Umfang der Tätigkeit und die Arbeitsweise des Landesrates für Gerichtswesen sowie die Wahl seiner Mitglieder regelt ein Gesetz.“ Bedeutet das, dass das Justizministerium die Verfassung in diesem Fall nicht bricht?

Meiner Einschätzung nach ist das nicht verfassungskonform. Ein Gesetz muss schließlich am Standard gründlicher Gesetzgebung gemessen werden (Art. 2 der Verfassung). Und Art. 187 Abs. 1, der davon spricht, dass 15 Richter aus der Mitte der Richterschaft in den KRS gewählt werden, war nicht so gedacht, dass die Wahl ersetzt wird durch die Ernennung durch einen einzigen Parlamentspräsidenten.

Aber wissen Sie, auch das hat es schon gegeben. Jahrelang stand in der Verfassung, dass die Richter des Obersten Gerichtshofes „durch Wahl bestimmt“ werden. In der Praxis wurden sie vom Staatsrat gewählt.[12] Gab es eine Wahl? Es gab sie. Wenn wir zu den Standards der Verfassung von 1952 zurückkehren, können wir auch dieses Gesetz als verfassungskonform betrachten. Ein Déjà-vu.

[1]          Kritiker der PiS wie Ewa Łętowska werfen der Partei oftmals vor, die Menschen in ihrem Land in „wahre Polen“ (konservativ und katholisch eingestellte PiS-Wähler) und „falsche Polen“ (gegen die PiS-Politik eingestellte Bürger) einzuteilen. Die Formulierung „wahre Polen“ wird dabei dem Vorsitzenden der PiS, Jarosław Kaczyński, zugeschrieben – auch wenn dieser behauptet, sich niemals so ausgedrückt zu haben (vgl. „PiS: Kaczyński nie mówił o <<prawdziwych Polakach>>“ [PiS: Kaczyński hat nie von <<wahren Polen>> gesprochen]  wiadomosci.wp.pl/pis-kaczynski-nie-mowil-o-prawdziwych-polakach-6036142134195329a), und auch andere Formulierungen aus seinem Mund wurden von Kritikern in diesem Sinne interpretiert.

In einer Sendung des rechten Fernsehsenders TV Republika hatte der Vorsitzende der Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) die Meinung vertreten, dass diejenigen, welche die gegenwärtige Regierung in Warschau kritisierten, „Personen der schlimmsten Sorte“ seien, denen der Verrat in den Genen liege (Telewizja Republika – Jarosław Kaczyński (PiS) – W Punkt 2015-12-11, <www.youtube.com/watch?v=LCK_biZe_KU>, hier ab Minute 17).

[2]          Landesrat für Gerichtswesen, KRS – kollegiales Verfassungsorgan Polens, bestehend seit 8. April 1989. Der Rat betrachtet und bewertet u.a. Kandidaturen für die Ausübung des Richteramts, er urteilt über die Ein- und Abberufung der Vorsitzenden und Vize-Vorsitzenden von ordentlichen und Militärgerichten etc. Der Reformplan für den KRS, den die PiS vorgelegt hat, beinhaltet v.a. ein geändertes Verfahren für die Wahl von Richtern in den KRS – von jetzt an sollen sie durch den Sejm berufen werden und nicht, wie bisher, von den Richtern selbst – <Projekt reformy KRS przygotowany przez PiS zakłada przede wszystkim zmianę sposobu wyboru sędziów do KRS – od tej chwili mieliby oni być powoływani przez Sejm, a nie, jak do tej pory, głównie sami sędziowie> –  sowie eine Reform dieses Organs, infolge derer es von nun an aus zwei Kammern bestehen soll. Diskutiert wird über eine Reform des KRS bereits seit Jahren; derzeit wirft die Opposition der PiS-Regierung vor, kein verbessertes Wahlverfahren für die Richter oder eine größere Bürgernähe der Gerichte erreichen zu wollen, sondern vielmehr eine bessere Kontrolle über die Justiz anzustreben. Vgl. „Rząd przyjął projekt nowelizacji ustawy o KRS“ [Regierung plant eine Erneuerung des KRS-Gesetzes]  wiadomosci.onet.pl/kraj/rzad-przyjal-projekt-nowelizacji-ustawy-o-krs/bkw8el6 sowie: „Krajowa Rada Sądownictwa: władza kłamie o sędziach. 32 wypowiedzi, głównie Ziobry“ [Landesrat für Gerichtswesen: Die Lügen der Regierung über die Richter. 32 Äußerungen, v.a. von Zbigniew Ziobro], oko.press/krs-dokumentuje-falszerstwa-wladzy-przestancie-klamac-temat-sadow/.

[3]          Anspielung auf Stańczyk, den legendären Hofnarren von Johann I., Alexander, Sigismund I. und Sigismund II., der im 15. und 16. Jh. lebte. Stańczyk war für seinen scharfen Witz bekannt, galt als vielseitig gebildet und großer Patriot. Die Figur des Stańczyk tritt in vielen Werken der polnischen Literatur auf. Er wurde auch porträtiert – das berühmteste Porträt stammt von Jan Matejko.

[4]          „Verleugnung“, Regie Mick Jackson, USA/Großbritannien 2016.

[5]          Ewa Łętowska spielt hier auf den Begriff der „Schampädagogik“ an, den rechte Publizisten in Polen verwenden. Nach deren Ansicht beruht die angebliche „Schampädagogik“ darauf, dass liberale und linke Milieus in Polen sich ausschließlich auf die „dunklen Flecken“ der polnischen Geschichte konzentrieren, indem u.a. Jan Tomasz Gross’ Thesen zu den polnisch-jüdischen Beziehungen forciert und Filme wie „Ida“ (eine junge Novizin entdeckt ihre jüdischen Wurzeln und begibt sich auf eine Reise, um ihre Entscheidung für das Ordensgelübde noch einmal zu überdenken; der Film wurde von manchen Kreisen als anti-polnisch und geschichtsfälschend kritisiert, da er eine Schuld Polens am Holocaust suggeriere (Anm. d. Übers.); Regie Paweł Pawlikowski, 2013) beworben würden. Vgl. z.B. Grzegorz Górny, „Polacy na ławie oskarżonych“ [Die Polen auf der Anklagebank], „W Sieci“, 27.04.–3.05.2015, S. 38-41. Die Schampädagogik hat ihnen zufolge zum Ziel, den Nationalcharakter der Polen negativ darzustellen, während vielmehr die heroischen Elemente der polnischen Geschichte hervorgehoben werden sollten.

[6]          Ewa Łętowska hat hier Jarosław Kaczyński im Sinn, der, obwohl er derzeit in Polen kein offizielles Amt ausübt, als faktischer Anführer des in Polen regierenden Lagers gilt.

[7]          Ewa Łętowska beruft sich hier auf den sog. Streit um das Verfassungsgericht, der in Polen von Ende 2015 bis Ende 2016 andauerte, als Julia Przyłębska neue Präsidentin des Verfassungsgerichts wurde. Zur Analyse dieses Streites siehe: Marta Bucholc, Maciej Komornik, „Die PiS und das Recht. Verfassungskrise und polnische Rechtskultur“, „Osteuropa“, 1-2/2016, Onlinezugriff: www.zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2016/1-2/die-pis-und-das-recht/.

[8]          Die PiS hat nach den Wahlen 2015 viele leitende Posten in den öffentlichen Medien neu besetzt. Chef des Polnischen Fernsehens TVP wurde Jacek Kurski, früher Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit, heute der Solidarna Polska.

[9]          „Prezes Sądu Najwyższego wzywa sędziów do oporu. Dramatyczne wystąpienie Małgorzaty Gersdorf“ [Präsidentin des Obersten Gerichtshofes ruft Richter zum Widerstand auf. Dramatischer Auftritt von M.G.], wyborcza.pl/7,75398,21315772,prezes-sadu-najwyzszego-wzywa-sedziow-do-oporu-dramatyczne.html?disableRedirects=true.

[10]         PESEL heißt die Registrierungsnummer natürlicher Personen im polnischen Allgemeinen Elektronischen Bevölkerungserfassungssystem (Powszechny Elektroniczny System Ewidencji Ludności). Die PESEL-Nummer ist das grundlegende Identifikationsmerkmal der Bürger Polens. Sie beginnt jeweils mit dem Geburtsjahr. Spricht also Ewa Łętowska von der Zahl 40, ist das Jahr 1940 gemeint.

[11]         Gemeint sind die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen zwei der Personen, die in der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember vor dem Sejm gegen das Vorgehen von PiS-Politikern im Parlament protestierten, u.a. gegen Pläne, den Zugang der Medien zum Sejm zu beschränken, gegen den Ausschluss des Abgeordneten der Bürgerplattform, Michał Szczerba, sowie gegen die Verlegung von Abstimmungen, u.a. über den Haushalt für 2017, in den Säulensaal.

[12]         Die Rede ist von den Vorschriften und der Praxis unter der Verfassung der Volksrepublik Polen, die nach dem Vorbild der stalinistischen Verfassung von 1936 aufgesetzt wurde und ab 1952 im kommunistischen Polen in Kraft war.

Fot. Ajel [CC 0]. Źródło: Pixabay.

Übersetzt von Lisa Palmes.

Politics /

Die unwirkliche Dritte Republik

Jarosław Kuisz · 31 May 2017

Im heutigen Polen gilt der ideologisch schärfste Angriff nicht der Linken, sondern dem Liberalismus. Daher müssen die Liberalen, die sonst Distanz zur Wirklichkeit wahren, den Kampf um die politische Sprache im Land aufnehmen.

Als die Straßenbahn anfährt, gerät eine der älteren Damen stark ins Schwanken. Verärgert setzt sie sich neben eine andere Mitfahrende. „Ich kann mich noch an die Straßenbahnwagen nach dem Krieg erinnern“, beginnt sogleich das Gespräch, „die Bahnen fuhren so ruhig, dass die Leute auf den Puffern mitfahren konnten.“ „Heute wird alles…“, bestätigt die andere Dame und zeigt auf das Innere des klimatisierten Wagens, „…bloß schlechter.“ Pointe der kurzen Unterhaltung ist der Satz: „Wissen Sie, heute lauert die Gefahr überall.“ Ähnliche Gespräche hört man im ganzen Land. Mit bloßem Auge ist zu sehen, dass viele Polen sich nicht an die Dritte Republik gewöhnt haben. Das freie Polen erscheint ihnen unwirklich und nicht als Garant der Sicherheit.

Im Jahr 2015 – dem Jahr der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen – beschloss ein Teil der Politiker, diese gesellschaftlichen Emotionen (in neuer Verpackung) zum Treibstoff der Wahlen zu machen. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit in Realpolitik zu verwandeln. Im Herbst wurde die Formulierung „Polen ist ruiniert“ als absurd verlacht [1]. Anscheinend wurde nicht verstanden, dass das Erlebnis, sich nach langen Jahren in der Welt des Schlangestehens, der schmutzigen Bahnhöfe, Haltestellen usf. in einem blitzblank renovierten Polen wiederzufinden, (dauerhaft) nicht nur virtuell, sondern ganz und gar entwurzelnd wirken und einem den Boden unter den Füßen wegziehen kann. Nicht ohne Grund findet sich eine beachtliche Zuhörerschaft für eine Geschichte der Dritten Republik als Geschichte der Lüge, „die inzwischen die gesellschaftliche Wirklichkeit beherrscht und eine fiktive Geschichte und fiktive Autoritäten geschaffen hat“ (so Antoni Macierewicz in einem Interview) [2]. In Umfragen bekunden die Bürger geringes Vertrauen in den Staat und seine Institutionen (und taten dies lange bevor die PiS an die Macht kam).

Die liberale Demokratie an der Weichsel scheint in der Defensive, maßgeblich infolge der verlorenen Schlacht um die Sprache zur Beschreibung Polens. Angriffe auf den Liberalismus sind oft aus den Fingern gesogen. Besteht 2016 eine Gefahr für den Zusammenhalt der polnischen Gesellschaft, so ist es ja nicht der überbordende Individualismus, vor dem von rechts und links so gewarnt wurde, sondern das echte Spiel mit dem Feuer, indem kollektive Leidenschaften entfesselt werden. Nichts spaltet letztlich die Polen heute mehr als vage Versprechungen moralischer Eintracht.

Nostalgisch-ironische Entkommunisierung

Vollzogen werden die heutigen Reformen im Namen einer imaginierten Gemeinschaft, Polens, über die wir im Grunde nichts Konkretes wissen. Kein Wunder also, dass so viele Elemente einer verlorenen, jedoch von einem Teil der Politiker keineswegs vergessenen Gemeinschaft wiederkehren: Volkspolens. Über die Fernsehbildschirme flimmern wieder die Sendungen „Sonda“ und „Teleranek“ [3]. Ohne Federlesens kehrt man zur achtjährigen Grundschule und vierjährigen Oberschule zurück. Verlautbart flexible Pläne einer wirtschaftlichen Entwicklung von oben nach dem Vorbild der sozialistischen Sechsjahrpläne. Idealisiert die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe PGR [4] und Großbetriebe. Die jungen Generationen der Polen erfahren eine „Re-Volksrepublikanisierung“.

Dabei handelt es sich indes um eine nur scheinbar unsinnige Renaissance im 21. Jahrhundert. Nachdem sich der postkommunistische Sexappeal des Westens verflüchtigt hat, ist Volkspolen nach wie vor der am ehesten greifbare Bezugspunkt, für viele gar ein stabileres Weltgebäude als die Dritte Republik. Auch eine sentimentale Reise in die eigene Jugend, nicht aus Geschichtsbüchern, sondern aus der Erinnerung stammend. Allerdings bildet es keine geschlossene Erzählung. Popkulturhelden der Volksrepublik können neben Barden der Opposition zu stehen kommen. Man kann Sendungen des Propagandafernsehens aus Edward Giereks und Wojciech Jaruzelskis Tagen [5] wieder einführen, aber zugleich die Kollaboration mit dem Kommunismus verurteilen.

Im Herbst wurde die Formulierung „Polen ist ruiniert“ als absurd verlacht. Anscheinend wurde nicht verstanden, dass nach langen Jahren in der Welt des Schlangestehens, der schmutzigen Bahnhöfe, Haltestellen usf. das Erlebnis eines blitzblank renovierten Polens einem den Boden unter den Füßen wegziehen kann.

Jarosław Kuisz

In der Dritten Republik sind im Laufe der Zeit die Erinnerungen der Opposition und der Regimetreuen verschmolzen. Die derzeitige Entkommunisierungswelle hat daher ausschließlich nostalgisch-ironischen Charakter. Nur so ist zu erklären, dass in den Reihen der antikommunistischen PiS Stanisław Piotrowicz brilliert [6], ein ehemaliger Staatsanwalt der Volksrepublik Polen, 1983 ausgezeichnet mit dem Verdienstkreuz in Bronze. Jarosław Kaczyński dagegen erinnert in seiner Autobiografie stolz an seinen intellektuellen Mentor, Stanisław Ehrlich [7], einen zweifelsohne herausragenden Geist, der jedoch in den 50er Jahren zur Kollektivierung der polnischen Landwirtschaft aufrief. Ich stelle die These auf, dass erst die Bloßlegung der engen Verbindung zweier Erzählweisen (der Opposition und des volksrepublikanischen Regimes) erlaubt zu verstehen, weshalb heutzutage sowohl Gegner als auch Anhänger der PiS bei aktuellen Auseinandersetzungen „dem Kommunismus den Kampf“ ansagen, oft auf dieselbe Widerstandssymbolik zurückgreifen und natürlich einander „Verrat“ vorwerfen.

Veränderung zum Guten ad hoc

Polens Zukunft spielt sich jedoch woanders ab. Was verblüfft nach 2015 am meisten? Die fehlende Vorbereitung auf die Regierungsübernahme durch die PiS. Es ist wirklich schwer zu sagen, was diese Partei acht Jahre lang getan hat, während sie sich in der Opposition befand. Die Krise um den Verfassungsgerichtshof war nicht das Resultat irgendeines Planes. Sie ist einfach ausgebrochen. Es wurden keinerlei Simulationen angestellt bezüglich der Langzeitfolgen der 500+-Reform [8] und der Einführung neuer Steuerbelastungen für den Banken- und Handelssektor.

Sind wir wirklich einer Untersuchung der ökonomischen Folgen des geltenden Rechts nicht gewachsen? Müssen diejenigen, die sich „Staatsverfechter“ nennen, und denen angeblich an einer Stärkung der staatlichen Institutionen gelegen ist, Gesetzentwürfe auf den letzten Drücker anfertigen? Schließlich weiß man aus der Geschichte der dritten Republik, dass schöne Absichtserklärungen, in Rechtsakte verwandelt, so manches Mal unerwünschte Folgen gezeitigt haben. Und noch der sog. Morawiecki-Plan [9] entsteht ad hoc. Die Beispiele lassen sich mehren. Hätte man in der Zweiten Republik so den Bau von Gdingen geplant [10], wie PiS Reformpläne anfertigt, so wäre der Hafen höchstwahrscheinlich nicht einmal 1989 fertig gewesen. Betrachtet man das Geschehen kühl, so kann man den Eindruck gewinnen, dass das Wichtigste im PiS-Programm der Austausch der Eliten war. „Dann wird man weitersehen…“.

Die Zukunft des polnischen Liberalismus

Skeptische Liberale wahren meist eine gewisse Distanz zur Wirklichkeit. Doch heute stehen wir vor der Herausforderung, um die politische Sprache in Polen zu kämpfen. Erstens lohnt es sich daran zu erinnern, dass liberal-demokratische Werte genauso Teil des polnischen Erbes sind wie die kollektiven national-katholischen Werte. Zweitens sind die Mängel des polnischen Liberalismus nach 1989 oft allein eine Erfindung der Kritiker, ein Streit mit einem inexistenten Feind. Beispiele? Liberalismus ist nicht Ökonomismus. Und er führt, wie uns die Klassiker in Erinnerung rufen, nicht zu einer erdichteten Atomisierung der Gesellschaft, da religiöse Toleranz, Redefreiheit, repräsentative Regierung oder Marktwirtschaft nur durch ein dichtes soziales Beziehungsgeflecht möglich sind. Und eine gehörige Portion Vertrauen.

Die liberal-demokratischen Werte sind genauso Teil des polnischen Erbes wie die kollektiven national-katholischen Werte. Aber die Mängel des polnischen Liberalismus nach 1989 sind oft ganz allein eine Erfindung seiner Kritiker.

Jarosław Kuisz

Im heutigen Polen gilt der ideologisch schärfste Angriff nicht der Linken, sondern dem Liberalismus. Dies zeigt das Beispiel des Skandals um die Reprivatisierung [11]. Den offensichtlichen Rechtsbruch, die Hilflosigkeit der Beamten und das Fehlen gesetzlicher Lösungen schieben einige, übrigens der PiS abgneigte, Publizisten wieder einmal auf… übertriebene Beachtung des Eigentumsrechts in der Dritten Republik. Vielleicht sollte man sie daran erinnern, dass ein wirksames (!), rechtlich garantiertes System zum Schutz des Eigentums die Dezentralisierung der politischen Macht erleichtert. Das Gemeinwohl des künftigen Polens verlangt Kompromissfähigkeit, Achtung vor dem politischen Gegner, Gerechtigkeit und Herrschaft des Rechts, Selbstbestimmung. Liberalismus bedeutet nicht Zustimmung zum Rechtsbruch. Individualismus braucht sich nicht gegen die Gesellschaft zu richten.

Die Massen alberner Vorwürfe, die dem Liberalismus gemacht werden, bleiben unwidersprochen und treffen indirekt letzlich die liberale Demokratie. Ob sie an der Weichsel erhalten bleibt, hängt von uns ab – die Zukunft der Europäischen Union ist mit einem Fragezeichen versehen, die westlichen Staaten werden gewiss zunehmend mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt sein (weil die Bürger genau das von den Politikern erwarten). Zum ersten Mal seit dem Untergang der polnischen Adelsrepublik haben die Polen das Glück, drei Jahrzehnte in einem eigenen Staatswesen zu leben. Dafür zu sorgen, dass die dritte Republik als wirklich erscheint, ist eine politische Aufgabe. Unsere Freiheit kann nur polnisch sein.

Anmerkungen:

[1] „Polen ist ruiniert“ war eine der Parolen der rechten Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), mit der die Kritik an den vergangenen 25 Jahren des polnischen Systemwechsels zum Hauptwahlkampfthema wurde. PiS-Gegner hielten die Parole für absurd und verwiesen darauf, dass der Lebensstandard in Polen heute unvergleichlich besser sei als vor 25 Jahren, und dass die Transformation einer der größten Erfolge in der Geschichte Polens gewesen sei.

[2] Eine große Gruppe von Politikern und PiS-Anhängern sieht in der Dritten Republik eine Fortsetzung des vorigen Systems unter der Vorherrschaft derselben wirtschaftlichen und politischen Führungsriege. Von einem „freien Polen“ oder gar einem „Erfolg“ der Transformation zu sprechen, ist ihrer Ansicht nach verlogen. Zu dieser Gruppe zählt der ehemalige antikommnistische Oppositionelle Antoni Macierewicz, prominenter PiS-Politiker und derzeit Verteidigungsminister.

[3] „Sonda“ ist eine beliebte Bildungssendung, „Teleranek“ eine Kindersendung. Beide wurden zur Zeit der Volksrepublik Polen entwickelt und ausgestrahlt.

[4] PGR (Państwowe Gospodarstwo Rolne): großflächige Landwirtschaftsbetriebe im Eigentum des Staates, ähnlich den Volkseigenen Gütern in der DDR. Sie entstanden 1949 auf Böden, die die Behörden den Bauern gewaltsam abnahmen. Schlecht geführt und wirtschaftlich unrentabel, wurden sie nach dem Ende der Volksrepublik aufgelöst. 1991 arbeiteten ca. 400 000 Menschen in den PGR. Die leerstehenden Betriebe sowie die Schwierigkeiten der ehemaligen Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt (u.a. infolge niedriger Bildung, aber auch räumlicher Abgeschiedenheit von größeren städtischen Zentren) sind zu einem Symbol für den sozialen Preis der Transformation geworden.

[5] Edward Gierek (1939-2001): erster Sekretär der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei 1970-1980. Wojciech Jaruzelski (1923-2014): General der Polnischen Volksarmee, in Volkspolen u.a. Verteidigungsminister und Staatsratsvorsitzender.

[6] Stanisław Piotrowicz: ehemaliges Mitglied der in Volkspolen regierenden Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei (PVAP) sowie Staatsanwalt, dem heute seine Beteiligung an Prozessen gegen Mitglieder der demokratischen Opposition vorgeworfen wird. Derzeit ist Piotrowicz PiS-Mitglied und Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Gerechtigkeit und Menschenrechte, dadurch wurde er zu einem der führenden PiS-Repräsentanten im Konflikt zwischen der Regierung und dem Verfassungsgerichtshof.

[7] Jarosław Kaczyński: Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit. Stanisław Ehrlich: einflussreicher Jurist in Volkspolen, Mitglied der PVAP, Professor am Fachbereich Recht und Verwaltung der Universität Warschau; war Doktorvater von Kaczyński und organisierte ein wissenschaftliches Seminar, an dem Kaczyński lange Jahre teilnahm, und welches er bis heute als prägende Erfahrung erachtet.

[8] Finanzielles Hilfsprogramm, das Eltern für das zweite und jedes weitere Kind bedingungslos 500 Zloty (umgerechnet 118 Euro) im Monat gewährt. Die Ärmsten erhalten die Unterstützung für jedes Kind.

[9] Mateusz Morawiecki: seit 16. November 2015 stellvertretender Ministerpräsident und Entwicklungsminister, seit 28. September 2016 auch Finanzminister in der Regierung von Beata Szydło. Urheber der Strategie Verantwortungsvoller Entwicklung, des sog. Morawiecki-Plans zur schnellen wirtschaftlichen Entwicklung u.a. durch Ausbau der Industrie und Unterstützung ausgewählter Wirtschaftszweige. Der Morawiecki-Plan und seine Implementierung sind Gegenstand häufiger und nicht selten kritischer Kommentare sowohl von Oppositionspolitikern als auch von Wirtschaftswissenschaftlern.

[10] Gdingen: Stadt und Hafen an der Ostsee. War bis in die 1920er Jahre ein kleines Fischerdorf. Nachdem Polen 1918 unabhängig geworden war, trafen die Behörden die Entscheidung zum Bau eines Seehafens mit dem Ziel, sich vom Hafen der Freien Stadt Danzig unabhängig zu machen. Der rasche Ausbau Gdingens wurde zum Symbol für die Entwicklung und Modernisierung des unabhängigen Polens.

[11] Umstritten ist die Rückgabe von Privateigentum, das die Behörden Volkspolens nach dem 2. Weltkrieg eingezogen haben. Polen hat als einziges Land der Region kein umfassendes Reprivatisierungsgesetz verabschiedet, nach dem der rechtliche Status der Immobilien geregelt und mögliche Entschädigungen ausgezahlt werden könnten. Diese Lücke im Recht nutzen heute nicht nur rechtmäßige Erben aus, sondern auch sog. „Anspruchshändler“, die oft für wenig Geld Ansprüche an Grundstücken erwerben, die in den Stadtzentren liegen (das Problem betrifft hauptsächlich Warschau) und viele Millionen Zloty wert sind.

fot. Kancelaria Premiera, Flickr.com.

Übersetzt von Hans Gregor Njemz.

Politics /

Das Recht ist für die Bürger da, ihnen hat es zu dienen

Adam Puchejda im Gespräch mit Adam Czarnota · 31 May 2017

„Es wäre nicht zum Streit um das Verfassungsgericht in Polen gekommen, hätte man nicht vorher in Polen die Bürger geschwächt, was politisches Handeln und Entscheidungsfähigkeit angeht“, argumentiert Adam Czarnota, Professor der Rechtswissenschaften, Spezialist für Rechtsvergleichung, Juraprofessor an der New South Wales University in Sydney, Australien. Adam Czarnota verteidigt das Vorgehen der PiS-Regierung gegen den Verfassungsgerichtshof, indem er darlegt, dass die Gerichte in Polen, im Gegensatz zum Obersten Gerichtshof in den USA, sich nicht um den Bürger kümmern und nicht auf ihn hören, sondern lediglich ein Ausfluss der Juristenschaft sind.

Adam Puchejda: Wer hat Recht im Streit um das Verfassungsgericht (VG) in Polen? Die Regierung oder die Opposition?

Adam Czarnota: Keiner von beiden. Das ist in diesem Fall auch nicht so leicht festzustellen. Der Streit um das VG ist kein Rechtsstreit, er ist von Anfang an politisch. Daran können keine Rechtskniffe oder -interventionen etwas ändern

Die starke Stellung des VG ist jedoch in der Verfassung festgeschrieben, und ein Bruch der Verfassung ist ein Rechtsbruch.

In der Verfassung festgeschrieben? Das kommt darauf an. Der Streit der Regierungseite mit dem VG ist heute vor allem ein Streit mit der Juristenschaft. Hervorgerufen wurde dieser Konflikt durch eine so nie dagewesene Konsolidierung des polnischen Juristenmilieus. Praktisch alle Juristen – von den Gremien der juristischen Fakultäten über die berufsständischen Berater- und Anwaltsvereinigungen bis hin zu den Richtern – haben das VG in Schutz genommen. Nicht ohne Grund. Wenn sie das Gericht nicht verteidigen, schießen sie sich selber ins Knie. Die Regierungsseite möchte eine radikale Justizreform in Polen und hat gute Gründe dafür, denn das System ist – sagen wir es ruhig – fatal. Die Wartezeit für Verhandlungen ist skandalös, die Richter lehnen jedwede Verantwortung ab, es gibt keinerlei Richterethos.

Man mag viel Schlechtes über die Juristenschaft oder die Schwerfälligkeit der Gerichte sagen, aber im Falle des gegenwärtigen Konfliktes zögert doch die Regierung die Veröffentlichung des letzten Verfassungsgerichtsurteils hinaus, will doch der Präsident diejenigen Richter nicht vereidigen, deren Wahl von der PiS nicht akzeptiert wird, usf. Das halten Sie immer noch für einen Streit nur mit der Juristenschaft? Ist das nicht eher ein Rechtsstreit, mit weitreichenden Folgen für die Zukunft, zuallererst Verfahren vor dem Staatsgerichtshof[1] gegen den Präsidenten und die Ministerpräsidentin?

Von Anfang an. Was heißt, wir haben einen Rechtsstreit? Das Recht von sich aus bedeutet nichts und sagt nichts. Recht ist immer jemandes Interpretation. Das VG argumentiert, es müsse die Verfassung anwenden, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen befinden, worauf die andere Seite antwortet, schön, das ist euer Recht, bloß soll ein gewöhnliches Gesetz eure Verfahrensweise regeln. Solch ein Rechtsstreit hat zig juristische Interpretationen. Nehmen wir an, wir haben zwei; die eine sagt: es ist so, die andere: es ist anders. Wer hat Recht? Vom rechtlichen Standpunkt aus ist das nicht zu lösen. Juristen können hier nichts ausrichten. Sie können allerlei Argumente anführen, alles hin und her und her und hin wenden, aber ihr Streit wird nichts mit dem Recht selbst zu tun haben. So gesehen hat der Konflikt ums VG rein politischen Charakter, zumal der Gerichtshof selbst im polnischen Politik- und Rechtssystem einen besonderen politischen Standort hat. Achten Sie übrigens mal darauf, wie es sich mit seiner Verteidigung verhält. Wojciech Sadurski, der ein sehr gutes kritisches Buch – von liberaler Seite – über die Verfassungsgerichte in Ostmitteleuropa geschrieben hat, ist ein großer Verteidiger des polnischen VG[2]. In dem Buch hat er Urteilsexzesse und richterlichen Aktivismus des VG kritisiert, also die Überschreitung gewisser Grenzen der Rechtsauslegung – aber heute sieht er ganz was anderes. Genauso die linken Kritiker des VG: einer seiner Verteidiger ist heute auch Adam Sulikowski von der Universität Breslau[3], der vorher die Tätigkeit des Gerichts vorzüglich analysiert und kritisiert hat. Schlussendlich ist das VG ein Schlachtfeld in einem größeren Krieg um die Gesellschaftsform, nicht nur die Verfassung Polens.

Die Regierungsseite strebt allerdings de facto danach, das Gericht lahmzulegen. Von einer tiefgreifenden Gesellschaftsreform sagt sie wenig.

Ich bitte Sie, es gibt einen Clinch, und beide Seiten haben Rechtfertigungen, Argumente, Gründe. Solange sie sich nicht verständigen, kommen wir zu keiner Lösung. Bloß liegt die Ursache des Problems ganz woanders.

Wo?

Es wäre nicht zum Problem mit dem VG gekommen, hätte man nicht in Polen die Bürger ruhiggestellt, zermürbt und geschwächt, was politisches Handeln und Entscheidungsfähigkeit angeht. Und nicht gleichzeitig das Recht benutzt, um die politische Lage zu stabilisieren und Grabenkämpfe zu führen. Seit der Wende waren die politischen Eliten bestrebt, die Gesellschaft zu lähmen, und den Preis dafür zahlen heute alle Parteien, mittelbar auch die Bürger. In gewissem Sinne ist es Zufall, dass ausgerechnet die PiS gegen das VG ankämpft. Andere Parteien kämen ab einem bestimmten Punkt ähnlich oder genauso weit. Nebenbei, ich frage mich, inwieweit die PiS gegen das VG kämpft, und inwieweit sie es verändern möchte. Sie will diese Institution nicht völlig aus dem öffentlichen Raum verbannen. Es geht um eine Verringerung der Rolle des VG, nicht seine komplette Auflösung.

Warum ist es dann erst jetzt zu so einem Konflikt gekommen?

Weil das Recht den politischen Diskurs in Polen blockiert hat. Es ist so stark, dass es für andere Meinungen wenig Raum lässt. Im liberalen Diskurs der Eliten hieß es 27 Jahre lang: das Recht ist Träger der Werte, die Politik ist schmutzig, das Recht soll vorherrschen. Die Bürger haben das lange geglaubt und dabei vergessen, das man das Recht stets in Zweifel ziehen kann, es ändern kann, ja, sogar aufheben! Denn wenn Sie zum Gericht gehen und sagen, Sie haben Recht, und ich sage: „Stimmt nicht, ich habe Recht“, entscheidet schließlich am Ende das Gericht. Aber es wägt ab, legt aus und analysiert, es beschränkt sich nicht auf die Lektüre des Gesetzbuches.

Doch das VG in Polen kümmert sich, im Gegensatz zum Obersten Gerichtshof in den USA, überhaupt nicht um den Bürger, es denkt nur an seine Juristenkollegen und -kolleginnen, während es in den Paragrafen blättert. Die Urteilsbegründungen sollten bilden, eine symbolische Funktion erfüllen, aber sie sind unverständlich geschrieben, oft ausschließlich für Juristen. Das sollte nicht so sein. Wenn wir eine republikanische Bürgergesellschaft wollen, müssen wir die Bürger zu dem Bewusstsein erziehen, was das Recht ist, und dass sie selbst das Recht haben, die Gesetzesvorschriften zu interpretieren. Jefferson hat einmal gesagt, jede Generation hat das Recht auf eine eigene Verfassung. Die Verfassung soll Institutionen ermöglichen, die uns entsprechen, nicht uns beherrschen. In Polen hat man nach 1989 einen ganz anderen Schluss gezogen: die Rechts- und Verfassungsordnung beherrscht den Bürger, nicht umgekehrt. Die Äußerungen der Verfassungsrichter lassen deutlich eine Sakralisierung des Rechts erkennen.

Und doch sind die Bürger für Recht und Verfassung eingetreten, z.B. durch das KOD[4].

Gut so. Selbst wenn eine Gruppe von Bürgern nicht Recht hat – und ich versuche Ihnen zu beweisen, dass die Verteidigung der Verfassung eine komplizierte Angelegenheit ist –, führt schon allein der Streit zu einer belebenden politischen Mobilisierung. Und das ist unbestritten positiv. Natürlich nur, solange es nicht zu Straßenkämpfen kommt, sondern wir im Parlament, im Fernsehen, in publizistischen Programmen und Texten streiten. Mit anderen Worten, der Streit um das VG hat auch seine guten Seiten. Erstens ist den Bürgern bewusst geworden, dass das Recht – in diesem Fall die Verfassung – kein Fetisch ist, kein unantastbares Sacrum, sondern vor allem uns, den Bürgern, dienen sollte, nicht aber Richtern und Juristen. Zweitens ist die Autorität der Gerichte als solcher, nicht nur des VG, erschüttert worden.

Und das ist gut?!

Ist es. Die Richter, diese Mandarine des Rechts, standen jahrelang bei ihrer Amtsausübung über der Gesellschaft, nicht im Dienste der Gesellschaft. Sie haben zu allem das Wort ergriffen, dabei kennen sie das gesellschaftliche Leben nicht gut. Richter sollten überhaupt nicht in den Medien auftreten. Meiner Ansicht nach sollten ihr Rederaum die Urteilsbegründungen sein. Bei uns weiß man schon vor der Urteilsbegründung, in welche Richtung die Entscheidung geht.

Wenn die Regierung offen die Verfassung missachtet, z.B. nicht die Letztinstanzlichkeit der Verfassungsgerichtsurteile anerkennt, ist das doch ein Grund, Alarm zu schlagen?

Es ist doch nicht so, dass wenn wir eine Latte herausreißen, der ganze Zaun zusammenbricht. Außerdem haben wir die Gewaltenteilung, das VG ist nicht die einzige Gewalt, die für die Einhaltung der Verfassung zuständig ist. Es gibt mindestens zwei weitere: Sejm und Präsident. Beide sind für die Verfassung verantwortlich.

Nur dass der Sejm eigentlich bloß eine Abstimmungsmaschine ist und die wahre Macht bei der Regierung liegt, die von der stärksten Partei kontrolliert wird. Wenn aber die Regierung anfängt, die Judikative zu kontrollieren, dann verstößt das gegen die Gewaltenteilung.

Und was ist mit dem Präsidenten?

Von der stärksten Partei abhängig, erfüllt er nicht seine verfassungsgemäßen Pflichten.

Und dann soll das VG das übernehmen? Sich zum einzigen Verfassungswächter im ganzen Land erklären? Und was ist mit den übrigen Gerichten? In Polen darf jedes Gericht unmittelbar die Verfassung anwenden, ebenso über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes befinden. Dass die Richter das nicht tun, dass sie Angst haben, liegt an der Juristenausbildung in Polen, die erbärmlich ist.

Ganz entscheidend aber ist, dass das VG, seitdem seine Urteile als letztinstanzlich gelten, de facto die beiden übrigen Gewalten überragt. Die starke Stellung des VG verletzt die Gewaltenteilung. Schließlich gibt es keine Berufung gegen Entscheidungen des VG. Wenn man mich nach meiner Meinung fragte, ich würde das VG als Körperschaft am liebsten auflösen und seine Kompetenzen den allgemeinen Gerichten übertragen. Zudem würde ich, wie in angelsächsischen Ländern, anstreben, Sachen in concreto zu verhandeln, nicht in abstracto, so dass sich die jeweilige Verfassungsfrage von den realen Problemen der Menschen ableitete. Der Bürger müsste mit einer Sache vor Gericht ziehen und bis hinauf zum Obersten Gerichtshof gelangen, der dann in dem Fall darüber befindet, ob ein Verfassungsverstoß vorliegt. Oder ich würde zum vorherigen Zustand zurückkehren, d.h. das VG keine letztinstanzlichen Urteile mehr sprechen lassen und das Parlament befugen, Urteilssprüche des VG anzufechten, z.B. mit der qualifizierten Mehrheit von 3/4 der Stimmen.

Solche Änderungen erfordern aber die Verabschiedung einer ganz neuen Verfassung. Bevor es dazu kommt, müssen wir irgendwie aus der jetzigen Krise herausfinden. Wie soll das gehen?

Indem man sich verständigt, einen Kompromiss schließt. Das Problem ist, dass es in Polen zu einer so weitreichenden Spaltung gekommen ist, dass die Opposition es nicht schafft, sich mit der Regierung über grundlegende Abläufe im Land zu verständigen. Das VG ist da nur ein kleines Schlachtfeld, das man ausgewählt hat, um seine eigenen politischen Positionen zu verfechten.

Aber die Lähmung des VG trifft vor allem die Bürger, nicht die politischen Parteien. Entweder werden konkrete zum Urteil anstehende Fälle vom VG nicht weiterverhandelt, oder es kommt zu einer Spaltung des Rechts, weil einige Gerichte und Ämter Verfassungsgerichtsurteile akzeptieren werden, andere nicht.

Einen Gesetzesdualismus, also dass es zwei Rechtssysteme geben wird, würde ich eher nicht fürchten, denn in 99 Prozent der Fälle begegnen den Bürgern rechtliche Routinefragen. Ganz zu schweigen davon, dass Juristen, Richter und Anwälte ja dazu da sind, sich durch hermeneutisches Denken hervorzutun und viele komplizierte, teils einander widersprechende Angelegenheiten in Einklang zu bringen. Haben wir solche Richter und Juristen? Wenige, leider, denn unsere juristische Ausbildung ist fatal, doch das ist ein anderes Problem.

Aber Sie haben Recht, die Bürger können in diesem ganzen Durcheinander tatsächlich Schaden nehmen. Nur: wenn sie Schaden nehmen, vielleicht erzwingen sie dann Änderungen im Politik- und Rechtssystem?

Nur, wie lange wird das dauern?

Das kann dauern, ziemlich lange sogar, denn Mobilisierung durch Parolen reicht nicht mehr, jetzt braucht man Argumente. Das Recht ist für die Menschen da, aber wichtig ist: es ist nicht Ursprung der Normativität, sondern es überträgt Normativität. Deren Ursprünge sind gesellschaftlicher Natur, es sind Überzeugungen, Werte, Normen. Die Frage ist: wie schafft man einen Rechtsmechanismus, der das alles angemessen ins Recht überträgt? Wenn das nicht gelingt, bleibt das Recht flach, es hört auf, Recht zu sein, und wird zum Regelwerk.

Das ist auch ein Problem der Verfassungsauslegung, denn wir haben eigentlich in Polen kein Verfassungsrecht als juristische Disziplin, wir haben eine Dogmatik des Verfassungsrechts. Danach wissen wir, was in einer Vorschrift steht, aber wo sie greift, unter welchen Umständen, welche politische Philosophie dort herrscht, das weiß ein polnischer Verfassungsrechtler nicht und will es nicht wissen. Hier komme ich auf meine vorige These zurück: so eine Art der Auslegung führt dazu und hat dazu geführt, die Bürger völlig zu entmutigen, weil man ihnen gesagt hat, seid beruhigt, wir haben unsere Experten, geht nach Hause, wir erledigen das und gießen es in Rechtsnormen. So ein Zustand kann nicht ewig anhalten. Der Streit ums VG ist – so hoffe ich – der Anfang vom Ende dieser Art von Ruhigstellung der Bürger. Und zwar auf der einen wie der anderen Seite des Konflikts, aus dem Blickwinkel des Bewusstseins, welche Rolle das Recht in der Gesellschaft hat, und des Wissens, dass das Recht für uns da ist, uns zu dienen hat.

[1]      Der Staatsgerichtshof ist ein Verfassungsorgan der polnischen Gerichtsbarkeit, dessen Hauptaufgabe darin besteht, die höchsten Staatsorgane und -beamte zur Verantwortung zu ziehen, insbesondere bei Verstößen gegen die Verfassung oder Gesetze. In der gegenwärtigen öffentlichen Debatte in Polen wird von Regierungskritikern immer wieder vorgeschlagen, von der Partei Recht und Gerechtigkeit ernannte hohe Staatsbeamte in Zukunft wegen Verstoßes gegen die Verfassung vor Gericht zu stellen. Gelten sollte dies z.B. für Präsident Andrzej Duda und Ministerpräsidentin Beata Szydło. Geäußert wurden derlei Vorschläge u.a. von Vertretern der Oppositionsparteien: der Bürgerplattform und der Modernen. Eine Anklage vor dem Staatsgerichtshof war bereits für andere hohe polnische Staatsbeamte gefordert worden, zumeist von politischen Gegnern. Dies gilt z.B. für den ehemaligen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski oder den ehemaligen Ministerpräsidenten Donald Tusk.

[2]    Wojciech Sadurski, polnischer Jurist, Professor der Rechtswissenschaften und liberaler Politikkommentator. Professor an der Universität Sydney. Spezialist für Verfassungsrecht und Transitional Justice. Adam Czarnota erwähnt sein Buch „Rights Before Courts. A Study of Constitutional Courts in Postcommunist States of Central and Eastern Europe“ (2005).

[3]    Adam Sulikowski, polnischer Jurist, Professor der Rechtswissenschaften, Wissenschaftler an der Universität Breslau. Spezialist für Theorie und Praxis des Verfassungsgerichtswesens, besonders Polens und Frankreichs. Veröffentlichte u.a. die Bücher „Współczesny paradygmat sądownictwa konstytucyjnego wobec kryzysu nowoczesności“ (Das zeitgenössische Paradigma des Verfassungsgerichtswesens angesichts der Krise der Moderne, 2008) und „Konstytucjonalizm a nowoczesność. Dyskurs konstytucyjny wobec tryumfu i kryzysu moderny“ (Verfassungsrecht und Modernität. Der Verfassungsdiskurs angesichts Triumph und Krise der Moderne).

[4]    KOD: Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demokracji). Es handelt sich um eine Protestvereinigung, die als Antwort auf die Maßnahmen der Partei Recht und Gerechtigkeit gegen den Verfassungsgerichtshof entstanden ist und sich gegen die PiS-Regierung richtet. Ihr Name ist angelehnt an das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR), eine 1976 ins Leben gerufene Organisation der polnischen Bürgerrechtsbewegung.

Übersetzt von Hans Gregor Njemz.

Politics /

Der Moment der Revolution ist da

Łukasz Pawłowski im Gespräch mit Marek A. Cichocki · 31 May 2017

Die Mythen, auf denen die bisherige Ordnung aufbaute, verlieren zunehmend ihre Gültigkeit. Man kann diesen Prozess verlangsamen, man kann so tun, als wäre nichts geschehen. Doch die bereits entstandenen Risse lassen sich nicht mehr übertünchen.“

Łukasz Pawłowski: Ist Recht und Gerechtigkeit [Prawo i Sprawiedliwość, PiS] eine konservative Partei?

Marek A. Cichocki: Ich bezeichne die PiS als „gesellschaftliche Rechte“. Sie schreibt sich in einen politischen Trend ein, der zur Zeit im Westen weiter verbreitet ist, besonders in den angelsächsischen Ländern. Deutlich wird das sowohl am Beispiel der britischen Konservativen, am Wandel, den diese Partei nach dem Brexit durchlaufen hat, als auch am zukünftigen Programm der Trump-Regierung in den USA, soweit dieses sich anhand von Donald Trumps bisherigen Äußerungen erschließen lässt.

Worin unterscheidet sich eine „gesellschaftliche Rechte“ vom klassischen Konservatismus?

Für den Fall Polen lässt sich diese Frage schwer beantworten, ist doch das Erscheinungsbild des Konservatismus recht unklar. Nach 1989 ist der Konservatismus in Polen nie zu einer politischen Kraft geworden, die entscheidenden Einfluss auf die Regierung des Landes genommen hätte. Er war eher eine Intellektuellenbewegung, und wenn er politische Formen annahm, dann ausschließlich, indem sich die eine oder andere Person persönlich an der Regierung beteiligte. Die polnischen Konservativen bildeten keine eigene Partei, die ein wichtiges Element der politischen Bühne gewesen wäre, wie zum Beispiel in Großbritannien. Dort hängt die Entstehung der gesellschaftlichen Rechten vor allem mit einer Abkehr von Margaret Thatchers Modell zusammen. Trump vollzieht die gleiche Kehrtwende, indem er sich von den wirtschaftlichen Rezepten aus Ronald Reagans Zeiten entfernt.

Es geht also vor allem darum, die Postulate des freien Marktes zu verwerfen und die Festlegung auf eine eingeschränkte Rolle der Regierung zu lockern. Was noch? Die Rückkehr zum Isolationismus in den internationalen Beziehungen?

Hinzu kommt noch eine veränderte Auffassung von der Rolle des Staates. Im Programm der gesellschaftlichen Rechten werden die staatlichen Instrumente zu einem wichtigen Mittel der Einflussnahme nicht nur auf Arbeitsmarkt und Wirtschaft, sondern auch auf Fragen der Identität, was sich besonders am Verhältnis zu Migration und zum Konzept der Multikulturalität erkennen lässt. Die gesellschaftliche Rechte ist die Antwort auf die Probleme des zeitgenössischen Liberalismus, vor allem des Neoliberalismus im wirtschaftlichen Bereich. Aber nicht nur. Ein Punkt dabei ist auch die Schwäche des Liberalismus im Umgang mit den heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Herausforderungen.

Die derzeitige Situation ist so, dass wir nicht weiter von etwas sprechen können, was ein typischer Konservativer unter normalen Bedingungen befürworten würde: dass wir unsere Institutionen pflegen, gießen und zurechtschneiden müssen.

Marek A. Cichocki

Meiner Meinung nach drückt sich Konservatismus vor allem in einer Wertschätzung für althergebrachte Traditionen und alteingesessene Institutionen aus. Was Polen betrifft, so war es in der Zeit der Volksrepublik schwierig mit der Wertschätzung für Institutionen. Deshalb behauptete Timothy Snyder 1997, die polnischen Konservativen seien in Wirklichkeit Liberale, da sie sich andernfalls für eine Konservierung Polens in einem Zustand wie Anfang der 1990er Jahre hätten aussprechen müssen, was aus augenscheinlichen Gründen absurd gewesen wäre.

Der polnische Staat und die polnische Politik sind nach wie vor mit dem Problem der Diskontinuität in der Geschichte Polens konfrontiert, was zur Folge hat, dass eine Denkweise in konservativen Kategorien bei uns immer wieder auf die verschiedensten Paradoxe trifft. Es ist schwer, Polen mit dem britischen Maßstab des Konservatismus zu messen, wo der Staat und seine Institutionen seit mindestens der Glorreichen Revolution Ende des 17. Jh. ihre Kontinuität bewahren.

In Polen gibt es kein in sich stimmiges konservatives Programm, ist doch jenes Dilemma der Diskontinuität unlösbar. Deshalb wollten nach 1989 auf der einen Seite Konservative wie Bronisław Łagowski [1] die Kontinuität der Volksrepublik und der Dritten Polnischen Republik [seit dem Ende der Volksrepublik 1989; Anm. d. Übers.] konservieren, während wir auf der anderen Seite eine starke Strömung haben, die sich auf die Tradition des revolutionären Konservatismus und die Faszination für zum Beispiel Carl Schmitt beruft. In dieser Sichtweise ist der Konservatismus keine Vision mehr, das Gewesene zu bewahren, sondern eher eine Methode, Verlorenes wiederaufzubauen.

In seinem Essay „Republicans for Revolution“ von 2012 stellt der amerikanische politische Philosoph Mark Lilla sein Verständnis von Konservatismus vor. Er sagt darin, Konservative und Liberale seien sich uneins vor allem bei der Natur des Menschen – Erstere legten die Betonung auf die gesellschaftliche Verwurzelung des Individuums und dessen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, die sie über individuelle Rechte stellten. Der Konflikt drehe sich also darum, welche Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens der menschlichen Natur eher entsprächen.

Doch Lilla unterscheidet auch noch zwischen Revolutionären und Reaktionären. Seiner Ansicht nach betrifft der Konflikt hier das Verhältnis zu geschichtlichem Wandel, wobei der Reaktionismus zwei Formen annehmen könne. Im ersten Fall ist das Ziel einfach die Wiederherstellung der vorrevolutionären Ordnung, also mit andere Worten: die Rückkehr zur Vergangenheit. Der zweite Typ Reaktionär hält eine solche Rückkehr für unmöglich. Deswegen setzt er sich die Zerstörung des herrschenden Stands der Dinge zum Ziel, in der Hoffnung, dass aus der Asche etwas Besseres entsteht.

Herr Cichocki, Sie sprechen von einem revolutionären Konservatismus, doch es scheint, als habe Lilla zufolge eine solche Haltung nichts mit dem Konservatismus gemein.

Die polnische politische Kultur krankt seit mindestens 300 Jahren an einem großen Problem, das man „die Sehnsucht nach der Realität eines starken Staates“ nennen könnte. Wenn die gesellschaftliche Rechte in Polen nach einem geschichtlichen Bezugspunkt sucht und sich dabei von jener Sehnsucht nach einem starken Staat leiten lässt, kann sie natürlicherweise nur nach einer einzigen konkreten historischen Tatsache greifen – der Zweiten Polnischen Republik [von der Wiedererlangung der Souveränität 1918 bis zum Kriegsbeginn 1939; Anm. d. Übers]. Deswegen erwähnt sie so gern die Reindustrialisierung, das neue Gdynia [Gdingen], die neue Zentrale Industrieregion COP [2]. In diesem Sinne kann man die gesellschaftliche Rechte als reaktionär ansehen, obwohl man besser sagen sollte: retrospektiv. Andererseits ist das Vorgehen der PiS – wie bei Trump oder den britischen Konservativen – ein Versuch, in die Zukunft zu schauen und Phänomenen wie Globalisierung, wachsender Ungleichheit oder kulturellem Wandel die Stirn zu bieten.

Finden Sie denn, dass die Liberalen das nicht tun?

Die grundlegende Schwäche des westlichen Liberalismus – an der er immer wieder bei Wahlen scheitert – besteht drin, dass er nach wie vor auf die Wahrung des Status quo fixiert ist. Die „liberalen Eliten“ in den USA, Europa und Polen wollen ganz einfach, dass alles so bleibt, wie es war. Indessen ist ihnen die Situation vollkommen entglitten, meinen doch immer mehr Menschen, um überhaupt irgendwelche Probleme lösen zu können, müsse man den Status quo fallenlassen. Und dagegen helfen keinerlei Beschwörungen oder Warnungen. Hillary Clinton sagte im Wahlkampf, sie sei das Letzte, was zwischen den USA und der Apokalypse stehe. Verlorene Liebesmüh, denn Millionen Amerikaner finden, dass irgendetwas sich grundlegend ändern müsse. In diesem Sinne ist die PiS nicht reaktionär – sie wendet sich dem zu, was kommt.

Wollen Sie damit sagen, die Liberalen seien heute konservativer als die Rechte?

Reaktionärer – ihr Programm ist nach wie vor auf die Rettung dessen ausgerichtet, was ist, unabhängig von den Stimmungen in der Gesellschaft. Die Menschen glauben keinen Warnungen mehr, sie wollen Veränderung und sind bereit, das damit verbundene Risiko zu tragen. Und deshalb wählen sie die gesellschaftliche Rechte.

Überall?

Eine Ausnahme sind Frankreich und Deutschland; der Front National und die Alternative für Deutschland sind extrem reaktionäre Parteien, deren Anhänger am liebsten in die Zeiten der Großmacht Frankreich unter Napoleon III. bzw. ins nationalistische Deutschland Bismarcks zurückkehren würden. In diesem Sinne unterscheiden sich diese Bewegungen von der gesellschaftlichen Rechten in Polen, Großbritannien oder den USA. Sie wollen der Zukunft entfliehen.

Die „liberalen Eliten“ in den USA, Europa und Polen wollen ganz einfach, dass alles so bleibt, wie es war.

Marek A. Cichocki

Sie sagen, die gesellschaftliche Rechte sehne sich nach einem starken Staat – doch die Art, wie sie ihre Änderungen vornimmt, schwächt den Staat. Das sagt unter anderen Kazimierz Michał Ujazdowski [3], ein eingefleischter Konservativer.

Vielleicht bleibt Kazimierz Ujazdowski ja auf diese Weise seinen konservativen Überzeugungen treu – ich weiß aber nicht, wie nah er damit der Realität kommt. Der Wahlsieg der PiS in Polen sowie auch die Erfolge der gesellschaftlichen Rechten anderswo auf der Welt zeigen, dass die Bürger einen radikalen Umbau des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Lebens fordern.

Auch wenn weder sie noch ihre Parteien wissen, in welche Richtung so ein Umbau gehen soll …

Das ist natürlich ein großes Risiko: Es kann sich herausstellen, dass bei diesen Änderungen nichts Gutes herauskommt – oder einfach etwas Schlechteres als das bisher Gewesene. Jedoch ist das gewissermaßen eine Wette mit dem Schicksal, die die Menschen aufzunehmen bereit sind.

Und nicht nur bei der Rechten. Heute behauptet nicht mehr nur die polnische Rechte, dass eine Änderung der Verfassung nötig sei. Die derzeitige Situation ist so, dass wir nicht weiter von etwas sprechen können, was ein typischer Konservativer unter normalen Bedingungen befürworten würde: dass wir unsere Institutionen pflegen, gießen und zurechtschneiden müssen. Die Mythen und der Konsens, auf denen die bisherige Ordnung aufbaute, verlieren zunehmend ihre Gültigkeit. Man kann diesen Prozess verlangsamen, man kann so tun, als wäre nichts geschehen. Doch die bereits entstandenen Risse lassen sich nicht mehr übertünchen. Das heißt nicht, dass wir alles niederbrennen müssen, aber wir sind bereit für große Veränderungen.

Und die PiS weiß, wie sie diese Veränderungen einführen soll?

Das habe ich nicht gesagt. Ich bin mir aber sicher, dass derjenige, der nach der Regierungszeit der PiS die Macht übernimmt – wer immer das sein mag –, nicht mehr von einer Rückkehr zu den vorherigen Bedingungen wird sprechen können.

Der Moment der Revolution ist gekommen?

Ja. Die Ereignisse in Polen, Europa und den USA zeigen uns deutlich, dass die Ordnung, in der wir bisher gelebt haben, einen ganz wesentlichen Wandel durchlaufen wird.

Ich verstehe das Bedürfnis nach Veränderung, doch möchte ich noch einmal auf die Frage nach dem „Wie?“ zurückkommen. Will jemand einen Staat so revolutionieren wie die PiS, bringt er die staatlichen Institutionen in Misskredit und erschüttert das Vertrauen in den Staat. Wie kann man verhindern, dass die nächsten Regierungen sich ein Beispiel an der PiS nehmen und wieder alles auf den Kopf stellen? So etwas kann auf lange Sicht nicht funktionieren.

Natürlich kann man bestimmte Dinge besser oder schlechter machen. Aber wir sind nicht nur nicht in der Lage, beim Status quo zu bleiben – wir sollten es auch nicht. Mit den Veränderungen ist natürlich ein gewaltiges Risiko verbunden, man kann viel verderben. Zugleich ist das mit Sicherheit die einzige Chance, etwas Neues aufzubauen.

Für einen Konservativen vom Schlag Kazimierz Ujazdowskis ist das ein großes Problem, da er schließlich bewahren und kultivieren möchte. Doch was heißt das schon, wenn der historische Moment, in dem wir uns befinden, uns in Richtung Wandel drängt.

Und was sieht ein Konservativer vom Schlag Marek Cichockis Gutes an den Reformen der derzeitigen Regierung?

Das allgemeingültige Verständnis von Gerechtigkeit hat eine wichtige Veränderung durchlaufen. Ich denke dabei vor allem an die veränderten Mechanismen der Umverteilung. An die Frage, ob sich das in eine tiefergehende Konzeption umsetzen lässt. Diese muss berücksichtigen, dass gesellschaftliche Einigkeit nicht einzig und allein auf einer mechanischen Umverteilung beruht, sondern auch das Bewusstsein einer bestimmten Lebensweise ist, die wir zu verteidigen bereit sind.

Eine positive Auswirkung ist auch, dass wir überhaupt miteinander über Konzepte für eine Veränderung des Systems sprechen. Noch vor wenigen Jahren bedeutete die Frage, ob unsere Verfassungsordnung wirklich das Wahre sei, eine Entgleisung, als hätte man zu Anfang der 1990er Jahre den Balcerowicz-Plan [4] zu kritisieren gewagt. Heute sind wir in einer völlig anderen Situation – nach alldem, was geschehen ist, werden wir früher oder später unser Staatssystem neu konstruieren müssen.

Die Frage ist nur, ob die Menschen nach alldem, was zur Zeit geschieht, noch willens sein werden, miteinander zu diskutieren. Die PiS-Politiker greifen nicht nur staatliche Institutionen an, sondern bezichtigen auch politische Gegner persönlich der Korruption oder sogar des Verrats an den Staatsinteressen. Einer der bekanntesten Aktivisten im Nonprofit-Bereich in Polen sagte mir kürzlich: „Ich denke nur immer daran, dass all das, was heute geschieht, irgendwann wieder verziehen werden muss.“ Viele Menschen werden nicht verzeihen können.

Hier kommen wir zu Fragen der politischen Psychologie. Sie verkennen den Grad, in dem sich die Vertreter der derzeitigen Regierung schlecht und ungerecht behandelt fühlten und fühlen. Einem Außenstehenden kann das natürlich unverständlich erscheinen – schließlich hat die Partei Recht und Gerechtigkeit einen spektakulären Wahlerfolg erzielt, hat sowohl die Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahl gewonnen. Die Partei hat alles erreicht, was zu erreichen war. Dennoch werden ihre Vertreter nach wie vor von einem Gefühl der ungerechten Behandlung, der Ausgrenzung verfolgt, das sie in den vorangegangenen Jahren erfahren haben – und selbst während der ganzen Zeit des Systemwandels.

Worauf wollen Sie hinaus?

Wie beide Seiten einander betrachten und welche Gefühle sie hegen, hat enormen Einfluss auf politische Entscheidungen. Wenn ich mir die heutige Opposition so ansehe, habe ich den Eindruck – und bitte glauben Sie mir, ich sage das ohne Genugtuung –, dass da ein fortschreitender intellektueller Verfall im Gange ist. Als lasse die Opposition sich nur von zwei Prinzipien leiten: immer mehr und immer dümmer.

Irgendwann muss das ein Ende haben, irgendwann muss man den Versuch unternehmen, sich ernsthaft mit der Realität auseinanderzusetzen – und zwar nicht nur, indem man immer absurdere Bewegungen, Initiativen, Parolen und Proteste ersinnt. Denn das führt zu nichts – außer dass die Emotionen hochkochen. Die Gegner der PiS müssen begreifen, dass es keine Rückkehr zum Vergangenen mehr gibt. Es wird keine Dritte Republik in der Form mehr geben, wie sie bis zum Anfang des 21. Jh. existierte.

Fußnoten:

[1] Bronisław Łagowski – Philosoph, Ideenhistoriker, Essayist, Gesellschaftskritiker, der sich auch mit unbequemen Meinungen nicht zurückhielt; Anm. d. Übers.

[2] Die Zentrale Industrieregion COP [Centralny Okręg Przemysłowy] war eine 60.000 km² umfassende Region der Schwerindustrie, die in den Jahren 1936-1939 im damaligen südlichen Mittelpolen angelegt wurde. Sie war eine der größten wirtschaftlichen Unternehmungen der Zweiten Republik und diente dem Ziel, das wirtschaftliche Potenzial des Landes zu steigern, die Schwer- und Waffenindustrie auszubauen sowie auch die Arbeitslosigkeit infolge der großen Wirtschaftskrise zu minimieren.

Gdynia [Gdingen] wiederum ist eine Hafenstadt an der Ostsee. Bis in die 1920er Jahre war Gdynia eine eher kleine Fischersiedlung. Nachdem Polen seine Souveränität wiedererlangt hatte, beschloss die polnische Regierung, an diesem Ort einen Seehafen zu errichten, um sich unabhängig vom Hafen der Hansestadt Gdańsk [Danzig] zu machen. Der schnelle Ausbau Gdynias war – neben dem COP – ein weiteres Symbol für Fortschritt und Modernisierung im unabhängigen Polen.

[3] Kazimierz Michał Ujazdowski – Mitglied des Europäischen Parlaments, ehemaliger Politiker der polnischen Regierungspartei PiS. Nachdem die PiS an die Macht kam, kritisierte Ujazdowski die Parteiführung für ihre Reformen, weil sie die in Polen herrschende Verfassungsordnung zunichte machen würden – er übte u.a. Kritik an der Übernahme der politischen Kontrolle über das Verfassungsgericht. Im Januar 2017 trat er aus der PiS aus.

[4] Auf Prof. Leszek Balcerowicz zurückgehender strikter Plan zur Umstellung der Zentralplanwirtschaft Polens auf die Marktwirtschaft.

Fot. Alexasfotos. Źródło: Pixabay.com [CC 0].

Übersetzt von Lisa Palmes.

Politics /

Anarcho-Patriotismus

Iza Mrzygłód, Łukasz Bertram · 31 May 2017

Der Kult um die „Verstoßenen Soldaten“ entwickelt sich heute zu einem Grundprinzip der staatlichen Gedächtnispolitik. Dass dabei nicht zwischen Helden und Verbrechern differenziert wird, ist nur eine der Gefahren, die sich daraus ergeben. Es reicht jedoch nicht, den Mythos der „Verstoßenen Soldaten“ zu kritisieren – eine durchdachte und attraktive Alternative ist notwendig.

Im November 2015, als auf einer ersten diesbezüglichen Versammlung die Strategien einer polnischen Geschichtspolitik erarbeitet werden sollten, stellte Prof. Jan Żaryn, Senator der PiS-Partei, fest, dass „wir als Polen alle bereits Kinder der «verstoßenen Soldaten» sind“. Damit meinte Żaryn die Zehntausenden von polnischen Soldaten, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges in konspirativen Organisationen den bewaffneten Kampf gegen die von der UdSSR aufgezwungene kommunistische Regierung fortsetzten. Heute scheint sich jene Geschichte als Grundprinzip der Geschichtspolitik zu etablieren, die von den gegenwärtig Regierenden betrieben – oder zumindest angestrebt – und von sympathisierenden Kreisen unterstützt wird. Präsident Andrzej Duda nahm vergangenes Jahr an einer Feier teil, während derer die Grabstätte eines bekannten Soldaten des antikommunistischen Untergrundes, Obst. Zygmunt Szendzielarz „Łupaszko“ (verhaftet, zum Tode verurteilt und 1951 im Gefängnis erschossen), ehrenvoll auf den Militärfriedhof des Warschauer Powązki-Friedhofs verlegt wurde. Bei diesem Anlass sagte Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, dass Szendzielarz, Befehlshaber der 5. Wilnaer Brigade der Heimatarmee (AK), ein Vorbild für die junge polnische Generation sein sollte.
Zunehmend lauter wird außerdem die Klage, die Mitglieder des antikommunistischen Untergrunds seien vergessen – und damit eben auch „verstoßen“ – worden, und zwar in doppelter Hinsicht: zuerst durch die verlogene Propaganda der Kommunisten, und nach 1989 von den Linksliberalen, die die öffentliche Meinung dominiert hätten.

Die Geschichte der „verstoßenen Soldaten“ stammt natürlich nicht aus der Feder der PiS-Partei. Über ihr Entstehen, ihre vermehrte Ausbreitung und die Etablierung diverser Formen des Gedenkens – von bedruckten T-Shirts, Marathonläufen und Fanmeilen bis hin zu Denkmälern – wird in absehbarer wahrscheinlich Zeit viel geschrieben werden. Mit Sicherheit lässt sich jetzt schon sagen, dass diese Form aktiven Gedenkens trotz der günstigen Rahmenbedingungen, die die vorige (und auf der Ebene lokaler Selbstverwaltungen auch die gegenwärtige) Regierung für sie schufen, wie eine Bewegung von unten wirkt. Der Mythos der „verstoßenen Soldaten“ entfaltet eine starke Resonanz bei vielen Menschen in Polen, besonders der jüngeren Generation, die nach wie vor bestimmte Bezugspunkte braucht. Da die Partei Recht und Gerechtigkeit ihre Geschichtspolitik auf diesen Mythos gründet, nimmt sie einerseits Einfluss auf gesellschaftliche Einstellungen und kommt andererseits einem allgemeinen Bedürfnis entgegen. Das Problem ist nur, dass man nicht allzu tief bohren muss, um unter der Oberfläche des Mythos die mit ihm verbundenen Gefahren zu erkennen.

Tod den Feinden der Anarchie

Der Kult um die „verstoßenen Soldaten“ soll weniger den Soldaten des antikommunistischen Untergrunds Gerechtigkeit widerfahren lassen und an die Opfer des Kommunismus erinnern, als vielmehr neue Helden kreieren, häufig zugeschnitten auf den Bedarf der Partei. Doch welche Werte stehen hinter jenen Helden? Dienen diese Werte der Förderung von zivilgesellschaftlich und sozial orientierten Einstellungen? Dies darf ernsthaft bezweifelt werden. Die Soldaten des antikommunistischen Untergrunds schreiben sich wunderbar in den romantischen Märtyrer-Mythos von den polnischen Aufständen und dem Kampf gegen die Tyrannei ein – sind sie doch standhaft, tapfer, zwar zur Niederlage verurteilt, aber bereit, höchste Opfer zu erbringen. Dargestellt als Erben der polnischen Freiheitskämpfe des 19. Jahrhunderts und als Nachgeborene des Warschauer Aufstandes, verkörpern sie gleichzeitig Rebellion, Außenseitertum und Anarchie, sind geradezu die Apotheose eines sozialen Egotismus und mangelnden Verantwortungsbewusstseins. Deshalb passen sie so gut zu systemfeindlichen und Anti-Establishment-Bewegungen – nicht durch Zufall waren sie auf den Wahlkampf-T-Shirts von Paweł Kukiz zu sehen [1] und stellen im Pantheon des Nationalradikalen Lagers (ONR) wichtige Figuren dar [2].

Allein die Konstruktionsweise des besagten Mythos verursacht ein Werte- und Begriffschaos. Gut erkennen lässt sich das am Text einer regierungsnahen Journalistin der „Gazeta Polska Codziennie“, Katarzyna Gójska-Hejke, in dem sie einen unzweifelhaften Helden, den Auschwitz-Häftling Witold Pilecki, im selben Atemzug mit dem Verbrecher und Mörder Romuald Rajs „Bury“ nennt, dessen Kampfeinheit etwa 80.000 wehrlose Einwohner orthodoxer Dörfer ermordete. Alles wird in einen Topf geworfen. In der Geschichte von den „Verstoßenen“ wird nicht differenziert zwischen Soldaten, die im Wald blieben und mit der Zeit anfingen, Bauern auszurauben, und Soldaten, die dem Kommunismus Widerstand leisten wollten, aber keinen Sinn in der Fortsetzung eines bewaffneten Kampfes mehr sahen. Das lässt den gefährlichen Eindruck entstehen, Tapferkeit und Antikommunismus könnten alle moralischen Prinzipien ersetzen. Außerdem birgt es eine weitere Gefahr: Kommt es jemandem ohne entsprechende historische Bildung zu Ohren, dass die Kriegshelden Pilecki oder Gen. Emil Fieldorf „Nil“ [3] nicht am bewaffneten Kampf gegen die Kommunisten beteiligt waren, aber dennoch von diesen ermordet wurden – sich also quasi in dieselbe Gruppe einordnen wie „Bury“, von dessen Verbrechen er irgendwo gehört hat –, könnte dieser Jemand versucht sein, alle diese Figuren negativ zu bewerten.

Eine derart konstruierte Geschichte von standhaften Helden besitzt auch eine gewaltige ausgrenzende Kraft – auffällig ist vor allem der Konflikt, der zwischen jenem Mythos und dem Gedenken lokaler Gemeinschaften entsteht, erinnern diese sich doch an die Erfahrungen von Bauern und ethnischen Minderheiten, die in der Vergangenheit Opfer von Gewalt seitens der erwähnten demoralisierten „Waldtruppen“ von Aufständischen geworden sind. Jüngst gab es entschiedenen Widerstand gegen den Versuch nationalistisch gesinnter Kreise, in der zu einem Viertel von Belarussen bewohnten Stadt Hajnówka das Gedenken des bereits erwähnten Romuald Rajs „Bury“ zu ehren. Von einem solchen Gesichtspunkt aus wird der Status von Minderheiten in der Gesellschaft problematisch. Deutlich wird das ebenfalls bei Negativwertungen – als Feinde gelten durchweg Sowjets und Kommunisten, d.h. „Verräter“. Als Opponenten gelten dann auch, was weniger offensichtlich ist, alle, die sich nach dem Krieg gegen den bewaffneten Widerstand entschieden haben, beispielsweise, weil sie sich am Wiederaufbau des Landes oder an der Bewahrung der polnischen Kultur vor der Sowjetisierung beteiligen wollten. Ein manichäisches Bild von Polen nach dem Krieg verzerrt gänzlich die wesentlich komplexere Realität jener Zeit und entwertet die Haltung eines großen Teils der polnischen Gesellschaft.

Keine Angst vor Helden

Sollte man also die gerade erst errichteten Denkmäler für die „verstoßenen Soldaten“ wieder einreißen? Nein, das ist nicht der Punkt. Zweifellos sollte man diese Menschengruppe in das kollektive Gedächtnis zurückholen und den klammheimlich in Sammelgräbern verscharrten Ermordeten ein würdigeres Begräbnis geben, doch wäre es angemessener, den Ehrensockel gegen aufklärerischen Museumsunterricht einzutauschen, der die Tragik in den Entscheidungen jener Generation und das Grauen der Nachkriegszeit zeigen würde.

Dass man sich auf die ungleichen und nicht eindeutigen Haltungen innerhalb der Gruppe der „verstoßenen Soldaten“ angemessen beziehen kann, bewies jüngst die junge linke Partei Razem [dt. Gemeinsam], die zum nahenden Nationalen Gedenktag für die Verstoßenen Soldaten, der am 1. März begangen wird, eine Zeichnung veröffentlichte, auf der ein Bild Pileckis mit der Unterschrift „Ruhm den Helden“ einer Fotografie „Burys“ mit der Unterschrift „Schande den Verbrechern“ gegenübergestellt war. Damit wurde ein Versuch unternommen, den Sumpf des polarisierten Diskurses zu umgehen – der Zwangslage zu entkommen, in der jeder, der die moralischen Werte oder den Sinn des Kampfes mancher „Verstoßener“ anzweifelt, als „Linksradikaler“ oder „Kommunistenschwein“ beschimpft wird, was in der Sprache der Rechten der höchsten Beleidigung gleichkommt, in der aber auch jeder, der seine Bewunderung und Achtung für Pilecki oder Fieldorf bekennt, abschätzig als Nationalist oder Martyriums-Fanatiker bezeichnet wird.

Eine Rhetorik und ein Handeln im Sinne eines idealisierten Bildes von der polnischen Nation rufen nämlich unüberlegte Reaktionen auf der anderen Seite der politischen Debatte in Polen hervor. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass für viele Kommentatoren – oder auch nur für Menschen, die mit der politischen Rechten nichts zu tun haben – allein der Gedanke eines institutionalisierten Narrativs über die Gesamtheit der polnischen Geschichte aus dem Zauberhut der PiS-Partei stammt und rein daher verdammt werden müsse. Unter diesen Voraussetzungen gerät eine solche Idee per se unter den Verdacht des Nationalismus und Obskurantismus, was wiederum mit der Überzeugung einhergeht, dass der Staat sich so fern wie möglich von Geschichte halten sollte.

Auch wenn die Befürworter kritischer Geschichtsschreibung und die Gegner jeder Geschichtspolitik alle Ehrensockel lieber beseitigt sähen, ist das Bedürfnis nach Vorbildern und Mythologien übermächtig und häufig auch unabdingbar für die Verankerung des Einzelnen in der Welt, für die Festigung seiner eigenen Identität, und muss deshalb angemessen kultiviert werden. Es würde sich also lohnen, Helden zu kreieren, die Werte wie Zivilcourage, Dialogbereitschaft und Offenheit für andere Kulturen, Verantwortungsbewusstsein und Engagement für die Gemeinschaft verkörpern würden. Helden, deren Gedenken eine Diskussion über das Funktionieren der heutigen Gesellschaft anstoßen würde und eine Reflexion über die Möglichkeiten wäre, wie sich Gemeinschaft gestalten ließe – Helden, die zugleich auch etwas Anziehendes und Unkonventionelles an sich hätten, die trotz allem ein Quantum inspirierender Verrücktheit besäßen und eine Gesinnung, die „gegen den Strom“ schwimmt. Wäre dann nicht – bleiben wir doch im Kontext der Kriegserfahrung – Jan Karski ein solcher Kandidat, der heldenhafte Kurier des polnischen Untergrundstaates während des Krieges, ein eingefleischter Patriot und kühler Denker zugleich, ein „polnischer Katholik“, Bindeglied zwischen dem Narrativ der Mehrheit und dem Gedenken an die polnischen Juden? Ja, tatsächlich, der polnische Staat hat in letzter Zeit viel Mühe darauf verwendet, ihn der Welt in Erinnerung zu rufen. Doch warum ist es dann nicht gelungen, ihn „auf den Ehrensockel der T-Shirts zu erheben“?

Anmerkungen
[1] Sänger, Chef der populistischen Bewegung Kukiz `15, gegenwärtig die dritte Kraft in der polnischen Politik (8,8% Stimmen in den Parlamentswahlen im Jahr 2015).
[2] Eine Organisation der Ultrarechten, die in ihrem Namen und ihrer Ideologie an die politischen Gruppierungen der Vorkriegszeit anknüpft, die sich am italienischen Faschismus orientierten.
[3] Anführer der Sabotageeinheit der Heimatarmee (AK) während des Zweiten Weltkrieges. 1945-47 in die UdSSR deportiert, aber nicht enttarnt. Verhaftet 1950 und zum Tode verurteilt, erhängt im Februar 1953.

Il. Magdalena Walkowiak-Skórska.

Übersetzt von Lisa Palmes.

Politics /

Vielleicht ging es uns zu gut?

Karolina Wigura und Łukasz Pawłowski im Gespräch mit Marek Belka · 31 May 2017

„Bei der ‚Revolution‘, die die PiS durchführt, werden Reserven aufgebraucht, die über Jahre hinweg angehäuft und an verschiedenen Stellen verstaut wurden. Sie werden immer weniger, dabei geböte die Lage Polens und der Europäischen Union, dass es immer mehr würden“, sagt der frühere polnische Ministerpräsident, Finanzminister und Präsident der polnischen Nationalbank.

Łukasz Pawłowski: Wie wird die polnische Wirtschaft im kommenden Jahr dastehen? Einerseits ist zu hören, das BIP wachse weniger als erwartet, ebenso die Investitionen. Andererseits ist die Arbeitslosigkeit in Polen um 9 Prozent gefallen, die Regierung verspricht einen Investitionsschub ab Mitte nächsten Jahres.

Marek Belka: Wirtschaftsprognosen sind immer schwierig, aber derzeit ist das eigentlich Wahrsagerei – wegen der vielen Unbekannten im Zusammenhang mit dem aktuellen Geschehen sowohl weltweit als auch in der polnischen Politik. 2016 ist das Investitionsniveau deutlich gefallen, besonders im öffentlichen Sektor, deswegen ist ein Anstieg im kommenden Jahr nicht besonders schwer vorherzusagen. Klar ist auch, dass das Wirtschaftswachstum langsamer sein wird, als wir vor einiger Zeit erwarteten.

Karolina Wigura: Bedeutet das Schwierigkeiten bei der Erreichung der Haushaltsziele?

Das braucht sich auf die Haushaltslage nicht auszuwirken, weil ein Jahr nach mehreren guten Jahren nicht viel ausmacht; wichtig ist zudem die Struktur des Wachstums. Wächst z.B. der Konsum, dann ist das gut für den Haushalt, weil die Mehrwertsteuereinnahmen steigen.

ŁP: Warum ist das so? Jarosław Kaczyński, der Chef von Recht und Gerechtigkeit, hat in einem Fernsehinterview gesagt, dass die Unternehmer nicht investieren, weil sie der jetzigen Regierung nicht gewogen sind und auf einen Regierungswechsel warten.

Ursache ist vor allem die politische Unsicherheit. Von Regierungsseite werden sehr unterschiedliche Signale ausgesendet. Vor kurzem sah ich im Fernsehen eine Wirtschaftssendung, in der alle entweder begeistert oder besorgt waren, dass der stellvertretende Ministerpräsident Mateusz Morawiecki [1] so große Macht habe. Aber das stimmt nicht, weil die Wirtschaft auch von Schritten in anderen Bereichen beeinflusst wird: Landwirtschaft, Justiz, Wissenschaft, Umwelt. Daher glaube ich nicht, dass Minister Morawiecki Luxusbedingungen im Amt hat. Und dann noch die Aussage neulich von Jarosław Kaczyński…

ŁP: Sie meinen das Interview für die Agentur Reuters, in dem er sagte, er sei bereit, das Wirtschaftswachstum der Umsetzung seiner „eigenen Vision“ von Polen zu opfern?

Diese Worte bringen den stellvertretenden Ministerpräsidenten Morawiecki in eine verzwickte Lage. Er ist schließlich das Gesicht des Wirtschaftswachstums und der Modernisierung. Und nun zeigt sich, dass die Wirtschaft gar nicht am wichtigsten ist. Entscheidend ist eine „Vision“. Jarosław Kaczyńskis Aussage klingt fast wie das Versprechen einer, um es wohlwollend zu umschreiben, suboptimalen Politik.

ŁP: Das dürfte nicht überraschen. Seit langem ist bekannt, dass die Wirtschaft für Jarosław Kaczyński nicht an erster Stelle steht…

Natürlich, die Worte sind inhaltlich keine Sensation. Sensationell ist, dass sie überhaupt gefallen sind. So etwas sagt man einfach nicht!

KW: Kann man sagen, dass die Politik dieser Regierung die Wirtschaftslage in hohem Maße beeinflusst? Oder hängt der Zustand der polnischen Wirtschaft von so vielen Faktoren ab, dass der Einfluss der Regierung tatsächlich sehr begrenzt ist?

Wirtschaftsprozesse haben eine große Trägheit. Die gute Arbeitsmarktlage ist das Ergebnis mehrerer Vorjahre. Das Inflationsniveau ebenso. Daran hat die jetzige Regierung keinen Anteil. Dagegen hängt die Absorption von EU-Mitteln, die, wie sich erweist, eine große Bedeutung für die polnische Wirtschaft hat, eng mit der Wirtschaftspolitik zusammen.

KW: Können Sie ein Beispiel geben?

Der CBA-Einsatz in den Selbstverwaltungen der Woiwodschaften [2]. Meinen Sie, dass die Woiwodschaftsmarschälle jetzt langfristige Investitionsvereinbarungen über große Beträge unterschreiben werden? Das sind umfangreiche Dokumente, in denen die Zentralmacht immer irgendwelche Unregelmäßigkeiten finden und etwas beanstanden kann, wenn sie nur will. Also wartet man besser.

Aber in der Tat: ebenso wichtig, vielleicht sogar wichtiger, für den Zustand unserer Wirtschaft ist, was um Polen herum passiert. Und es passiert sehr viel sehr Gefährliches.

KW: Der Brexit?

Der Brexit hat politisch große Bedeutung, nicht wirtschaftlich. Dagegen kann der „Trumpismus“ entscheidenden Einfluss auf die Wirtschaft Amerikas, der Welt, Europas und Polens haben – in dieser Reihenfolge.

ŁP: Der Brexit wird keinen größeren Einfluss auf die polnische Wirtschaft haben? Mateusz Morawiecki ist kürzlich nach London gereist, um britische Firmen des Finanzsektors zu Verlagerungen nach Polen zu ermuntern.

Ich will nicht ausschließen, dass ein Teil der Finanzdienstleistungen nach Polen verlagert wird, aber wenn irgendwelche Städte vom Brexit und Londons Bedeutungsverlust profitieren, dann sind das nacheinander: New York, Singapur, Schanghai, und in Europa: Dublin. Ganz einfach, weil Dublin nahe an London liegt und dort Englisch gesprochen wird.

ŁP: Und Warschau nicht?

Ich war kürzlich in London und habe auch für Investitionen in Polen geworben. Bei einer Veranstaltung ist ein Zuhörer aufgestanden und hat gesagt: „Aber bei Ihnen werden Schwarze verprügelt!“

ŁP: Wie bitte?!

Er hat das nicht genau so formuliert, aber Übergriffe mit rassistischem Hintergrund angeführt. Ich bestätigte, dass es sie gibt, worauf er sagte, dass seine Firma viele Hindus beschäftigt, so dass eine Verlagerung nach Polen für sie schlicht gefährlich wäre. Ich erklärte, dass das Einzelfälle sind, und dass es in anderen europäischen Ländern sicher viel mehr davon gibt. Aber die Frage wurde gestellt. Und weshalb? Nicht etwa, weil  in Polen tatsächlich massenhaft Ausländer verprügelt würden, sondern weil, wenn es dazu kommt, die polnischen Behörden das nicht rücksichtslos und bedingungslos verurteilen, so, wie etwa die britischen Minister Angriffe auf dortige Polen verurteilt haben. Entweder sie schweigen, oder sie versuchen es zu bagatellisieren, was, wie man sieht, Investoren abschrecken kann. Alles hängt miteinander zusammen.

KW: Kommen wir auf die Bedrohung durch den „Trumpismus“ zurück…

Der Trumpismus kann zwei Formen annehmen. Erstens eine Destabilisierung des Handels. Trump hat bereits angekündigt, dass er am Tage seiner Amtseinführung die Unterschrift der Vereinigten Staaten unter der Transpazifischen Partnerschaft zurückzieht, also dem Freihandelsabkommen im pazifischen Raum. Eine Dummheit.

ŁP: Seine Wähler wollen es, und nicht nur sie.

Aber das ist eine Dummheit! Er versteht anscheinend nicht, dass sowohl dieses Abkommen als auch das Freihandelsabkommen mit Europa sich gegen China richteten, das bei keinem von beiden beteiligt ist. Der Gedanke war: die westliche Welt agiert gemeinsam, unterschreibt einen Partnerschafts- und Standardisierungsvertrag, und wenn das erst vollzogen ist, können wir aus einer starken Position heraus mit China verhandeln und ihm unsere Bedingungen diktieren.

Trump hat einen großen Teil des Wahlkampfes der Kritik an China gewidmet, und hier überlässt er den Chinesen das Feld. Er zieht sich zurück und hinterlässt ein Vakuum. Die Machthaber in Peking lachen sich bestimmt ins Fäustchen, denn sobald der neue Präsident dies tut, werden sie an all diese Länder mit einem eigenen Vorschlag für ein Abkommen herantreten, vielleicht sogar mit einem besseren.

ŁP: Und die zweite Folge des Trumpismus?

Ist noch wichtiger: das Haushaltsdefizit der Vereinigten Staaten wird wachsen, und damit die Zinssätze. Falls dieses Wachstum zu abrupt einsetzt, destabilisiert es die Geldpolitik der Europäischen Union. Die Europäische Zentralbank kann nicht ignorieren, was jenseits des Atlantiks vorgeht. Wenn die Amerikaner die Zinssätze anheben, wird die EZB sie mit Sicherheit nicht absenken. Es finden sich auch Ankündigungen, weniger sog. schlechte Aktiva von europäischen Banken anzukaufen. Das wiederum bedeutet ernste Schwierigkeiten für den italienischen Bankensektor und die gesamte italienische Wirtschaft. Ohne Italien aber ist die Eurzone in ihrer jetzigen Form schwer vorstellbar.

KW: Welche Bedeutung hat das für Polen?

Das wissen wir nicht genau, aber ganz sicher eine ungeheure. Aus einem einfachen Grund: 80 Prozent unseres Exports gehen in die Europäische Union, vornehmlich in die Länder der Eurozone. Jegliche Probleme dort sind für uns höchst bedeutsam.

Die EU macht derzeit eine beinahe existentielle Krise durch, was uns auch noch anders treffen wird. Das bekommen weder der stellvertretende Ministerpräsident Morawiecki noch Ministerpräsidentin Szydło bei offiziellen Begegnungen zu hören, aber einflussreiche europäische Wirtschafts- und Politikwissenschaftler sprechen heute immer lauter von der Notwendigkeit, den EU-Haushalt zu revidieren. Und dabei geht es nicht um den Haushaltsplan ab 2020, sondern um den jetzigen Haushalt. Die Italiener möchten, dass ein Teil der Strukturmittel für andere Zwecke verwendet wird.

KW: Zum Beispiel für Flüchtlinge?

Das gerade sind kleine Summen. Es geht eher um eine Förderung für soziale Reformen bei schwächeren Mitgliedern der Währungsunion. Bekanntlich ist die italienische Wirtschaft wegen hoher Arbeitskosten nicht konkurrenzfähig. Warum also sollte man ihnen diese nicht zum Teil erstatten?

ŁP: Nach demselben Prinzip, nach dem die EU die Landwirtschaft subventioniert? Ist das sinnvoll?

Aus dem Blickwinkel der italienischen Wirtschaft, oder gar der Stabilität der Eurozone – ja. Aus unserem Blickwinkel ist das eine große Bedrohung. Ich rechne aber damit, dass die für Polen vorgesehenen EU-Mittel nicht im nächsten, sondern bereits in diesem Haushaltsplan begrenzt werden.

ŁP: Und Sie wollen sagen, wenn es dazu kommt, ist die Innenpolitik dieser Regierung und die Stimmung, die sie um Polen erzeugt, eine der Ursachen?

Verursacht wird das alles von einer Verkettung mehrerer Umstände. Aber niemand wird mich davon überzeugen, dass das ostentative Fortnehmen des „EU-Lappens“ nicht kostspielig gewesen ist [3]. In Brüssel vergisst man das nicht.

Ich rechne damit, dass die für Polen vorgesehenen Mittel der Europäischen Union nicht im nächsten, sondern bereits in diesem Haushaltsplan begrenzt werden.

Marek Belka

KW: Die Abneigung oder das Misstrauen gegenüber Polen, das in den Köpfen vieler Westeuropäer existierte, hat endlich seine Bestätigung gefunden. „Wenn die Polen uns nicht achten, weshalb soll die EU ihnen dann Achtung entgegenbringen?“ Verhält es sich so?

Das ist nicht alles. Die EU stimmt womöglich in Kürze einer Aufhebung der Visumspflicht für Urkainer zu; dann werden sofort einige hunderttausend in Polen arbeitende Ukrainer mit Kleinbussen nach Deutschland fahren. Mit wem wird dann jemand wie Pesa [4] seine Züge und Straßenbahnen herstellen? Bestimmt nicht mit Polen, es sind keine mehr da, sie sind ausgewandert. Wer wird Motoren in der neuen Mercedes-Fabrik in Jawor einsetzen, deren Inbetriebnahme der stellvertretende Ministerpräsident Morawiecki vor kurzem mit solchem Pomp angekündigt hat?

Die Wirtschaftspolitik hat Einfluss auf mittel- und langfristige Wachstumsperspektiven. Aber viele Maßnahmen der Regierung liegen absolut quer zu Morawieckis Plan.

KW: „500 plus“ [5] war ein Fehler?

Natürlich hätte man dieses Programm besser durchdenken können, aber es war ein Wahlversprechen der PiS, die Polen haben dafür gestimmt. Die Partei hat also das Mandat, um es zu erfüllen. Aber schon die Absenkung des Rentenalters ist ein großer Fehler [6], den ich sehr bedaure, zumal den Polen diese Entscheidung so gut gefällt. Aber wenn wir fragen, was die Menschen im vorgezogenen Rentenalter machen werden, hat die Mehrheit nicht vor, von der Rente zu leben.

ŁP: Weil sie es nicht können?

Polen sind daran gewöhnt, sich etwas einfallen zu lassen, um auf anderer Kosten zu leben. Wenn sich die Renten als zu niedrig erweisen, werden diese Menschen auf die Straße gehen und Einheitsrenten fordern, die von den anderen Steuerzahlern bezahlt werden. Erst nach Einführung der Reform hat der stellvertretende Ministerpräsident Morawiecki angefangen zu überlegen, wie man die Polen vom frühen Renteneintritt abbringen und so die Kosten der Reform senken könnte.

ŁP: Die Regierung plant auch eine Übernahme der restlichen Rücklagen aus den Offenen Rentenfonds (OFE) [7].

Diese ganze „Gegenreform“ – die Abkehr von der Reform von 1999 – hat zu einem großen Teil fiskalische Gründe: es geht darum, die Annäherung der Staatsverschuldung an die Grenze von 60 Prozent des BIP aufzuhalten, weil eine Überschreitung gegen die Verfassung verstößt. Auf den Konten der OFE lagen ca. 18 Prozent des BIP, die nicht den Staatsaktiva zuzurechnen waren. Jacek Rostowski (Finanzminister und stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung von Donald Tusk) verlagerte einen Teil der OFE-Mittel zur Sozialversicherung, wodurch die Staatsverschuldung sank. Aber derzeit wächst sie wieder und muss wieder verringert werden. Dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Morawiecki läuft es kalt den Rücken hinunter, dass die Staatsverschuldung 60 Prozent des BIP erreichen könnte.

KW: Aber wie Sie selbst gesagt haben, hat die Bürgerplattform als erste einen Teil der in den OFE angesammelten Mittel übernommen. Die PiS setzt diese Politik lediglich fort.

Aufgelöst wurden die OFE de facto bereits von Zyta Gilowska, der Finanzministerin der ersten PiS-Regierung 2006-07. Der Wert der Steuersenkung, die das Kabinett damals eingeführt hat, lag bei 2,5 Prozent des BIP. Zum Vergleich: Die Ausgaben für das Programm Familie 500 plus, das wir heute wegen der Kosten so kritisieren, entsprechen 1,2 Prozent des BIP. Gilowska hat die Finanzen erheblich mehr destabilisiert.

Die Absenkung des Rentenalters ist ein großer Fehler, den ich sehr bedaure, zumal den Polen diese Entscheidung so gut gefällt.

Marek Belka

ŁP: Sie haben eine Reihe von Bedrohungen für die polnische Wirtschaft aufgezählt. Nicht alle sind für die Regierung beherrschbar, aber welche? Was sollte sie dafür tun?

Vor allem sollte sie ihre Wirtschaftspolitik nicht auf die Hoffnung gründen, dass die wirtschaftliche Großwetterlage so gut bleibt.

ŁP: Weil?

Weil sie es nicht bleibt. Punkt. Zur Zeit ist die polnische Wirtschaft in guter Verfassung; statt Rücklagen aufzubrauchen, sollten wir daher welche bilden.

In Polen haben wir seit 1992, seit Leszek Balcerowicz [8] die Nachwenderezession überwand, keine Krise erlebt. Am kritischsten war es in den Jahren 2001-2002, als uns real Zahlungsunfähigkeit drohte. Da kamen zwei Dinge zusammen: die sehr verantwortungslose Politik der AWS-UW-Regierung [9] sowie die Politik des Rates für Geldpolitik [10], der eine Inflationsabsenkung beschloss, selbst um den Preis einer wirtschaftlichen Rezession.

KW: Armutssoziologen wie Prof. Elżbieta Tarkowska haben behauptet, dass damals die Armutszahlen die höchsten seit Beginn des Systemwechsels waren.

Und die von den Arbeitsämtern erfasste Arbeitslosigkeit lag bei fast 22 Prozent. Und doch wurde kein Ausnahmezustand verhängt, wurden keine Banken, Schulen, Krankenhäuser geschlossen, wie dies in Griechenland nach dem Ausbruch der letzten Krise geschehen ist. Deswegen haben die Polen schon vergessen, wie ein ernstzunehmender wirtschaftlicher Zusammenbruch aussieht.

ŁP: Droht uns jetzt so ein Zusammenbruch?

Natürlich nicht. Aber beunruhigen sollte uns, dass die mikroökonomischen Fundamente der polnischen Wirtschaft untergraben werden, denn das passiert allenthalben.

Mir gefällt nicht, dass die Probleme des Bergbaus auf Kosten der Energiewirtschaft unter den Teppich gekehrt werden, dass das Personal in Staatsfirmen „vermisiewiczisiert“ wird. Wenn es gut läuft, richtet selbst ein Misiewicz dort noch keinen Schaden an [11]. Aber wenn es darum geht, schnell eine Entscheidung zu treffen, läuft so ein Misiewicz davon. Bei der „Revolution“, die die PiS durchführt, werden Reserven aufgebraucht, die über Jahre hinweg angehäuft und an verschiedenen Stellen verstaut wurden. Sie werden immer weniger, dabei geböte die Lage Polens und der Europäischen Union, dass es immer mehr würden.

KW: Aber – Sie haben es selbst zugegeben – die Polen haben diese Regierung gewählt. Warum? In der öffentlichen Debatte hört man oft die These, der sog. Neoliberalismus habe die rapide Zunahme des Populismus herbeigeführt. Stimmen Sie dem zu?

In Ihrem Interview „Schluss mit dem Spitzenkapitalismus“ für die „Gazeta Wyborcza“ im Juli 2015 haben Sie gesagt, nach 26 Jahren Transformation müsse man es den Polen leichter machen: das Steuersystem so zivilisieren, dass die Reicheren nicht niedrigere Steuern zahlen als die Ärmeren, die Löhne anheben, das Gesundheitswesen subventionieren. Aber gleichzeitig haben Sie dafürgehalten, durch die Marktreformen hätten wir einen „nie dagewesenen zivilisatorischen Erfolg“ erreicht, weswegen die Polen sozialistischen Parolen skeptisch gegenüberständen. Sogar der polnische Populismus ist Ihrer Ansicht nach „eher libertär als links“. An die Macht gekommen ist indessen die PiS, die mit dem Libertarismus nichts gemein hat, und die ihren Rückhalt aus der Kritik am polnischen Transformationsprozess und am Kapitalismus bezieht.

Es fällt mir viel leichter, diese Thesen im internationalen Maßstab zu erläutern und zu verteidigen. Wie sich zeigt, haben wir die Folgen der Globalisierung unterschätzt. Die Enttäuschung durch die Globalisierung hat Trump an die Macht gebracht, der den vernachlässigten amerikanischen Arbeitern die Schaffung gut bezahlter Stellen versprochen hat, die er angeblich aus China zurückholen will. Natürlich kann er sein Versprechen nicht halten, aber für die Stimmung hatte er ein Gespür. In Europa entschärft die Sozialpolitik ein ganze Reihe von Problemen, die in den USA dem freien Markt überlassen sind. Doch Europa ist heute viel weiter deindustrialisiert, und die jungen Menschen wissen, dass es ihnen nicht so gut gehen wird wie ihren Eltern. Das ist die erste Globalisierungsfolge, die den Handel betrifft.

Es gibt auch ein zweite Folge. Die Globalisierung der Finanzen bewirkt, dass die wirtschaftliche Souveränität der Staaten stark eingeschränkt ist. Heute können Finanzfirmen ganz leicht Politiker maßregeln, die unbeugsam oder unberechenbar sind. So war es z.B. im Falle von Silvio Berlusconi. Der Wert der italienischen Regierungsobligationen fiel Hals über Kopf, Italien drohte der Bankrott. Ein anderes Beispiel ist die griechische Syriza. Nach drei Wochen an der Regierungsspitze wusste Alexis Tsipras, dass er sich nicht viel erlauben darf. Er konnte sich wenden wie er wollte, der Arsch blieb immer hinten. Schuld daran war gar nicht Angela Merkel, sondern die Tatsache, dass Griechenland Mitglied der Eurozone ist, was sich in diesem Fall als Verstärker des Schocks erwiesen hat, nicht als lindernder Faktor.

Beim Anblick solcher Vorgänge sind die Wähler zu dem Schluss gekommen, dass linke und rechte Parteien genau demselben Druck ausgesetzt sind, weswegen die Wahl zwischen ihnen eine Scheinwahl ist. Also haben sie nach etwas Originellem gesucht – da tauchten Brandstifter und „Wundertäter“ auf.

KW: Passt diese Diagnose auch auf Polen?

Polen ist Nutznießer sowohl der Globalisierung als auch der Transformation. Ohne diese beiden hätten wir noch die Volksrepublik, und auf den Straßen die exklusiven, weltbesten Polonez-Autos [12]. Auch Ungleichheit ist in Polen nicht so ein ernstes Problem, und zwar u.a. dank der Europäischen Union und der Strukturfonds, die großenteils in den ländlichen Raum geflossen sind und Unterschiede ausgeglichen haben. Ein Großteil der Mittel aus dem Programm Familie 500 plus, fast 36 Prozent, ist ebenfalls in den ländlichen Raum geflossen.

Haben also in Polen die materiellen Voraussetzungen für dieses Wahlergebnis existiert? Sicher nicht so wie in den Vereinigten Staaten oder Italien. Doch Überall sehnen sich die Menschen nach einem starken Führer, der zudem den Wählern eingeredet hat, das Land sei ruiniert.

Die Regierung sollte ihre Wirtschaftspolitik nicht auf die Hoffnung gründen, dass die wirtschaftliche Großwetterlage so gut bleibt. Sie bleibt es nicht. Punkt.

Marek Belka

KW: Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Hat das bisherige Kapitalismusmodell Einfluss auf den Sieg der PiS gehabt?

Ja. Paradoxerweise ist auch Leszek Balcerowicz einer der Schöpfer der jetzigen Regierung.

KW: Auf der sog. Nicht-PiS-Seite gibt es sicher viele davon…

Aber Balcerowicz ist der wichtigste, weil man auf ihn hört, ich denke da an seinen unversöhnlichen Angriff auf die Entscheidung zum OFE-Abbau. Aber ich werde nie etwas Schlechtes über seine erste Rolle von 1989-1991 sagen. Natürlich wurden bei der Transformation Fehler gemacht – einige Entscheidungen hätte man womöglich anders treffen können. Aber Balcerowicz hat Unmögliches vollbracht! Vielleicht hat er den Bogen überspannt, und es ist der „Spitzenkapitalismus“ herausgekommen, den zu kritisieren sehr einfach ist. Andererseits haben wir es aber als erste in der Region aus der Rezession geschafft. Wir haben auch eindeutig das größte Wirtschaftswachstum der ganzen Region in den letzten 25 Jahren.

KW: In anderen Staaten Mitteleuropas sind die Lebensbedingungen vergleichbar, wenn nicht besser…

Aber warum vergleichen wir uns z.B. mit den Tschechen? Wir dürfen uns nicht mit ihnen vergleichen. Die Tschechen sind ein gebildetes Kulturvolk mit demokratischen Traditionen, das seit hundert Jahren eine der am besten entwickelten Regionen in Europa bewohnt.

KW: Und wer waren wir?

Als wir 1991 sagten, wir wollen in die Europäische Union, hat man uns so behandelt, wie man heute die Mongolei behandeln würde, wenn sie so einen Wunsch vorbringt. Wie die Mongolei, nicht wie die Ukraine. Wir waren ein wirtschaftlich und kulturell rückständiges Land. In Volkspolen hat man ungefähr alle zehn Jahre versucht, das System zu reformieren, was die denkbar schlechteste Entscheidung war, weil das System prinzipiell nicht reformierbar gewesen ist. So hatte jeder Reformversuch eine weitere Destabilisierung zur Folge. Mit dem Effekt, dass wir als chaotischstes Land der Region in die Transformation gegangen sind.

ŁP: Ich verstehe nicht. Einerseits sagen Sie, um den Aufstieg einer populistischen Partei in Polen aufzuhalten, hätte man eine Umverteilung durchführen und den Menschen etwas geben müssen. Andererseits meinen Sie, in guten Zeiten, in denen wir uns immer noch befinden, sollten wir etwas für schwarze Tage zurücklegen. Warum also haben sich die Wähler dem Populismus zugewandt?

Vielleicht ging es den Polen zu gut? Sie haben die Rezession noch nicht geschmeckt. Und unser – der politischen  Klasse – Fehler bestand darin, dass wir den Menschen nicht die Verbindung zwischen der Politik und ihrem Leben aufgezeigt haben. Daher stimmen sie heute für irgendwen, ohne an die Konsequenzen zu denken.

ŁP: Wie gravierend werden die Konsequenzen sein?

Meine Antwort ist, und bitte setzten Sie das in große Anführungszeichen: Wenn ich in zwei Jahren erneut Ministerpräsident werden würde, könnte ich die Folgen der derzeitigen Wirtschaftspolitik noch beheben – in zwei Jahren, in sechs nicht mehr. Die Schäden in der internationalen Politik und am Ansehen Polens werden uns sehr viel länger zu schaffen machen.

Anmerkungen:

[1] Mateusz Morawiecki: seit 16. November 2015 stellvertretender Ministerpräsident und Entwicklungsminister, seit 28. September 2016 auch Finanzminister in der Regierung Szydło. Urheber der Strategie Verantwortungsvoller Entwicklung, des sog. Morawiecki-Plans zur wirtschaftlichen Entwicklung durch Ausbau der Industrie und Unterstützung ausgewählter Wirtschaftszweige. Der Morawiecki-Plan und seine Implementierung sind Gegenstand häufiger und nicht selten kritischer Kommentare sowohl von Oppositionspolitikern als auch von Wirtschaftswissenschaftlern.

Internationale Kritik riefen auch Morawieckis Äußerungen hervor, mit denen er die Maßnahmen der PiS-Regierung gegen das Verfassungsgericht rechtfertigte. Der Kampf gegen den Verfassungsgerichtshof hat die Europäische Kommission dazu bewogen, gegen Polen ein Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit einzuleiten. In einem Interview für die „Deutsche Welle“ hat Morawiecki versucht, das Vorgehen der polnischen Regierung zu verteidigen: www.dw.com/en/mateusz-morawiecki-eu-completely-misunderstood-the-situation/a-37547967

[2] CBA: Zentralstelle zur Korruptionsbekämpfung (Centralne Biuro Antykorupcyjne). Auf der CBA-Seite steht, sie sei ein „Sonderdienst zur Bekämpfung der Korruption im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben, insbesondere in Institutionen des Staates und der Selbstverwaltung, sowie zur Bekämpfung von Tätigkeiten, die die staatlichen Wirtschaftsinteressen verletzen“. Die CBA wurde im Jahr 2006 unter der vorigen PiS-Regierung geschaffen.

Hier ist die Rede von der Kontrolle der Selbstverwaltungsbehörden, die die CBA von Juni 2016 bis März 2017 durchgeführt hat. Offiziell bezweckte die Kontrolle, die fast im gesamten Land stattfand, eine Überprüfung der korrekten Verwendung von Geldern der Europäischen Union.

[3] Zu Beginn der PiS-Legislatur hat Ministerpräsidentin Beata Szydło die EU-Flagge aus dem Konferenzraum der Ministerpräsidentenkanzlei entfernen lassen. „EU-Lappen“ ist hingegen eine Anspielung auf die Äußerung der PiS-Abgeordneten Krystyna Pawłowicz, die die EU-Flagge öffentlich wiederholt als „Lappen“ bezeichnet hat.

[4] Polnisches Unternehmen mit Sitz in Bromberg, das Schienenfahrzeuge herstellt und instandsetzt, sowohl für den Fernverkehr (u.a. Lokomotiven, Triebwagen, Waggons) als auch für den Nahverkehr (Straßenbahnen).

[5] Gemeint ist das Programm „Familie 500 plus“. Dieses Vorzeigegesetz der PiS-Regierung gibt Eltern für das zweite und jedes weitere Kind 500 Zloty (umgerechnet 118 Euro) monatlich. Die ärmsten Familien erhalten dieses Geld unabhängig von der Zahl der Kinder. Die Hilfe ist vollkommen unabhängig von anderen Sozialhilfeleistungen. Die Kosten des Programms werden auf umgerechnet ca. 4,7 Mia. Euro jährlich beziffert.

[6] Die PiS-Regierung hat das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre für Frauen und 65 Jahre für Männer herabgesetzt und damit die Reform der Vorgängerregierung zurückgedreht, wonach das Rentenalter von Frauen und Männern einheitlich 67 Jahre betrug.

[7] Private Investitionsfonds, in die ein Teil der polnischen Renteneinlagen fließt.

[8] Erster Finanzminister im demokratischen Polen. Urheber eines wirtschaftlichen Reformplanes zur Umwandlung der unzulänglichen Wirtschaft der Volksrepublik Polen in eine Marktwirtschaft.

[9] Koalitionsregierung der Wahlaktion Solidarität (Akcja Wyborzca Solidarność) und der Freiheitsunion (Unia Wolności), die in den Jahren 1997-2000 amtierte. Der bereits erwähnte Leszek Balcerowicz war Finanzminister auch dieses Kabinetts.

[10] Organ der polnischen Nationalbank, bestehend aus deren Präsidenten als Vorsitzendem sowie neun Mitgliedern, die in gleicher Zahl durch den polnischen Präsidenten, Sejm und Senat bestimmt werden. Der Rat für Geldpolitik soll die Stabilität des polnischen Geldes gewährleisten.

[11] Bartłomiej Misiewicz war eine Zeit lang Sprecher des polnischen Verteidigungsministeriums sowie enger Mitarbeiter des Verteidigungsministers der PiS-Regierung Antoni Macierewicz. Seine Kompetenzen zur Ausübung dieser Ämter wurden von Anfang an infrage gestellt – Misiewicz besitzt keinen Hochschulabschluss und arbeitete noch vor wenigen Jahren als Apothekergehilfe in einem Vorort von Warschau. In seiner kurzen Laufbahn spielte Misiewicz die Hauptrolle in so manchem Skandal: er erhielt eine hohe militärische Auszeichnung, ohne sich um das Militär verdient gemacht zu haben; er inspizierte Militäreinheiten und empfing dabei Honneurs, wie sie dem Minister zustehen; schließlich erhielt er nach seiner Entfernung als Sprecher des Verteidigungsministeriums einen eigens für ihn geschaffen Posten in der staatseigenen Gesellschaft Polnische Rüstungsgruppe (PGZ). Nachdem dies ans Licht kam und die wahrscheinlich sehr hohen Bezüge Misiewiczs öffentlich wurden (laut Medienberichten umgerechnet 11 800 Euro im Monat), beschloss die PiS-Führung seinen Parteiausschluss. Auch die Arbeit bei der PGZ hat er verloren.

Misiewicz ist zum Symbol einer Personalpolitik geworden, die politische Konnexionen über Qualifikationen stellt; in Polen werden „Misiewicz“ solche Personen genannt, die trotz mangelnder Eignung hochdotierte Posten von der neuen Regierung erhalten haben.

[12] Ein von der Fabrik für Personenkraftwagen in Warschau in den Jahren 1978-2002 produziertes Auto.

Fot. Nyphotographic.com [CC BY-SA 3.0]

Übersetzt von Hans Gregor Njemz.

Culture

„Wołyń” – Kitsch des Bösen

Jarosław Kuisz und Karolina Wigura · 9 January 2017

Die Dritte Polnische Republik wurde in letzter Zeit aus allen möglichen Gründen mit Dreck beworfen. Einkommensungleichheit, Pathologien der Transformationszeit, postkommunistische Seilschaften und „Agenturen“ – wie in einem Selbstbedienungsladen waren für allerlei Anschuldigungen stets griffige publizistische Termini zur Hand. Zuletzt war von einem der Stars der rechten Publizistik im Fernsehsender TVP zu hören, dass seit 1989 über die Tragödie der polnischen Bevölkerung in Wolhynien gezielt geschwiegen worden sei. Angesichts des Niveaus derart grundloser Behauptungen hätte höfliches Schulterzucken genügt. Im Rahmen der Meinungsfreiheit hat man schließlich auch kompletten Unsinn zu tolerieren. Aber bei dieser Thematik sind Geschichte und Politik nach wie vor äußerst eng miteinander verbunden und ihr Einfluss auf die Zukunft von Polen und Ukrainern ist massiv. Deshalb ist im Hinblick auf Wojciech Smarzowskis Film das Datum der Premiere – das Jahr 2016 – trotz anderslautender Verlautbarungen seiner Produzenten wichtiger als das historische Datum der Tragödie von 1943.

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Foto: Pressematerial Forum Film Poland

Grober Schwindel

Als sich nach 1989 endlich die Möglichkeit zu unabhängiger Forschung auftat, machten sich Historikerinnen und Historiker an die Arbeit. Im Jahr 2000 erschien ein viel diskutiertes zweibändiges Werk über den „Völkermord der ukrainischen Nationalisten an der polnischen Bevölkerung Wolhyniens 1939-1945“ von Władysław und Ewa Siemaszko.1 Im Jahr 2003 wurde anlässlich des 60. Jahrestages der Ereignisse breit über die Verbrechen in Wolhynien diskutiert. Außerdem fanden mehrere Feierlichkeiten im Namen der Verständigung zwischen beiden Nationen statt, zum Beispiel in Pawłokoma2, in Huta Pieniacka3 und auf dem Friedhof der Lemberger Adler.4 Die Präsidenten Lech Kaczyński und Wiktor Juschtschenko nahmen daran teil. Diese Errungenschaften sind das Verdienst der Dritten Republik – nicht etwa irgendwelcher Staaten auf dem Mond.

Auch Hoch- und Populärkultur übersetzten die Ereignisse der Vergangenheit in ihre Sprache. Im Jahr 2006 erschien der Prosaband des Autors Stanisław Srokowski mit dem Titel „Nienawiść“ (Hass). Die Erzählungen riefen ein derart lebhaftes Interesse hervor, dass Smarzowski sich ihnen zuwandte und dadurch zum Dreh seines Filmes inspiriert wurde. Włodziemierz Odojewskis Erzählung „Zasypie wszystko, zawieje…“ (Katharina oder alles verwehen wird der Schnee) zählt – auch wenn man ihr ästhetisches Niveau nicht goutieren muss – zum Kanon der wichtigsten polnischen Romane des 20. Jahrhunderts. Das Ende der 1970er Jahre (sic!) erschienene Werk über das tragische und ausweglose Geflecht der polnisch-ukrainischen Beziehungen während des 2. Weltkriegs ist ebenfalls reich an drastischen Szenen. Schließlich sollte die großartige Erzählung von Zofia Kossak-Szczucka zu denken geben, die unter dem Titel „Pożoga“ (Flächenbrand) von den vorausgegangenen Ereignissen in Wolhynien – jener traurigen Ouvertüre in den Jahren 1917–1919 – berichtet. Weitere Beispiele für eine Behandlung der Thematik ließen sich anfügen. Streitbar wäre daher bestenfalls der Grad der Verbreitung des Wissens. Die These einer Verschwörung gegen die „Wahrheit über Wolhynien“ allerdings ist – glücklicherweise – komplett an den Haaren herbeigezogen. Kehren wir also zum Film zurück.

„Wołyń” ist kein Film über das, was vor einigen Jahrzehnten im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet geschah. Er sagt uns wenig über die damaligen Menschen und Zeiten – aber sehr viel über uns und unsere Zeiten.

 Jarosław Kuisz, Karolina Wigura

Versöhnung durch ein Massaker?

„Versöhnung ist, wenn jemand sich entschuldigt, etwas beim Namen nennt, wenn die richtigen Worte fallen. Die Wahrheit über ein Verbrechen unter den Tisch zu kehren ist der direkte Weg zu neuen Verbrechen.“ – sagt Wojciech Smarzowski in Interviews zu seinem Film. Die Behauptung, der Film diene der polnisch-ukrainischen Versöhnung, klingt jedoch wie ein übler Scherz.

Dies gilt, erstens, schon allein wegen der anthropologischen Perspektive des Regisseurs. Fast über den gesamten Film hinweg sehen wir eine schockierende Szene nach der anderen: Ein polnisches Kind verbrennt in einem Bündel Stroh, ein polnischer Soldat wird von Pferden auseinandergerissen, eine schwangere Polin von einer Heugabel durchbohrt, und so geht es weiter. Für Kenner früherer Arbeiten des Regisseurs ist dies keine Überraschung. Nehmen wir „Dom zły“ (Haus des Bösen, 2009), „Róża” (2011) oder eben „Wołyń” – was sich verändert, ist nur die Dekoration. In jedem Film sind Vergewaltigungen, Morde, Betrügereien garantiert und zumeist ertrinken die Brutalitäten förmlich in einer Alkoholflut.

Die Gewalt folgt dabei dem Copy-and-paste-Prinzip. Im Grunde ist es gleichgültig, über welches historische Thema Smarzowski sich äußert – was sein gutes Recht ist. Aber der Künstler brandmarkt das Böse nicht nur, wie es die Apologeten der Wahrheit aus dem Film „Wołyń” herauslesen möchten. Er scheint vielmehr vom Bösen fasziniert. Dass in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts in Wolhynien schreckliche Dinge geschehen sind, ist eine unbestrittene Tatsache. Bei Smarzowski hinterlassen manche Szenen allerdings den Eindruck, die Gewalt regelrecht zu genießen – ja, sie scheinen sogar mithilfe von Spezialeffekten immer weitere Arten und Weisen zu erproben, wie misshandelte Körper im polnischen Kino gezeigt werden können. In seiner Vervielfältigung schafft all das – unabhängig von der Intention des Künstlers – kein artistisches Bild des Bösen, sondern reinsten Kitsch. Es offenbart daher Züge einer Obsession, wer die ästhetische Qualität des Filmes deshalb lobt, weil der Regisseur sich einem (angeblichen) Schweigegelübde der Dritten Republik (vermeintlich) widersetzt.

Die in „Wołyń” auftretenden Ukrainer rufen „Es lebe die Ukraine! Es leben die Helden!“. Der jungen polnischen Generation, die diese Sätze gemeinsam mit Ukrainern auf dem Kiewer Maidan gerufen hat, wird dadurch die spontane Sprache der Versöhnung weggenommen, die während der friedlichen Revolutionen von 2004 und 2014 entstanden ist.

Jarosław Kuisz, Karolina Wigura

Zweitens, zeigt „Wołyń” entgegen der Meinung seiner Apologeten gar nicht die „Wahrheit über die Verbrechen.“ Es handelt sich um die filmische Rekonstruktion von Ereignissen der Geschichte. Mit vergangenen Albträumen wird allerorten und weltweit gerungen. Vor diesem Hintergrund hat der amerikanische Autor David Rieff in seinen Büchern „Against Remembrance“ und „In Praise of Forgetting“ daran erinnert, dass der Versuch, zur Wahrheit vorzudringen, genau genommen allein die Domäne von Historikern ist. Sie sind mithilfe von Archiven und Quellen sine ira et studio – manchmal, aber auch nicht immer – in der Lage, die Wahrheit dessen ans Licht zu befördern, was sich vor Jahrzehnten ereignet hat. Dagegen ist sowohl das, was Künstler – sei es im Film oder irgendeinem anderen Kunstwerk – präsentieren, als auch das, was Publizisten, Politiker oder andere öffentliche Personen schreiben oder sagen, niemals eine Suche nach Wahrheit, sondern eine tätige Interpretation dessen, was ohnehin nur wegen der Arbeit von Historikerinnen und Historikern gewusst werden kann.

In diesem Sinne kann „Wołyń“ daher nicht als Film behandelt werden, der zeigt, was vor einigen Jahrzehnten im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet geschehen ist. Er ist eine gegenwärtige Interpretation der Tragödie, die sich damals ereignet hat. Er sagt gewissermaßen deutlich mehr über uns und unsere Zeiten aus.

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Foto: Pressematerial Forum Film Poland

Multipliziertes Blutbad

Wir sehen uns heute Massaker in Multiplex-Kinos an und lesen hübsch verlegte Bücher über die Blutbäder der Vergangenheit. Deren Übersetzung in eine politische Sprache hat Jarosław Marek Rymkiewicz am deutlichsten zum Ausdruck gebracht. Sein Roman „Wieszanie“ (Erhängen) schockierte die Leser noch mit dem Vorwurf, dass wir als Nation zu mild seien und Verräter nicht mit dem Tode bestraften. Während Rymkiewicz sich an einen modernisierten polnischen Nationalismus anzulehnen suchte, erzählt uns Smarzowski Märchen von der Versöhnung zwischen Nationen. Auf welcher Basis diese zustande kommen soll, bleibt bei „Wołyń“ im Dunkeln. Der Film beinhaltet keinen Deut Humanismus, beschwört nicht den geringsten Glauben daran, dass Menschen ihre Schwächen überwinden und aus den Fehlern vorangegangener Generationen lernen können – wie dies immerhin die Präsidenten Kaczyński und Juschtschenko in Pawłokoma erklärten. Die einzige „Versöhnung“, die der Film kennt, findet im Jenseits statt (was „Wołyń“ mit dem Film „Smoleńsk” gemein hat). Auf Erden siegt ausschließlich das Böse, im Einklang mit dem Klassiker, dass „das menschliche Leben einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz ist.“

Ob Smarzowski ein weiteres Mal Stoff mit einem Mord im Hintergrund aufgreift, ist noch offen. Leider ist die polnische Geschichte reich an spektakulären Tragödien. Man kann sich daher unschwer vorstellen, wie der Regisseur in Kürze etwa das Blutbad im Warschauer Vorort Praga am 4. November 1794, das traurige Ende eines der nationalen Aufstände (1831 oder 1864) oder die Auflösung irgendeines Ghettos während des 2. Weltkriegs in Szene setzt. Die Frage ist dann eher, was die Zuschauer mit jenen künstlerischen Verarbeitungen (zu denen der Regisseur zweifellos ein Anrecht besitzt) anfangen. „Wołyń” nämlich dürfte bei vielen Menschen die Vorstellungskraft auf politischer Ebene infizieren. Auf dieser Ebene trägt der Film nicht zur Versöhnung bei. Er heizt im Gegenteil die schlimmsten Vorurteile an, befeuert Ressentiments und den selbstbezogenen Genuss des eigenen Leids. An keiner Stelle wird auch nur erwähnt, dass nach der schlichtweg schrecklichen Geschichte etwas wirklich Außergewöhnliches eingetreten ist: Es kam nämlich zu einigen Jahren des Durchatmens und der gegenseitigen Unterstützung sowohl unmittelbar nach dem Fall des Kommunismus als auch heute, da die Ukraine sich im Zustand des Krieges mit Russland befindet.

Wenn wir also über historische Ereignisse wie in Pawłokoma sprechen – dann bitte mit Berücksichtigung der Zeremonie, an der die Präsidenten beider Staaten später teilgenommen haben. Über Wolhynien 1943 muss selbstverständlich diskutiert werden – aber dann müssen wir auch die dazu auf den ersten Blick völlig konträr verlaufende Unterstützung der Polen für die orangene Revolution und den Kiewer Euromaidan berücksichtigen. Die Welt endet nicht da, wo der Streit zwischen Redakteuren irgendwelcher in Warschau erscheinender Zeitungen aufhört.

Die Ukraine befindet sich heute vielleicht in der schwierigsten Lage seit Jahrzehnten. Als Staat ist sie schwach, innerlich geteilt und im Osten des Landes hält ein Konflikt an, den die globalen Massenmedien inzwischen mit gelangweiltem Desinteresse quittieren. Vor diesem Hintergrund ist „Wołyń” noch in einem weiteren Sinne der Versöhnung abträglich. Die dort vorgestellten Ukrainer rufen mit aggressivem Tonfall: „Es lebe die Ukraine! Es leben die Helden!” Der jungen polnischen Generation, die diese Sätze in völlig anderer Bedeutung gemeinsam mit Ukrainern auf dem Kiewer Maidan gerufen hat, nimmt der Film die spontane Sprache der Versöhnung, die im Zuge der friedlichen Revolutionen von 2004 und 2014 entstanden ist.

Foto: Pressematerial Forum Film Poland

Foto: Pressematerial Forum Film Poland

Szenen des Verbrechens in Multiplex-Kinos

Die These, man müsse an den Hang zum Bösen im Menschen erinnern, ist für Leser der Bibel, historischer Bücher oder von Kriminalchroniken vor allem eins – banal. Bedeutsamer ist daher das Detail, dass die Polen Rekonstruktionen von Verbrechen in der Vergangenheit heute auf Multiplex-Leinwänden und in bequemen Kinosälen betrachten. Nicht umsonst hat Hermann Broch in seinen „Bemerkungen zum Problem des Kitsches“ geschrieben, dass „Kitsch […] weder entstehen noch bestehen [könnte], wenn es nicht den Kitsch-Menschen gäbe, der den Kitsch liebt, ihn als Kunstproduzent erzeugen will und als Kunstkonsument bereit ist, ihn zu kaufen und sogar gut zu bezahlen: Kunst ist, wird sie im weitesten Sinn genommen, immer Abbild des jeweiligen Menschen, und wenn der Kitsch Lüge ist – als welche er oft und mit Recht bezeichnet wird –, so fällt der Vorwurf auf den Menschen zurück, der solch Lügen- und Verschönerungsspiegel braucht, um sich darin zu erkennen und mit gewissermaßen ehrlichem Vergnügen sich zu seinen Lügen zu bekennen.“ Rekonstruierte statt reale Szenen bilden den heutigen Pop-Romantizismus. Inszeniert wird dabei der kulturelle Code der „Gloria Victis“, der in Zeiten der nicht vorhandenen Unabhängigkeit des polnischen Staates noch verständlich war. Im Jahr 2016 hat die Faszination für Blutbäder der Vergangenheit – nicht als Gedenken an die Opfer, sondern als deren Rekonstruktion – etwas zutiefst Unappetitliches und Obszönes. Noch dazu löst sich in „Wołyń” jegliche Selbstkritik in bequemes Ressentiment auf.

Bei Smarzowski bleibt der Versuch, das zu verstehen, was sich ereignet hat, außerhalb der Leinwand – und damit außerhalb der Frage nach dem Polentum. Auf der Leinwand sind Klischees geblieben, die „Banalität“ des Schrecklichen und die Vermeidung all dessen, was vom Regisseur mehr verlangt hätte als nur das Zeigen drastischer Szenen.

Jarosław Kuisz, Karolina Wigura

Zum Ausdruck kommt darin ein rein emotional verstandenes Polentum, das seine politischen Wirkungen nicht in Rechnung zu stellen vermag. Die heutige Ekstase angesichts des eigenen Leids heischt Aufmerksamkeit und soll auf mystische Weise „die Gemeinschaft zusammenschweißen“. All das geschieht in einem Land, in dem das Leben – egal, ob uns die eine oder andere politische Partei nun gefällt oder nicht – in vielerlei Hinsicht noch nie bequemer und sicherer für Menschen des einstigen Dritten Standes gewesen ist als heute. Wie schwer es uns fällt, diese Lage der Dinge im 21. Jahrhundert anzuerkennen, bringt Smarzowskis Film zum Ausdruck – nicht, was in Wolhynien 1943 geschehen ist.

„Wołyń” konstatiert schließlich einzig und allein, dass damals viele Menschen auf entsetzliche Art und Weise deshalb gestorben sind, weil sie Polinnen oder Polen waren oder diesen geholfen haben. Das ist wahr. Bei Smarzowski bleibt jedoch der Versuch, das zu verstehen, was sich ereignet hat außerhalb der Leinwand – und damit auch außerhalb der Frage nach dem Polentum. Den aktuellen Kontext ignorierend ist „Wołyń” in der gegenwärtigen historischen und politischen Situation ein zutiefst unnötiger Film. Der Regisseur mag behaupten, dass ihm das nichts ausmacht. Trotzdem hat er auf unseren Leinwänden nur die „Banalität“ und Langeweile der Grausamkeit hinterlassen und all das vermieden, was ihm mehr abverlangt hätte als nur das Zeigen schockierender Szenen.

Das ist kein würdiges Gedenken an die Opfer. Ob es ihnen sogar schadet, wird von der Reaktion der Zuschauer abhängen.

 

1 Władysław Siemaszko/Ewa Siemaszko: Ludobójstwo dokonane przez nacjonalistów ukraińskich na ludności polskiej Wołynia 1939-1945, Warszawa 2000.

2 Als Höhepunkt einer Gewaltspirale gegenseitiger Anfeindungen im Kontext der wechselnden deutschen und sowjetischen Besatzung während des 2. Weltkrieges kam es in der Ortschaft Pawłokoma bei Dynów Anfang März 1945 zu einem Massaker an der ukrainischen Zivilbevölkerung des Dorfes, verübt von einer Einheit der polnischen Widerstandsarmee. Im Jahr 2006 wurde in dem Ort in der heutigen Wojewodschaft Podkarpacie (Karpatenvorland) im Südosten Polens ein Mahnmal geweiht. An der Feierlichkeit nahmen die Präsidenten Polens und der Ukraine teil.

3 Im Dorf Huta Pieniacka wurde unter deutscher Besatzung im Februar 1944 durch Offiziere der SS und Einheiten der ukrainischen Partisanenarmee UPA die gesamte polnische Zivilbevölkerung brutal ermordet. Forschungen des Instituts für Nationales Gedenken in Warschau zufolge kamen dabei etwa 850 Menschen ums Leben. 2009 fand an dem heute auf ukrainischem Staatsgebiet gelegenen, jedoch nicht wieder besiedelten Ort eine Gedenkfeier statt, zu der die Präsidenten beider Staaten anreisten.

4 „Lemberger Adler“ – Bezeichnung für die jugendlichen polnischen Soldaten, die im polnisch-ukrainischen Krieg von 1918 bis 1919 die Stadt Lwów/Lviv (Lemberg) verteidigten.

 

„Wołyń”, Regie: Wojciech Smarzowski, Polen 2016.

* Fotos: Pressematerial Forum Film Poland

 

Aus dem Polnischen übersetzt von Lukas Becht.

Culture

Durchbruch abseits der Leinwand

Andrzej Wajda und Krystyna Zachwatowicz im Gespräch mit Grzegorz Brzozowski und Łukasz Bertram · 24 October 2016

Grzegorz Brzozowski: Nicht nur unter polnischen Filmemachern wird Andrzej Wajda mit einem vielschichtigen Einfluss auf die Gesellschaft in Verbindung gebracht – sowohl durch seine Werke als auch durch Aktivitäten auf anderen Feldern. Sie selbst haben sich manchmal u.a. mit Jan Matejko verglichen…

Andrzej Wajda: Matejko, natürlich, er schuf die Akademie der schönen Künste in Krakau und das war sicherlich in gewisser Weise sein Lebenswerk. Am meisten zählte jedoch seine Malerei. Ich wirke nicht nur als Filme- und Theatermacher, sondern habe ebenso schon einige Bürgerinitiativen hinter mir. Manche waren gelungen, andere nicht. Die erste bezog sich auf die Entstehung eines Museums für japanische Kunst und Technik wie unsere Kyoto-Krakau Stiftung (Fundacja Kyoto-Kraków), die wir mit Krystyna noch in der VR Polen Ende der 80er ins Leben riefen. Damals war eine bürgerliche Initiative für einen Museumsbau und das noch aus privaten Mitteln etwas Unvorstellbares.

Łukasz Bertram: Sie beide haben allerdings einen solchen Versuch gewagt – gegen oder vielleicht neben dem System, weil die Initiative nicht im Untergrund stattfand. Bedeutende Narrationen über die VR Polen zu den Einstellungen der polnischen Gesellschaft gegenüber dem kommunistischen System, wie sie etwa der Feder von Krystyna Kersten, Andrzej Friszke u.a. entstammen, konzentrieren sich auf die Spannung zwischen dem Phänomen des Widerstandes und der Anpassung. Unglaublich oft waren diese beiden Haltungen miteinander verflochten. Wo sehen Sie ihren Platz in einer solchen Aufteilung?

Andrzej Wajda: Diese Haltungen waren unvermeidlich. Ich begann meine Arbeit in den 50ern. Den ersten Film „Pokolenie“ (Eine Generation) machte ich in den Jahren 1954-55. Er sollte zum 10-jährigen Jubiläum der Volksrepublik Polen entstehen. Als der Film jedoch vom Politbüro gesichtet wurde, teilte man mir mit, dass er auf keinen Fall das offizielle Werk zu diesem Anlass sein dürfe. Vorbild sollte natürlich die „Junge Garde“ von Sergei Gerasimov sein, wo die Helden das starke Bewusstsein einer patriotischen Mission ausstrahlen. Meine Charaktere waren dagegen Jungs, die zwar keine Mitglieder der Heimatarmee, sondern der Volksgarde waren, aber einfach das Leben der damaligen Zeit lebten. Eine Zeit, an welche ich mich noch gut erinnere.

Der Film beinhaltet die einzige Szene in der polnischen Kinematografie, in der den Aufständischen aus dem Ghetto, die durch die Kanäle fliehen, geholfen wird. Ein gutes Dutzend Jahre später erzählte uns Marek Edelman von dieser Flucht. Seine Geschichte deckte sich wortwörtlich mit dem, wie ich die Szene gedreht habe. Er hatte es selbst erlebt – doch Bohdan Czeszko, Autor der literarischen Originalvorlage von „Eine Generation“, war in der Volksgarde gewesen und kannte solche Geschichten oder hatte sogar an ihnen teilgenommen.

Grzegorz Brzozowski: War das der Moment, in dem ihnen klar geworden ist, dass der Protagonist ihrer Filme in erster Linie eine Gemeinschaft ist, deren Erfahrungen sie auf die Leinwand projizieren werden?

Andrzej Wajda: In diesem Fall war etwas eingetroffen, das schwierig vorherzusagen war. Seit einiger Zeit funktionierte damals schon die Filmhochschule [in Łódź; Anm. der Übers.]. Doch es war der erste Film dieser Art, der durch seine Studenten, solche wie den Kameramann Jerzy Lipman und seine Assistenten realisiert wurde. Viele der Schauspieler bei „Eine Generation“ hatten dabei ihr Debut auf der großen Leinwand. Kurz gesagt war das die Generation – nur nicht die, die sich die politischen Auftraggeber vorgestellt hatten. Es war die Generation der Filmhochschule in Łódź. Die Stimme des polnischen Kinos.

Łukasz Bertram: Für mich persönlich ist es faszinierend, auf welche Weise ein junger Mensch, der sie in den Jahren 1949-50 waren, auf die Frage geantwortet haben, wo sich unter diesen Bedingungen der eigene Platz im Leben befindet? Auf der einen Seite diese Sehnsucht, seine Passion, das Drehen von Filmen, zu verwirklichen. Auf der anderen Seite das Bewusstsein, dass es sich dabei um einen Bereich handelt, der auf dem Feld der Kultur einem besonderen ideologischen Druck seitens des Systems unterliegt. Wie konnten sie das vereinen? Was konnte ein ehrlicher Mensch damals machen, um sich verwirklichen zu können, irgendwie im öffentlichen Leben zu funktionieren und gleichzeitig keine Ehrerbietung zu erweisen.  

Andrzej Wajda: Ich hätte damals auf der Akademie der schönen Künste bleiben und weiter Malerei studieren können um nicht unter den Druck der Zensur zu geraten, die in der Kinematografie viel präsenter war. Aber ich hatte davor keine Angst und wollte nicht alleine sondern mit Menschen arbeiten. Und man sollte unterstreichen, dass ich keine Komplexe bezüglich der Vergangenheit hatte. Ich habe meinen Schwur in der Heimatarmee mit 15 Jahren abgelegt. Nach der Verhaftung meiner Anführer im Jahr 1944 versteckte ich mich bei meinem Onkel in Krakau. Aber als die Rote Armee kam, spürte ich keine Versuchung, in den Wald zu gehen.

Nicht ich habe über Polen in Jalta entschieden. Ich habe verstanden, dass jetzt eine Welt hereingebrochen ist, in der ich selbst für mich verantwortlich bin – natürlich mit der Vergangenheit, mit dem wie mich mein Vater und meine Anführer geformt haben. Es sollte sich aber keiner mehr einmischen und mir einreden, wie ich mich in dieser neuen Realität zurechtfinden soll.

Krystyna Zachwatowicz: Die Exilregierung rief dazu auf, den bewaffneten Kampf zu beenden und sich dem Wiederaufbau des komplett zerstörten Landes zu widmen, sich aber nicht in den politischen Strukturen zu beteiligen. Mein Vater war während der Besatzung Bevollmächtigter der Exilregierung im Land (Delegatura Rządu na Kraj) und es war für mich ganz klar, dass man sich sofort an die Arbeit, an den Wiederaufbau, machen sollte. Das war ein ganz klarer Hinweis für die Lebensführung der Menschen, mit denen ich in meiner Jugend zu tun hatte.

Grzegorz Brzozowski: Der Eintritt in die Filmszene in der Hoffnung, der politische Duktus würde sich umgehen lassen, erwies sich als illusorisch. Das Merkmal ideologischen Charakters wurde bald sogar ihrem auf den ersten Blick wohl unpolitischsten Film „Niewinni czarodzieje“ (Die unschuldigen Zauberer) zugesprochen. Kann ein Filmemacher – vor allem wenn er im Namen einer Gemeinschaft spricht und gesellschaftlichen Einfluss ausübt – außerhalb politischer Bedingtheiten und Interpretationen seiner Werke funktionieren?

Andrzej Wajda: Sie müssen eine wichtige Sache wissen: Ich war nicht allein. In Polen hatte die Kinematografie eine zweistufige Konstruktion. Sie wurde – weil es nicht anders sein durfte – durch den Staat und die Hauptverwaltung der Kinematografie gelenkt, doch das Filmmilieu war sich bewusst, dass es alles tun musste, um die Verantwortung für die Filme an sich zu reißen.

Dies war weithegend aufgrund der Existenz von Filmteams möglich. Jedes Drehbuch musste vom politischen Regime gebilligt werden. Im weiteren Verlauf jedoch, bis ich die Aufnahmen nicht beendet, den Film nicht geschnitten und ihn der nächsten Kommission vorgestellt hatte, die sich ihn anschaute und darüber entschied, ob er in den Kinos und auf Festivals gezeigt werden durfte, geschah alles innerhalb des Teams. Deren Chefs oder literarische Leiter waren keine Beamten, sondern meine Kollegen wie zum Beispiel Jerzy Kawalerowicz oder Jerzy Bossak oder als literarischer Leiter Tadeusz Konwicki. Sie spannten einen gewissen Schutzschirm um die am meisten künstlerische Phase der Filmentstehung. Die Aufnahmen wurden, wenn man das so sagen darf, in Freiheit gemacht; polnische Filme schafften es leichter in die Welt , weil man die Freiheit spüren konnte, in der sie entstanden waren – ganz zu schweigen davon, dass man auch die Jugend fühlte.

Grzegorz Brzozowski: Vergleicht man die damaligen Zeiten mit denen nach 1989, dann unterstreichen sie gerne, dass man damals eine gewisse Haltung spüren konnte, eine Verantwortung des Künstlers gegenüber der Allgemeinheit, ein Gefühl, dass sie bei heutigen Filmemachern häufig vermissen. Aber diese Kommunikation mit dem Publikum – das Sprechen im Namen der nationalen Gemeinschaft, ihre Formung –nimmt in ihrem Fall bisweilen die Kontur eines Dichterpropheten an.

Andrzej Wajda: Nein, nein, nein. Ich war nie in meinem Leben bei irgendeiner Sache so aufgeblasen. Ich nahm das Drehbuch von Jerzy Stawiński für den Film „Kanał“ (Der Kanal), weil ich wusste, dass das, was er da beschreibt, der Wirklichkeit entspricht, weil er es erlebt hat. Deshalb fühlte ich, dass ich das Recht hatte, es als ein wirkliches Bild des Aufstandes auf die Leinwand zu projizieren. Persönlich habe ich den Aufstand nicht erlebt, weil ich zu dieser Zeit in Krakau war. Es war eher die letzte Etappe des Aufstandes, also die schwierigsten und schrecklichsten Ereignisse. Das Hinuntersteigen in die Kanäle und der Versuch, sich so zu retten, waren etwas, das die Welt – trotz der vielen Kriegserfahrungen – noch nicht gesehen hatte. In Polen wurde „Der Kanal“ zunächst eher gleichgültig aufgenommen. Aber als man ihn in Cannes gesehen hatte und er seine Reise um die Welt begann, haben die Teilnehmer des Aufstandes erkannt, dass in ihm Mut, Verzweiflung und Heldentum durch das Publikum auf der ganzen Welt wahrgenommen und erlebt werden.

Ich habe verstanden, dass jetzt eine Welt hereingebrochen ist, in der ich selbst für mich verantwortlich bin[…]. Es sollte sich keiner mehr einmischen und mir einreden, wie ich mich in dieser neuen Realität zurechtfinden soll.

Andrzej Wajda

Grzegorz Brzozowski: War demnach die Zuschreibung, dass sie die Stimme der Allgemeinheit sind, manchmal nicht unangenehm? War dieses Prädikat nicht damit verbunden, dass man von ihnen erwartete, eine Stimme des sozialen Gewissens, eine moralische Instanz der Wirklichkeit zu sein?

Andrzej Wajda: Mir sind einige Filme über unsere politische Situation gelungen, die, wie ich sagen würde, eine viel objektivere und echte Perspektive einnehmen, was der Grund dafür ist, dass man diese Filme irgendwie für das Abbild der damaligen Wirklichkeit hält. Unabhängig von jeglichen Problemen mit der Zensur war dies deshalb möglich, weil in Polen von der Bewilligung des Drehbuchs bis zur Fertigstellung des Films Freiheiten bei der Ausführung herrschten.

Und was heißt das schon: Allgemeinheit…? Wenn sie einen Film machen, dann machen sie ihn unabhängig davon, ob er eine Komödie oder was auch immer werden soll, nicht für sich. Es ist die Allgemeinheit, die ein Urteil über den Film und seinen Schöpfer fällt.

Krystyna Zachwatowicz: Es gibt Regisseure, die sich darüber keine Gedanken machen und die Filme zum eigenen Vergnügen drehen…

Andrzej Wajda: Vergnügen bleibt Vergnügen, etwas anderes ist jedoch das Bewusstsein dessen, wann der beste Moment zwischen der Leinwand, dem Publikum und dem Filmemacher entsteht. Wenn man den Film so umsetzt, dass das Publikum es sehen will, ohne sich ausmalen zu können, dass so etwas existieren kann. Solche Filme waren „Der Kanal“, „Popiół i diament“ (Asche und Diamant), „Człowiek z marmuru“ (Der Mann aus Marmor), „Człowiek z żelaza“ (Der Mann aus Eisen), aber nicht nur die politischen Filme. Niemand hat erwartet, dass ein Film wie „Ziemia obiecana“ (Das Gelobtes Land) entstehen kann. Niemand! Niemand ahnte, dass ein Film, basierend auf einem – bis heute – wenig bekannten Roman, so hohe Erwartungen befriedigen wird.

Łukasz Bertram: Es ist eine Sache, den Nerv des Publikums zu fühlen und diese Intuition zu haben, was der Rezipient erwartet. Aber ist es nicht eher so, dass diese Relation sich in einem bestimmten Moment wendet? Dann ist es der Film, der Kunstgegenstand, der Künstler, der die Repräsentanz der Vergangenheit gestaltet, die von einem bestimmten Kollektiv geteilten Bilder von Ereignissen, Prozessen und Gemeinschaften. In welche Richtung lenkten, ihrer Meinung nach, ihre Filme die Vorstellungen der polnischen Gesellschaft, wenn wir wahrscheinlich annehmen können, dass sie [die polnische Gesellschaft; Anm. der Übers.] sich zum Beispiel den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts mit den Bildern aus „Das gelobte Land“ und die Nachkriegsdilemmata der Menschen aus dem Untergrund mit dem Tod von Maciek Chełmicki [Hauptfigur aus Asche und Diamant; Anm. der Übers.] vorstellt?

Andrzej Wajda: Sie sprechen hier zu Recht von Bildern – denn das polnische Kino zeichnete sich dadurch aus, dass es bildhaft war. Deshalb konnte es leichter ein Publikum erreichen, das der polnischen Sprache nicht mächtig war. Ich finde, wenn ich etwas mit Bildern vermitteln kann, dann deshalb, weil hinter diesen Bildern etwas steht, was der Zuschauer versteht. Es ging nicht um Portraits von gemeinen Kapitalisten. Das Publikum war begeistert davon, dass die drei jungen Menschen den Mut aufbrachten, gemeinsam eine Fabrik zu bauen, oder sonst irgendetwas. Der Jugend wäre damals nie in den Kopf gekommen, dass man in ihrem Alter so viel erreichen kann. Das war in diesem Film das Wichtigste.

Grzegorz Brzozowski: Mich interessiert das Modell des Patriotismus, das in ihren Filmen auftaucht. Es wirkt, als ob sie versucht haben, die Probleme bei der Haltung eines romantischen Helden aufzuzeigen, der in sein Verderben gehen muss, damit er seine Aufgabe gegenüber der Gemeinschaft erfüllt. Denken sie, dass es ihnen mit ihren Filmen gelungen ist, eine Grundlage für eine moderne Spielart des Patriotismus zu legen, die darauf vorbereiten konnte, was nach 1989 geschehen ist? Wäre es nicht vielleicht besser gewesen, mit dieser Ansammlung von romantischen Referenzen radikal zu brechen und beispielsweise viel mehr von den Polen als Europäern zu sprechen?

Andrzej Wajda: Krysia und ich wussten, wie Europa aussieht, weil sie in Paris die Bühnenbilder für die Stücke von Witold Gombrowicz machte und dann nach Argentinien fuhr, um dort am Theater zu arbeiten. Ich konnte verreisen, um einen Film zu drehen, aber das nur ganz selten. Die Polen wussten nicht, wie der Westen aussieht, wie konnte man sich da auf ihn beziehen? Polen war in unserer Literatur. Wir erzählten über uns selbst und nicht darüber, was in Paris los war.

Krystyna Zachwatowicz: Es ist wichtig, was Józef Pinior einmal über eine Vorführung von „Der Mann aus Marmor“ in Wrocław in den 70er Jahren gesagt hat. Aufgrund der Atmosphäre, die im Kino herrschte, sah er darin – aus heutiger Sicht – die Präfiguration der „Solidarność“. Das hat uns sehr bewegt. Als Reaktion auf den Film haben die Leute die Gemeinschaft gefühlt. Wir haben diese Atmosphäre später in der Zeit der „Solidarność“ während des ganzen Jahres gefühlt, natürlich nur bis zum 13. Dezember.

Andrzej Wajda: Und warum? Es war der erste Film, den man verwirklichen konnte, in dem ein Arbeiter zur Staatsmacht spricht. Normalerweise sprach das Regime mit dem Arbeiter und er hörte zu. Hier fordert Birkut etwas von den Herrschenden, was er mit allen Konsequenzen bezahlen muss. Als das Publikum seinen Einsatz für die Arbeiterklasse gesehen hat, fühlte es eine gesellschaftliche Verantwortung. Genau diese Verantwortung war die „Solidarność“. Wir nahmen die Verantwortung an – ich, als Mensch der „Solidarność“, verhielt mich dementsprechend innerhalb des Filmmilieus.

Versuchen sie mal, das zu verstehen – warum es in Polen zur „Solidarność“ kam und in anderen Ländern nicht? Ich sage es Ihnen. Polen sind Individualisten, sie machen, was sie wollen. Ich zum Beispiel mache Filme und Kantor machte Theateraufführungen und fuhr mit ihnen durch die Welt. Polen erschien als das Land der echten Kunst. Damals entstand die Oppositionsbewegung und es wurden Protestbriefe verfasst. Zu mir kam jedoch niemand mit der Bitte, einen Brief zu unterzeichnen, weil die Oppositionellen wussten, dass es keine weiteren Filme geben würde, wenn ich das täte. Deshalb machte jeder das seine, sie riskierten eine Gefängnishaft und ich machte Filme. Aber all dies floss in die Gemeinschaft, in die „Solidarność“.

Krystyna Zachwatowicz: Das war so ein festgelegter Vertrag: alle Leute, die in der Opposition aktiv waren, ob Adam Michnik oder Kazimierz Brandys, haben zu uns immer gesagt: „Mach Du Filme, wir unterzeichnen“.

Łukasz Bertram: Sie haben meine nächste Frage vorweggenommen. Als sich Adam Michnik an die Zeit des KOR [Komitee zur Verteidigung der Arbeiter; Anm. der. Übers.] und der Niezależna Oficyna Wydawnicza [Unabhängiger Untergrundverlag; Anm. d. Übers.] erinnerte, ging er auf die Abwägungen der damaligen Oppositionellen ein: „Ist der ‚Mann aus Marmor‘ in den Kinos wichtiger als die Unterschrift Andrzej Wajdas unter einem Protestbrief?“. Sie haben schon gesagt, was sie für ein Verhältnis zu diesem Dilemma haben. Tat es ihnen aber nicht ein wenig Leid, dass sie nicht so stark auf der anderen Seite stehen konnten, wie es bei Wiktor Woroszylski, Kazimierz Brandys und Jacek Bocheński der Fall war?

Krystyna Zachwatowicz: Ich denke, dass wir ebenfalls auf der anderen Seite waren. Aber wir wussten ganz genau, wenn wir diesen Schritt gehen, würden wir keine Filme mehr machen können. Kazimierz Brandys hat uns stets gesagt: Ich habe einen Füller auf meinem Schreibtisch liegen und ihr – eure Kamera liegt verschlossen in der Produktionsfirma. Die heutige Jugend kann sich das nicht vorstellen – weil sie hier dieses Telefon nehmen könnte, um damit einen Film zu drehen. Man konnte die Zensur umgehen und ein illegales Buch herausbringen, bei einem Film war das unmöglich.

Grzegorz Brzozowski: Viele Filme, über die wir gesprochen haben, kreierten Helden ihrer Zeit. Nach 1989 haben sie oft erwähnt, dass es schwierig war, eine solche Figur zu fassen. Tut es ihnen manchmal Leid, dass sie kein Projekt realisiert haben, das einen solchen Helden hätte hervorbringen können? Hätte damals ein Film entstehen können, der die Situation des Wandels hätte aufnehmen können, dessen bestimmte Konsequenzen wir heute zu spüren bekommen – beispielsweise im Bereich der sozialen Ungleichheit?

Andrzej Wajda: Nein, ich muss sagen, dass ich mich zur damaligen Zeit als Künstler verirrt habe. Eine Sache könnte mich entschuldigen: Ich hatte zuvor ein Filmteam geleitet, in dem [Agnieszka] Holland, [Janusz] Kijowski und [Ryszard] Bugajski waren. Wenn es um die Kontinuität des polnischen Kinos geht, war dies mein Beitrag. Das war die Jugend, die über ein viel größeres politisches Bewusstsein verfügte als ich. Sie konnten aus ihren Elternhäusern Erfahrungen mitbringen, die ich nicht hatte. Mein Elternhaus hörte 1950 auf zu existieren, als meine Mutter gestorben ist, und eigentlich 1939, als mein Vater in den Krieg zog. Seit dieser Zeit war ich allein. Sie wiederum verstanden, was man sich zu Hause über die Politik erzählte. Das von dieser Gruppe erschaffene „Kino der moralischen Beunruhigung“ (Kino moralnego niepokoju) bildete einen Übergang von der einen Epoche in die nächste. „Przesłuchanie“ (Verhör einer Frau) von Ryszard Bugajski war der Film, der das Ende der Schaffenszeit dieses Filmteams bedeutete. Das waren nicht mehr meine Filme, obwohl ich in diesem Team „Bez znieczulenia“ (Ohne Betäubung) auf der Grundlage des Drehbuchs von Agnieszka Holland, „Mann aus Marmor“ und „Mann aus Eisen“ gemacht habe.

Unsere Euphorie nach 1989 verdeckte uns die dunkleren Seiten der Transformation. Wenn vielleicht Karol Modzelewski Drehbücher schreiben würde, könnte er eben über einen Mann schreiben, der sich in der neuen Situation nicht wiederfinden kann.

Krystyna Zachwatowicz

Die 90er Jahre waren natürlich die Zeit, in der es die Zensur nicht mehr gab. Man konnte politische Filme machen. Ich tat es nicht. Meine Entschuldigung lautet folgendermaßen: Ich war künstlerisch so in meiner Jugendzeit verankert, dass es schwierig war, nochmal so einen Durchbruch zu landen, wie mit „Asche und Diamant“ oder mit „Mensch aus Marmor“. Außerdem fand ich in der neuen Wirklichkeit nicht die Literatur, die sich kritisch zur Realität verhielt und mir als Drehbuch hätte dienen können. Übrigens erkenne ich in der polnischen Literatur bis heute kein solches Werk.

Außerdem – und das ist für mich sehr wichtig – wurde ich in den Juni-Wahlen 1989 zum Senator für den Wahlkreis Suwałki (Suwalken) gewählt und musste mich mit Sachen beschäftigten, die wichtiger als das Drehen von Filmen waren.

Krystyna Zachwatowicz: In Andrzejs Filmschule gab es damals ein Projekt, das es sich zum Ziel setzte, einen solchen Helden zu suchen. Niemand von den jungen Leuten war jedoch in der Lage, jemanden wie Birkut aus „Mann aus Marmor“ zu finden. Ganz bestimmt hat uns die Euphorie nach 1989, nachdem wir die längste Zeit unseres Lebens im Kommunismus verlebten, die dunkleren Seiten der Transformation verdeckt. Wenn Karol Modzelewski Drehbücher schreiben würde, hätte er möglicherweise über einen Menschen schreiben können, der sich in der neuen Situation nicht zurechtfinden konnte. Andrzej hat hingegen einen Film über Lech Wałęsa gemacht, weil wir es für einen Skandal hielten, dass ein Mann, der uns in die Freiheit führte, bespuckt und verekelt wurde…

Łukasz Bertram: Viele junge Menschen beziehen sich dennoch heute wieder auf das Phänomen der „Solidarność“. Sie haben einen Film über Wałęsa gemacht, der zum Bezugspunkt für viele junge Künstler wird. Was für einen Film über ihn, gemacht von einem aus der jungen Generation, würden sie gerne anschauen? Möglicherweise einen, der seine Tätigkeit als Präsident nach 1989 zeigen würde?

Andrzej Wajda: Ich möchte, dass die Jugend begreift, dass so ein Politiker wie Wałęsa seine Rolle zu einem bestimmten Augenblick gespielt hat. Seine Zeit war die der „Solidarność und er beteiligte sich aktiv an der Herbeiführung des Endes des Kommunismus. Er hat uns die Freiheit ohne Blutvergießen erkämpft und ist ein Held unserer Tage. Ob er für den Posten des Präsidenten geeignet war oder nicht, spielt keine Rolle. Vor allem heute, in einer Zeit, in der man die Geschichte von damals fabriziert und jemand anderen auf diesen Platz schiebt.

Grzegorz Brzozowski: Wenn die Realität nach der Transformation des Jahres 1989 es erschwerte, eindeutig einen Filmhelden zu benennen, so ermöglichte sie vielleicht dessen Kreation auf eine andere Art und Weise? Sie begannen gerade in dieser Zeit mit der Grünung von Institutionen.

Andrzej Wajda: Im Jahre 1989 kam die Freiheit. Wenn das also der Fall war, schmiss ich das Filmemachen und gründete mit Krystyna das Museum der japanischen Kunst, ich schuf die Filmschule, weil ich dachte, dass es nötig war. Überhaupt hatte ich tausende von unterschiedlichen Ideen, die ich in der Realität der VR Polen nicht realisieren konnte. Und was für eine Schule sollte ich aufmachen? Eine private, ich gründete eine Schule ohne staatliche Mittel, weil ich volle Freiheiten in der Lehre haben wollte und keinen, der mich prüfte. Darüber hinaus bekam ich die Unterstützung von Wojciech Marczewski, einen großartigen Regisseur, der in London und an zahlreichen Schulen der Welt Regie lehrte.

Grzegorz Brzozowski: Neben der Tatsache, dass sich nach 1989 schlichtweg neue Felder des sozialen Engagements eröffneten, ging es bei der Gründung einer solchen Institution wie dem Centrum Manggha auch um eine gewisse Staatsbürgerkunde? Wenn ja, wie sollte so ein Prototyp des Bürgers aussehen, den sie mitentwickeln wollten?

Krystyna Zachwatowicz: Nicht, was Polen für dich tun kann, sondern was Du für Polen tun kannst. Das ist für unsere Generation sehr klar, so wurden wir zu Hause und in der Schule erzogen, auch wenn der Kommunismus es – leider sehr erfolgreich – ausmerzen wollte. Deshalb hörten wir nach der Eröffnung des Museums Stimmen wie: „Woher haben die Wajdas so viel Geld? Warum hat es so lange gedauert? Die Preisverleihung war 1987 und sie eröffnen erst 1994. Wo war das Geld? Wahrscheinlich gut angelegt auf irgendeinem Konto.“ Das heißt, dass Menschen nicht wirklich glauben können, dass jemand etwas uneigennützig machen kann.

Andrzej Wajda: Ganz am Anfang, im Jahr 1987, gab es noch eine andere Komplikation. Ich bekam einen eindeutigen Hinweis, dass es angemessen wäre, bei der Preisverleihung 1987 in Kyoto einen Brief von General Jaruzelski vorzulesen.

Łukasz Bertram: In Zusammenhang damit, was wir schon bezüglich der Anpassung besprochen haben, handelte es sich um einen Kompromiss, den man nicht annehmen durfte.

Andrzej Wajda: Ich antwortete, dass ich lieber auf den Preis verzichte, wenn ich das tun sollte und so zogen sie den Vorschlag zurück. Aufgrund dessen konnte ich den Preis annehmen und damit anfangen, die von Feliks Jasieński in den 1920er Jahren an das Nationalmuseum in Krakau übergebenen japanischen Kunstwerke dort publik zu machen. Ich dachte mir, wenn jemand einen solchen uneigennützigen Schritt gegangen ist, diese alte japanische Kunst zu sammeln und sie einem Museum zu schenken, dann muss sich jemand finden, der sich für einen Ort einsetzt, damit diese Sammlung ständig gezeigt werden kann.

Polen ist ein Kulturland, es ist aber nicht zivilisiert. Aber was bedeutet Zivilisation? Das bedeutet, dass der Bürger so strukturiert ist, dass er seine Verpflichtungen gegenüber den anderen versteht.

Andrzej Wajda

Krystyna Zachwatowicz: Damals hat keiner geglaubt, dass wir in einem freien Polen leben werden können. So haben wir uns überlegt, was wir mit dem Preisgeld machen können. Es war von Anfang an klar, dass wir uns kein neues Haus bauen werden. Andrzej wollte schon damals eine unabhängige Filmschule gründen…

Andrzej Wajda: Das kam unter den damaligen Bedingungen nicht in Frage. Japan gefiel uns übrigens sehr. Es hat auf uns einen großen Eindruck gemacht, weil es ein zivilisiertes und kulturelles Land ist. Polen ist, man kann wohl sagen, ein Kulturland, zivilisiert ist es nicht. Aber was bedeutet Zivilisation? Das bedeutet, dass der Bürger so vorbereitet und strukturiert ist, dass er seine Verpflichtungen gegenüber den anderen versteht.

Grzegorz Brzozowski: Centrum Manggha fördert interkulturelle Kontakte, während wir es aktuell mit einer Flut von Haltungen des Misstrauens gegenüber dem anderen zu tun haben. Nicht selten werden dafür Symbole der polnischen Widerstandsbewegung [aus dem Zweiten Weltkrieg; Anm. der Übers.] oder der Verstoßenen Soldaten [die polnischen antikommunistischen Untergrundorganisationen; Anm. der Übers.] ausgenutzt, die in dieser Zusammenstellung sowohl einen romantischen als auch fremdenfeindlichen Bezug haben. Die Idee ihrer Institution hat in Bezug auf die Gesellschaft eine komplett andere Ausrichtung. Was fühlen sie, wenn sie mit einem solchen Ausmaß so gegenläufiger sozialer Ansichten konfrontiert werden?

Andrzej Wajda: Dieser scheinbare „Patriotismus“ ist grundfalsch und entsteht aus Angst. Wir haben Angst vor den anderen, deshalb müssen wir uns zusammenraufen, uns auf unsere Vergangenheit und Helden beziehen. Wir müssen zusammenhalten, weil dort, im Ausland, eine Welt existiert, die uns nicht will, nicht versteht und uns sogar falsch bewertet.

Krystyna Zachwatowicz: Es ist für mich schmerzhaft, dass man die Symbole des Widerstandes und des Warschauer Aufstandes nutzt. Ich erinnere mich an den 1. September 1944 in Warschau, als ich nach 5 Jahren deutscher Besatzung [wörtl. Gefangenschaft; Anm. der Übers.] plötzlich die polnische Fahne sah. Heute ist für mich das Benutzen dieser Fahne, überall, auf allen Demonstrationen – auch auf diesen voller Hass und Nationalismus – einfach ein Skandal.

Die „Solidarność“ war nicht nationalistisch. Am Anfang war sie sehr offen. Erst später bildeten sich solche widerlichen Bewegungen, wie die der „prawdziwych Polaków“ (echter Polen). In der „Solidarność“ gab es etwas Fröhliches. Ich erinnere mich an die Demonstrationen, meine Arbeit in der Region Masowien hier in Warschau. Alle waren positiv gestimmt. Es gab nichts Hasserfülltes. Die Kommunisten haben kurz vor der Einführung des Kriegsrechts behauptet, dass wir Erschießungslisten verfasst hätten. Alles eine komplette Lüge. Niemand dachte an so etwas, wir hatten keinen Machthunger, keine Rachegelüste.

Grzegorz Brzozowski: Noch eine Frage bezüglich der Rezeption ihres Gesamtwerks: Es werden ganz bestimmt bald Künstler auftauchen, die mit Ihren Werken in einen kritischen Dialog treten wollen, um sie mutig zu dekonstruieren. Welche Elemente ihres filmischen Stils würden sie besonders gerne in einer künstlerischen Auseinandersetzung sehen? Anders gefragt, wie stellen sie sich ein Anti-Wajda-Kino vor?

Andrzej Wajda: Das ist, glaube ich, nicht mehr meine Sorge. Eine Sache ist es, sich so ein Kino der Zukunft vorzustellen, eine andere, es zu realisieren. Sprechen sie doch mit ihren Altersgenossen, was sie sehen wollen würden. Ich kam 1980 in die Werft während des Streiks, da führte mich ein Werftarbeiter in den Plenarsaal und sagte, dass er sich wünsche, dass ich „Ein Mann aus Eisen“ mache und ich wusste, dass ich einen solchen Film machen muss.

Und heute? Patriotisches, nationales, katholisches? Das ist nicht dasselbe…

Diese Hundertschaften, Tausendschaften Protestierender auf den Straßen wollen ein weltoffenes Kino, so wie früher die polnische Filmhochschule. Sie haben keine Angst, unsere polnische Realität auf der Leinwand zu sehen.

Krystyna Zachwatowicz: Nun bitten wir sie um einen Rollentausch. Wir stellen ihnen eine Frage: Was für einen Film soll Andrzej machen?

 

* Das vorliegende Interview entstand im Rahmen der Verleihung des 8. Prof. Aleksander-Gieysztor-Preises, der von der Kronenberg-Stiftung der Citibank verliehen wird. Es wurde am 21. Juli 2016 veröffentlicht.

 

Aus dem Polnischen von Jakub Sawicki und Lukas Becht

*Photo by Kamil A. Krajewski / Muzeum Manggha

Politics

Ist die deutsche Willkommenskultur gescheitert?

Martin Pollack · 20 January 2016

Die Ereignisse von Köln haben nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit tiefe Spuren hinterlassen. Die von überwiegend muslimischen Asylwerbern verübten sexuellen Übergriffe gegen Frauen, deren volles Ausmaß erst langsam bekannt wurde – die Zahl der Anzeigen kletterte innerhalb von zwei Wochen von einer Handvoll auf über 500 – haben der Debatte über die so genannte „deutsche Willkommenskultur“ neue Schärfe verliehen. Die ursprünglich weitgehend positive Grundstimmung gegenüber Flüchtlingen, die in Angela Merkels optimistischem Credo: „Wir schaffen das!“ ihren Ausdruck fand, hat Ängsten, Wut und Misstrauen Platz gemacht, die eine rationale Diskussion erschweren. Nach Köln ist alles anders geworden.

Für die politische Rechte sind die Exzesse in der Silvesternacht wie ein verspätetes Weihnachtsgeschenk, das ihnen unerwartet in den Schoß fiel. Die Übergriffe liefern willkommene Argumente gegen eine scheinbar unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen, vor allem aus der muslimischen Welt. Aber auch für besonnene Menschen hat das Image von Angela Merkel, die für ein buntes, weltoffenes Deutschland plädierte, tiefe Kratzer bekommen. Sind wir wirklich in der Lage, so viele Flüchtlinge aufzunehmen, kann die Wirtschaft, kann die Gesellschaft das verkraften, fragen sich nun auch Menschen, die nicht zu radikalen Ansichten neigen. Eben noch waren viele Deutsche stolz darauf, wie mutig sich die Zivilgesellschaft den Herausforderungen stellt, im Gegensatz zu den engherzigen, egoistischen Positionen mancher osteuropäischer Länder, wo Zäune errichtet und Grenzen dicht gemacht werden. Physisch, aber auch in den Köpfen. Nun fragen sich viele, ob die Polen, Tschechen und Ungarn vielleicht klug und voraussachauend handeln, wenn sie sich Flüchtlinge mit allen Mitteln vom Leib halten wollen?

Hier und da ist jetzt wieder vom viel beschworenen „Kampf der Kulturen“ die Rede, obwohl der Begriff „Kulturkampf“ seit Bismarck in Deutschland keinen guten Klang hat. Viele in Deutschland und auch in Österreich, keineswegs nur Rechtsradikale, fragen sich nun, ob dieser Begriff in Bezug auf die muslimische und christliche Welt nicht doch seine Berechtigung hat? Die Ereignisse von Köln haben gezeigt, dass eine massenhafte Einwanderung aus muslimisch-patriarchalen Gesellschaften, in denen Männer traditionell zur Frauenverachtung erzogen werden, große Risiken in sich birgt. Davor die Augen zu verschließen und auf Proteste gegen sexuelle Übergriffe und andere kriminelle Handlungen von Migranten reflexartig mit Rassismusvorwürfen zu reagieren, wie das linke Kreise, aber auch liberale Medien nach Köln taten, wird das Problem nicht zum Verschwinden bringen, sondern, im Gegenteil, die Diskussion nur weiter anheizen.

Dasselbe gilt für vielleicht sogar gut gemeinte Äußerungen wie jene des Wiener Polizeipräsidenten, der nach Bekanntwerden der Exzesse Frauen den Rat erteilte, nachts grundsätzlich nur in Begleitung auf die Straße zu gehen. Ein Shitstorm feministischer Kreise war die Folge. Damit wird der öffentliche Raum in Frage gestellt. Es wird von den Behörden scheinbar akzeptiert, dass faktisch rechtsfreie Räume entstehen, in denen die Bürger zu bestimmten Zeiten nicht oder nur bedingt auf den Schutz des Staates rechnen dürfen.

Eines ist klar: eine Garantie, dass sich solche Ereignisse nicht anderswo wiederholen können, gibt es nicht. Aber wenn staatliche Organe vor einer entfesselten Menge hormonstrotzender junger Männer, von wo immer sie stammen mögen, von vornherein die Waffen streckt, vielleicht auch, um sich nicht dem Vorwurf des Rassismus auszusetzen, ist Alarm angesagt. Wir dürfen uns nicht durch falsch verstandene Toleranz verleiten lassen, den in solchen Fällen auf der Hand liegenden Zusammenhang zwischen kriminellen Handlungen und der Herkunft der Täter auszublenden oder gar zu leugnen. Ähnliche Vorfälle hat es auch anderswo gegeben, zum Beispiel in Schweden. Auch dort wurde anfangs versucht, die Herkunft der Täter zu vertuschen. Das ist falsch. Wir müssen vielmehr offen darüber reden, nur so können wir Lösungen finden. Da sind auch Asylanten gefordert. Sie müssen als erste nach Möglichkeit zu verhindern suchen, dass es zu solchen Vorfällen wie in Köln kommt. Denn Köln hat gezeigt, dass es sich um Probleme handelt, die von Migranten aus ihrer Welt in unsere mitgebracht wurden. Aus unfreien, rückständigen, patriarchalen Gesellschaften, in denen eine oft religiös untermauerte Frauenverachtung dominiert.

Es geht nicht darum, Muslime pauschal zu verurteilen. Sie sind selber in vielen Fällen Opfer solcher Übergriffe. Aber die Ereignisse von Köln haben ein Problem aufgezeigt, das mit einer ansteigenden Flüchtlingswelle eine weitere Verschärfung erleben wird, wenn die Behörden – aber auch die Zivilgesellschaft – dem nicht rasch und entschlossen entgegenwirken und klar machen, dass der Rechtsstaat nicht bereit ist, im Fall von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten Kompromisse einzugehen und Übergriffe zu dulden.

Special Reports / Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?

Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?

Kultura Liberalna · 5 May 2015

Am 24. April verlegte der Sejm der Republik Polen die Gedenkfeiern zum Ende des 2. Weltkriegs vom 9. auf den 8. Mai. Dieser Gesetzesbeschluss hatte offenkundig eine zweifache Motivation: Zum einen sollte ein Strich unter das kommunistische Erbe gezogen werden, wonach an das Kriegsende gemäß Moskauer Zeit gedacht wurde. Zum anderen handelte es sich um eine symbolische Distanzierung von der russischen Politik der Gegenwart. Gleichermaßen ist ganz Europa mit der Frage konfrontiert, welche Rolle das Jahr 1945 für die Gegenwart spielt. Mit der Datierung offizieller Gedenk- und Feiertage ist das Thema aber nicht erledigt. Im Laufe der vergangenen Jahre hat sich eine lebhafte wissenschaftliche und publizistische Debatte darüber entwickelt, welche Bedeutung Krieg und Nachkriegszeit für die Herausbildung gesellschaftlicher Identitäten und das kollektive Gedächtnis haben.

Die Aufmerksamkeit der Geschichtswissenschaft richtet sich dabei auf die spezifischen Bedingungen der Anfänge des kommunistischen Polens, aus dem schließlich die heutige Dritte Republik hervorgegangen ist. In den Jahren 1944 bis 1947 waren moralische Desorientierung, ein institutionelles Vakuum und verschiedenste Ängste das prägende Gefühl von Millionen von Menschen – obwohl die Front längst verschwunden war [1]. In der heutigen Diskussion kehrt zudem die Frage nach der gesellschaftlichen Revolution wieder, die sich unter brutalem äußeren Zwang auf dem Gebiet des heutigen Polens zwischen 1939 und 1956 vollzog [2]. Rechtskonservative Kreise glorifizieren seit einigen Jahren den antikommunistischen Widerstand, der in politischer und militärischer Hinsicht eine vollständige Niederlage davontrug, sich aber in der Gegenwart zur Kreation eines Mythos von moralisch standfesten Soldaten eignet.

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Special Reports / Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?

Wir werden Polen sein

Michał Łuczewski im Gespräch mit Iza Mrzygłód und Łukasz Bertram · 5 May 2015
Der Zweite Weltkrieg bedeutete für Polen materielle Zerstörung und das Zerbrechen des zuvor gewachsenen sozialen Gefüges. Aber auch schöpferische Kräfte wurden durch ihn freigesetzt. Obgleich dabei längerfristige historische Entwicklungen nicht vergessen werden dürfen, spielte der Krieg eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung dessen, was heute die polnische Nation ausmacht.

Iza Mrzygłód: Żmiąca ist ein Dorf in den Bergen im Süden Polens, das Sie über viele Jahre hinweg erforscht und später in ihrem Buch mit dem Titel „Ewige Nation“ beschrieben haben. Wie hat man sich in der Gegend um Limanowa an den Zweiten Weltkrieg erinnert?

Michał Łuczewski: Im kollektiven Gedächtnis wiegt der Zweite Weltkrieg ungeheuer schwer, er überschattet alles, was davor und danach geschehen ist. Vor allem für den Prozess der Nationsbildung war der Krieg außerordentlich wichtig. Damals entwickelten die polnischsprachigen Bürger das Bewusstsein, dass sie Polen sind. Ein Prozess der „Verinnerlichung der Nation“ trat ein – die Nation hörte auf, eine Kategorie zu sein, über die man in Büchern las, sie wurde stattdessen zu einem emotionalen Konzept, das sich unseren Körpern einprägte. Du kannst schließlich dafür getötet werden, dass du ein Pole bist, und du tötest, weil du Pole bist. In diesem Sinne holte der 2. Weltkrieg diesen Begriff aus dem Himmel der Abstraktionen auf die Erde ins Konkrete.

Iza Mrzygłód: Die Lektüre ihres Buches legt allerdings die etwas im Widerspruch zu dem Gesagten stehende Schlussfolgerung nahe, dass die unmittelbare Nachkriegszeit viel bedeutsamer und ausschlaggebender für die Gestaltung der nationalen Gemeinschaft war. Einer Ihrer Gesprächspartner in dem Buch sagt: „Hier begann der Krieg eigentlich erst nach dem Krieg.“ Was also geschah im Jahr 1945?

Tatsächlich, in Żmiąca selbstbegann der Krieg nach dem Krieg. Niemand aus dem Dorf war damals gestorben. Die Deutschen hatten Angst, dorthin vorzudringen, weil in der Gegend starke Partisanenverbände aktiv waren. Für die Dorfbewohnerinnen und -bewohner waren sie deshalb weniger real. Die Kommunisten dagegen – die Staatssicherheit, der Interne Sicherheitskorps KBW [1] und die Miliz – drangen überall ein, betraten die Wälder und Häuser und in diesem Sinne waren sie wesentlich realer als die Deutschen. Das hinterließ ein viel größeres Trauma als die deutsche Besatzung. Es hat sich herausgestellt, dass die „Große Furcht“, von der Marcin Zaremba in seinem Buch [2] mit demselben Titel schreibt, in Żmiąca und vielen Dörfern im Vorgebirgsland erst nach dem eigentlichen Krieg begann – zusammen mit dem antikommunistischen Widerstand und den Verfolgungen von Seiten des stalinistischen Regimes, die bis 1953 und sogar bis 1956 andauerten.

Nur, dass in den Erzählungen derjenigen Generationen, die diese Ereignisse nicht selbst miterlebt haben, der Krieg und die Nachkriegsgeschichtemiteinander verschwimmen. Beispielsweise erinnerte sich eine Großmutter, wie der Interne Sicherheitskorpsihrem Ehemann Glassplitter in die Schuhe kippte und ihn zwang, darin umherzurennen, weil er den Partisanen geholfen hatte. Ihre Enkelin behauptete, die Deutschen hätten das getan.

Łukasz Bertram: Die Menschen verknüpfen das zu einem Ganzen?

Die Trennung ist klar für die Großvätergeneration, die all das erfahren hat, auch für die Generation ihrer Töchter und Söhne, aber bereits nicht mehr für die Enkelkinder. Der Kampf polnischer Kommunisten mit polnischen Antikommunisten ist schwer zu begreifen. Irgendwo im Hintergrund waren die „Sowjets“, aber in Wirklichkeit kämpften Polen mit Polen – für die jüngste Generation etwas Unvorstellbares. Zusätzlich war die Erinnerung an diesen Konflikt in der Volksrepublik zum Verstummen gebracht worden. Man sieht, wie jene Große Furcht, der Kampf zwischen Antikommunismus und Kommunismus, von der Erinnerung an den 2. Weltkrieg verdrängt wird. Im Resultat wird der Krieg für die nachfolgenden Generationen zum hauptsächlichen Gegenstand des Erinnerns, obwohl er ganz am Anfang weniger wichtig war.

Iza Mrzygłód: Wurde die Erfahrung des Krieges der bäuerlich-ruralen Erinnerungskultur etwa erst später aufgezwungen – durch die Geschichtspolitik der Volksrepublik?

Nein, so stimmt das nicht ganz. Der Krieg war mit Sicherheit ein patriotisches Ereignis. In Żmiąca war der Widerstand gegen die deutschen Besatzer sehr ausgeprägt, es gab dort eine große Formation der Heimatarmee, auch Bauernbataillone [3]. Die Menschen nahmen am Krieg teil, indem sie heimlich Polnisch lehrten und lernten – sogar die Kinder wussten, dass ihnen deshalb die Todesstrafe drohte. Das musste man später nicht erst durch Geschichtspolitik konstruieren, es wurde allerhöchstens verstärkt – und gleichzeitig die frühe Phase des Kommunismus zum Schweigen gebracht. Im Allgemeinen ist die Anfangsphase des Kommunismus in Polen in der Erinnerung verblasst. Es existiert kein Museum des Antikommunismus, kein Museum, das an die Verfolgungen als solche erinnert, wie zum Beispiel die Topographie des Terrors in Deutschland.

Der Zweite Weltkrieg löscht alle inneren Konflikte und setzt den Kampf gegen den gemeinsame Feind an ihre Stelle. Es bildet sich eine Nation. Wir gegen sie.

Michał Łuczewski

Łukasz Bertram: Wenn sich während des Krieges der Abschluss eines Nationsbildungsprozesses vollzog, der bereits länger andauerte, gab der Krieg dem Gemeinschaftsbewusstsein überhaupt einen neuen Gehalt – und stellte historische Weichen um?

Ich bin Gegner einer Geschichtsschreibung „bis zum Jahr 1945“, und später „nach 1945“. Hinter solch einer Konstruktion steht eine verborgene Wertung. Auf Geschichte sollten wir in Kategorien der Longue durée blicken, aus deren Sicht der Krieg weder Anfang noch Ende ist, sondern ein Element längerfristiger Entwicklungen. Aber selbstverständlich hat der Krieg in deren Rahmen etwas umgestellt. Die Menschen wurden auch vorher schon zu Polen, interessant ist allerdings, welche Polen sie nach Kriegsende wurden.

Łukasz Bertram: Wie kann man diese charakterisieren?

Die Zwischenkriegszeit ist ein Kampf aller gegen alle – darum, was es bedeutet, eine Nation zu sein und wer ihr angehört: Der massive Antiklerikalismus der Bauernparteien und das dezidierte Auftreten der Kirche gegen die Bauernbewegung, die anti-kirchliche und antibäuerliche Haltung des Sanacja-Regimes [4]. Heutzutage sind wir kaum in der Lage, uns die Intensität dieser Konflikte vorzustellen, die bisweilen sogar Familien spalteten. Der Zweite Weltkrieg löscht sie aus und setzt den Kampf gegen den gemeinsamen Feind an ihre Stelle. Es bildet sich eine Nation. „Wir“ gegen „Sie“. Diese Gemeinschaft darf nicht antiklerikal sein, weil Geistliche dieser Nation angehören müssen. Sie darf nicht antibäuerlich sein, weil auch die Bauern dabei sein müssen. Sie darf nicht gegen den Staat gerichtet sein, weil wir später gemeinsam einen Staat aufbauen wollen. Und diese Gemeinschaft stößt dann mit einer anderen Gemeinschaft zusammen – der kommunistischen.

Iza Mrzygłód: Das ist eine sehr idealistische Sichtweise. Die Forschung unterstreicht, dass sowohl der Krieg als auch die unmittelbare Nachkriegszeit für die polnische Gesellschaft ein Übergangszustand waren, der alle bis dato geltenden Normen außer Kraft setzte. Die nationale Gemeinschaft ging in die Brüche, verschiedene gesellschaftliche Gruppen – der Landadel, die Intelligenz, die Juden – wurden vernichtet oder in ihrer Zahl weitgehend dezimiert. In diesem Rahmen sieht man auf den ersten Blick eher Zerfall und Zerrüttung, aber keinen Vergemeinschaftungsprozess.

Selbstverständlich hat der Krieg verschiedene Konflikte erst hervorgebracht oder verschärft, wie z.B. den Klassenkonflikt, was heute ebenfalls gerne vergessen wird. Es gab beispielsweise die Ortsvorsteher (poln. sołtys), also reiche Landwirte, die sich de facto zu Elementen der Besatzungsmacht machten, indem sie für das Einziehen ganzer Kontingente von Menschen und Naturalien verantwortlich waren. Und wen schickte man am einfachsten zur Arbeit ins Reich? Diejenigen, die keine Felder besitzen und überflüssig sind. Im Moment der Machtübernahme nutzten die Kommunisten diese Antagonismen aus, ihre Propaganda blies schließlich zum Marsch gegen die „Kulaken“ – die wohlhabenden Bauern. Es gab diesen Konflikt tatsächlich, nur überwog während des Krieges die Überzeugung, dass „später abgerechnet wird“.

Iza Mrzygłód: Es fällt mir noch immer schwer, die beiden Erzählungen von Zerfall und Gemeinschaftsbildung miteinander zu verbinden.

Ich überlege, ob es nicht möglich wäre, sie mithilfe der biblischen Formel des Katechon zusammenzufügen. Im Brief an die Thessalonicher erklärt der Heilige Paulus, dass die Apokalypse nicht eintritt, weil etwas oder jemand existiert, der sie aufhält (Katechon). Was den Zerfall der polnischen Gesellschaft während des 2. Weltkrieges betrifft, hat die Idee der Nation ihn aufgehalten. Das bedeutet bei Weitem nicht, dass es sich deshalb um eine reine, erhabene und friedliche Idee gehandelt hat. Im Gegenteil, sie beinhaltete und erstickte zugleich tiefgreifende politische, regionale und klassenbedingte Konflikte. Sie stellte eine Ordnung her, oder besser eine Illusion von Ordnung, unter deren Oberfläche sich Chaos und Zerfall verbargen. In dem Moment, da die deutsche Bedrohung wegfiel, konnten diese Konflikte in verstärkter Intensität wieder hervorbrechen.

Łukasz Bertram: Worin bestanden diese Konflikte im größeren nationalen Maßstab? Die Niederlage im September 1939 gegen den Polenfeldzug der Wehrmacht war schließlich ein gigantisches Beben, die vorherige Ordnung wurde grundlegend in Frage gestellt. Allerorts wuchs die Überzeugung, dass nach dem Krieg nichts mehr so sein kann wie zuvor, dass wirtschaftliche, politische und soziale Beziehungen von Grund auf neu aufgebaut werden müssen.

Richtig, die Kommunisten waren nicht die einzigen Verfechter des Wandels. Die Soldaten der Bauernbatallione sagten zum Beispiel: Wir kämpfen für ein Polen der Landbevölkerung. Sie wussten bereits vor dem Krieg, dass die Zweite Polnische Republik nicht ihr Polen war. Damals waren sie damit die einzige demokratische Bewegung, die sich zu dem Prinzip bekannte, dass der Staat allen Mitgliedern der polnischen Gesellschaft gehört und nicht nur den Eliten. Und es waren die Bauernaktivisten, die mit der Organisationmassiver Streiks 1937 [5] die größte soziale Bewegung in Polen bis zur Solidarność ins Leben riefen.

Auch die Kommunisten kamen keineswegs aus dem Nichts, es handelte sich um polnische Kommunisten. Ihre volksnahe Ideologie war attraktiv –selbst der berühmte Józef Kuraś „Ogień“ [6] trat anfangs der kommunistischen Sicherheitspolizei bei. Erst später, als sich Gewalttätigkeit und Bewusstsein der sowjetischen Herrschaft offenbarten, kam es zu einer Ernüchterung und man ging in die Wälder zum Widerstand.

Łukasz Bertram: Hierbei handelt es sich – allgemein gesagt – wohl um eine weitere vergessene Narration: Mitte 1944 hatte die polnische Arbeiterpartei PPR [7] einige Tausend Mitglieder, ein Jahr später mehrere Hunderttausend. Was waren das für Menschen, die gesellschaftlich aufstiegen und zur Basis der neuen Ordnung wurden?

Im Kontext, den ich erforscht habe, hat es keine Polen gegeben, die sich zur kommunistischen Ideologie bekannten und an die UdSSR als leuchtende Zukunft oder an höhere Werte, die etwa die Sicherheitspolizei verkörpern sollte, glaubten. Ich würde dazu tendieren, ihre damalige Haltung nicht „kommunistisch“, sondern „anti-antikommunistisch“ zu nennen – was die Leute verband, war die Ablehnung sowohl der Kulaken als auch der so genannten „Waldmenschen“ [8].

Der Unterschied zwischen der kommunistischen Ideologie und den Bauern bestand in der Haltung zur Kirche. Vor dem Krieg war die Bauernbewegung stark antiklerikal. Die Landwirte gingen zur Kirche, aber sie blieben draußen vor dem Portal; sie traten nicht vor den Pfarrer, der stets auf der Seite des Gutsherrn stand [9]. Nach 1945 waren sie hingegen die Ersten in der Kirche. Den Kommunisten ist es zu verdanken, dass die Bauern nicht nur Polen, sondern auch Katholiken wurden.

Łukasz Bertram: Über diese Umwälzungen in der polnischen Gesellschaft hat jüngst ebenfalls Andrzej Leder[10] in seinem Buch „Verschlafene Revolution“ geschrieben. Diese Revolution, die von der deutschen und sowjetischen Besatzung ausgelöst wurde und das Entstehen einer polnischen Mittelschicht ermöglicht hat, begann ihm zufolge 1939 und dauerte eigentlich bis 1989, am intensivsten jedoch bis 1956. Allerdings betont er vor allem den Bruch, das Fehlen einer Kontinuität: Er schreibt, dass es vor dem Krieg keine Möglichkeit gab, den „rachsüchtigen Fantasien der einfachen Menschen“ im Verhältnis zu den Juden – als der einzig existierenden Mittelschicht – und dem Landadel Ausdruck zu geben. Der Krieg eröffnete diese Möglichkeit.

Ich halte es für unzulässig, aus der polnischen Geschichte einzelne Phasen herauszuschneiden, wie Andrzej Leder es mit dem Krieg und der Nachkriegszeit tut. Wenn wir diese historischen Abschnitte mit den Kategorien der Longue durée betrachten, bekommen wir ähnliche Traumata und Gewalt während des von der habsburgischen Teilungsmacht angestifteten galizischen Bauernaufstandes 1846 gegen den patriotischen polnischen Landadel oder während der Pogrome im Jahr 1898, als die österreichisch-habsburgische Regierung zum Schutz der Juden den Ausnahmezustand ausrufen musste, ebenso in den Blick. Nach dieser Auffassung führt der Zweite Weltkrieg bereits vorher ansetzende Prozesse und Erfahrungen zusammen.

Die polnisch-polnischen Beziehungen gilt es dabei wie die polnisch-jüdischen zu behandeln. Innerhalb der polnischen Gesellschaft gibt es unterschiedliche Gruppen, die ein mehr oder minder großes Gefühl kollektiver Subjektivität besitzen. So, wie man sagt, dass Polen sich jüdisches Eigentum angeeignet haben, so muss man auch sagen, dass Polen Eigentum anderer Polen übernommen haben, und zwar von Landbesitzern und Gutsherren. Es handelt sich dabei um hektarweise parzelliertes Land. Mit dem Unterschied, dass die polnischen Landbesitzer im Unterschied zu Deutschen und Juden mehrheitlich weiterhin dort lebten und aus nächster Nähe sahen, was geschah. Das ist ein äußerst interessanter Prozess, den wir noch nicht zu beschreiben vermögen, weil wir voneinander getrennte Nationen immer noch in „gruppistischen“ Kategorien denken. Wir haben die Deutschen vor Augen, die Juden, aber nicht, dass sie wie auch die Polen eine Ansammlung verschiedener, miteinander rivalisierender Gruppen sind – daher in den nachfolgenden Generationen das Unvermögen, sich den Konflikt zwischen Polen-Kommunisten und Polen-Antikommunisten vorzustellen. Es handelt sich um unbewusste Erkenntnisprozesse, die später von Historikern, Politikern und Ideologen reproduziert und verstärkt werden.

In Żmiąca stellte der Krieg keinen Bruch dar. Die größeren Veränderungen vollzogen sich dort während der Nordischen Kriege – und heute, da in der Gegend ganze Dörfer aussterben.

Michał Łuczewski

Łukasz Bertram: Wir verfügen auch über eine Narration, die ganz Polen zum Opfer erklärt. Im Vorwort zu dem historischen Sammelband „Knoten der Erinnerung“ [Originaltitel: „Węzły pamięci niepodległej Polski“, 2014] mit Beiträgen führender polnischer Historikerinnen und Historiker schreiben die Herausgeber, dass die Jahre 1939 bis 1945 eine allgemeine Katastrophe, die schärfste historische und irreversible Zäsur innerhalb des tausendjährigen Kontinuums der polnischen Geschichte darstellen. Inwiefern bestimmt diese Erzählung gegenwärtig noch das polnische Nachdenken über die Bedeutung des 2. Weltkriegs?

Ich habe den Vorteil, einen konkreten Fall besonders gut zu kennen – das Dorf Żmiąca. Dort bedeutete der 2. Weltkrieg keinen Abbruch in der biologischen Substanz der Dorfbevölkerung. Größere Veränderungen vollzogen sich während der Nordischen Kriege im 17. und 18. Jahrhundert – und heute, da in der Gegend ganze Dörfer aussterben. Jahrzehntelang war auch die Erinnerung an die Verheerungen während der Zeit der Konföderation von Bar [11] sehr präsent. Lebhafte Erinnerung über mehr als 150 Jahre! Ich weiß nicht, ob wir uns so lange an den 2. Weltkrieg erinnern werden. Deshalb scheint mir auch die Narration großer Zäsuren stark überzogen.

Łukasz Bertram: Sie wird aber beständig reproduziert, zum Beispiel in Form der Auffassung, die echte polnische Intelligenz sei 1939 ausgelöscht und danach durch eine von den Kommunisten rekrutierte Einfältigkeit ersetzt worden.

So hat Ryszard Legutko [12] es in seinem „Essay über die polnische Seele“ dargestellt –zwischen 1939 und 1945 wurde alles, was gut war, zugrunde gerichtet, und anschließend setzte sich ein Regime von Banditen und Einfaltspinseln durch. In der Tat wurde die polnische Intelligenz in Warschau und Katyń vernichtet. Nur wurde sie relativ schnell wiederbelebt. Unsere Geschichte verläuft auf sehr unterschiedlichen Ebenen und wenn wir einzelne Abschnitte herausschneiden, wie es Ryszard Legutko oder der bereits erwähnte Andrzej Leder tun, beginnen wir sie zu ideologisieren. Das Ideal wäre aus meiner Sicht eine integrale Geschichtsschreibung, die auf vielen verschiedenen Ebenen operiert, verschiedene Zäsuren, verschiedene Kontinuitäten, Politik, Geschichte, Ökonomie kennt. Dann erst können wir die Fehler der ideologisch verzerrten Narrationen aufzeigen. Haben wir es paradoxerweise gleichzeitig mit dem Zerfall sozialer Bindungen und ihrer Festigung zu tun? In einer solchen Situation versuche ich ein paar Schritte zurückzutreten und beides zu verbinden.

Iza Mrzygłód: Wie könnte man in diesem Fall die skizzierte bäuerliche Erinnerung ins allgemeine kollektive Gedächtnis integrieren?

Das ist eine schwierige Frage. Ich fürchte mich vor Operationen am kollektiven Gedächtnis, die der Lösung gegenwärtiger Probleme dienen sollen. Mindestens so wichtig wie die Erinnerung sind dabei doch unsere heutigen Erfahrungen. Ich hätte Angst, über das Polen der Bauern und ihre Erinnerung an die galizischen Bauernaufstände zu sprechen, wenn wir nicht zugleich wissen wollen, wer diese Menschen hier und heute sind und wie wir mit ihnen eine Gemeinschaft bilden können. Es gibt Studien, die zeigen, dass Erinnerung sich vergemeinschaftet, wenn sie mit einer gemeinsamen Praxis einhergeht. Wenn wir gesellschaftlich gespalten sind, werden wir die Differenzen in den Erinnerungsnarrativen betonen, um die heutigen Konflikte zu verschärfen. Ich kann mir durchaus eine Narration aus der Perspektive der Opfer vorstellen. Dies müssten hier die adeligen Opfer sein – wie bei den galizischen Bauernaufständen –und dort die jüdischen, schließlich die bäuerlichen.

Iza Mrzygłód: Möglicherweise führt der Weg ja über die Popkultur?

Ich wünsche mir nicht, dass die Entdeckung der Erinnerung der Landbevölkerung die Form einer Mode, einer neuen Verherrlichung von Bäuerlichkeit annimmt. Versuche von Intellektuellen, eine bäuerliche Narration der polnischen Geschichte zu kreieren, wie der Theaterregisseurin Monika Strzepka, des Dramaturgs Pawel Demirski oder der Rockgruppe RUTA, die alte aufständische Lieder aus der Volkstradition aufgreift, halte ich für künstlich. Persönlich gefällt mir das sogar, aber mir ist klar, dass ich nie einer vom Volk sein werde. Obwohl ich seit mehr als einem Dutzend Jahren regelmäßig aufs Dorf fahre, werde ich nie von dort sein. Ich sehe anders aus, ich arbeite anders, rede anders. Ich habe sogar andere Hände.

 

[1] Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego (KBW) – Militäreinheit, die dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit unterstellt war und primär für den Kampf mit dem antikommunistischen Widerstand nach 1945 vorgesehen war.

[2] Marcin Zaremba: Wielka Trwoga. Polska 1944-1947. Ludowa reakcja na kryzys, Kraków: Znak 2014.

[3] Die Bauernbatallione (Bataliony Chłopskie, BCh) – zweitgrößte bewaffnete Untergrundorganisation im besetzten Polen, eng verbunden mit der polnischen Bauernpartei.

[4] Gängige umgangssprachliche Bezeichnung des politischen Lagers, das in der Zweiten Polnischen Republik nach dem Staatsstreich Józef Piłsudskis im Mai 1926 die Macht übernahm.

[5] An diesen Streiks, die eine ökonomische und politische Demokratisierung einforderten, beteiligten sich mehrere Millionen Bauern. Als Folge des Einschreitens der Polizei starben 44 Menschen.

[6] Kämpfer der Heimatarmee (Armia Krajowa) und der Bauernbatallione, der nach dem Krieg im Süden Polens die separate antikommunistische Untergrundformation gründete. Er starb im Kampf mit dem KBW im Februar 1947. Seine Aktivitäten sind bis heute umstritten, u.a. aufgrund von Zeugenberichten, die der Gruppe „Ogień” die Beteiligung an Judenermordungen zuschreiben.

[7] Von den polnischen Kommunisten während der deutschen Besatzung geschaffene Organisation. Ab 1944/45 die dominierende politische Kraft in Polen, die sich im Dezember 1948 mit der Polnischen Sozialistischen Partei zur Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei verband.

[8] Die Formulierung „leśni ludzie“ (Waldmenschen) war die umgangssprachliche Bezeichnung für die Partisanen, die sich in Wäldern versteckten.

[9] Anspielung auf das Gedicht „Kurze Auseinandersetzung zwischen einem Edelmann, Schulzen und Pfarrer“ (1548) des Renaissance-Dichters Mikołaj Rej, in dem die Konflikte zwischen den drei Ständen – Adel, Klerus und Bauernschaft – dargestellt werden.

[10] Kulturphilosoph, außerordentlicher Professor am Institut für Philosophie und Soziologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften.

[11] Konfederacja Barska – Bund polnischer Adliger während der Jahre 1768–1772, der einen bewaffneten Kampf sowohl gegen die zunehmende zaristische Dominanz über die polnisch-litauische Rzeczpospolita als auch gegen Versuche,  das politische System der Adelsprivilegien und -freiheiten zu reformieren, führte.

[12] Professor der Philosophie, im Jahr  2007 Bildungsminister im Kabinett von Premierminister Jarosław Kaczyński.

Übersetzung: Lukas Becht

Special Reports / Das Jahr 1945. Politisch inkorrekte Erinnerung?

Rückkehr zur Normalität

Paweł Machcewicz im Gespräch mit Iza Mrzygłód und Łukasz Bertram · 5 May 2015
„Den weitreichenden Versuchen einer Instrumentalisierung der Geschichte in Russland für aktuelle politische Ziele gilt es entgegenzutreten” – sagt Paweł Machcewicz, Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig.

Iza Mrzygłód: Vor kurzem hat der polnische Sejm das Datum und den Namen des offiziellen Gedenktags zum Ende des Zweiten Weltkriegs geändert – vom „Feiertag des Sieges und der Freiheit“ am 9. Mai zum „Nationalen Tag des Sieges“ am 8. Mai. War diese Neuerung nötig?

Paweł Machcewicz: Diese Modifikation bedeutet die Rückkehr von einem politischen Propagandakonstrukt zur Normalität. Nach mitteleuropäischer Zeit wurde die Kapitulation der Deutschen am 8. Mai unterschrieben, nach Moskauer Zeit war bereits der 9. Mai angebrochen. Dieses Datum wurde den mitteleuropäischen Nationen mitsamt der sowjetischen Interpretation des Krieges aufgezwungen. Mich überrascht ein wenig, dass dies erst jetzt geändert wurde.

Iza Mrzygłód: Haben die Feiern überhaupt noch einen Sinn? In der parlamentarischen Debatte wurden Stimmen laut, den Gedenktag abzuschaffen, weil es aus polnischer Sicht eigentlich nichts zu feiern gebe.

Der Zweite Weltkrieg war ohne Zweifel eins der wichtigsten Ereignisse in unserer Geschichte und wir sollten an seine Bedeutung erinnern. Diejenigen, die behaupten, man solle dieses Datum nicht feiern, propagieren eine sehr einseitige Interpretation, nach der Polen den Krieg verloren hat und infolgedessen die eine Besatzung ganz einfach durch eine andere ersetzt wurde. Mit einer solchen Deutung bin ich nicht einverstanden.

Łukasz Bertram: Die Diskussion über die Bedeutung des Jahres 1945 für Polen dauert schon lange an. Vor mehr als 20 Jahren erschien das inzwischen zu einem Klassiker gewordene Buch von Krystyna Kersten über die Nachkriegszeit, das den Titel „Zwischen Befreiung und Versklavung“ trägt. Wie interpretieren Sie die Geschehnisse des Jahres 1945?

Aus meiner Sicht reicht ein einzelner Begriff nicht aus, um der damaligen Situation gerecht zu werden. Das Kriegsende war zweifellos unser Sieg. Die [bereits angesprochene] Narration des gegenwärtigen rechten politischen Lagers ignoriert völlig, dass wir Polen Teil der Anti-Hitler-Koalition waren und uns am 8. Mai 1945 somit im Kreis der Sieger des Krieges befanden. Polnische Soldaten eroberten Berlin, ein wenig weiter in Norddeutschland marschierte von Westen her die 1. Panzerdivision von General Stanisław Maczek ein [1]. Das Paradox besteht allein darin, dass dieser Sieg uns weder Freiheit noch nationale Souveränität einbrachte, auch die alten Grenzen wurden nicht wieder hergestellt. Die Befreiung von der Besatzung durch Hitler-Deutschland brachte eine erneute Unterwerfung mit sich: die Abhängigkeit von der UdSSR, Repressionen und den Beginn der kommunistischen Diktatur.

Wir dürfen aber nicht negieren, dass das Ende des Krieges im Mai 1945 von der großen Mehrheit der Polen mit großer Freude erlebt und gefeiert worden ist. Hunderte von überlieferten Quellen bestätigen dies. Wenn wir das ignorierten, würden wir die Geschichte verfälschen.

Iza Mrzygłód: Dennoch findet die These von der „zweiten Besatzungsherrschaft” viele Anhängerinnen und Anhänger.

Selbstverständlich hatten wir es während der ersten mehr als 10 Monate nach dem Einzug der Roten Armee auf dem Gebiet des Vorkriegspolens mit Elementen einer Besatzungsherrschaft zu tun. Sowjetische Militäreinheiten, die Geheimpolizei des sowjetischen Innenministeriums NKWD und der militärischen Spionageabwehr SMERSCH nahmen allesamt am Kampf gegen den polnischen Untergrund teil und inhaftierten Soldaten der Heimatarmee und Menschen, die mit dem polnischen Untergrundstaat verbunden waren. Es kam zu solchen Massenverbrechen, wie der „Treibjagd von Augustów“ [2] oder der Zwangsdeportation polnischer Bevölkerung aus Schlesien und Pommern nach Osten. Trotzdem ist es historisch und moralisch falsch, die deutsche Besatzung und die sowjetische Herrschaft während der gesamten Nachkriegszeit auf eine Stufe zu stellen oder gar zu suggerieren, dass nicht nur die Volksrepublik Polen von 1946, sondern auch jene von 1975 oder 1985, mit dem Generalgouvernement zu vergleichen sei.

Die Herrschaft übernahmen schließlich polnische Kommunisten, die zwar aus Moskau kontrolliert wurden, sich aber gewisse Spielräume bewahren und im Laufe der Zeit deutlich ausbauen konnten – wie Gomułka 1956 [3]. Bei ideologisch aufgeladenen Interpretationen wird ebenso leicht vergessen, dass das Dritte Reich seit 1939 gegenüber Polen eine Politik des Völkermords betrieb. Die sowjetische Herrschaft bedeutete zwar Diktatur und den Verlust der nationalen Souveränität, aber eine Ausrottungs- oder Entnationalisierungspolitik gegenüber der polnischen Bevölkerung hatten Stalin und andere führender Politiker der UdSSR nicht im Sinn – einmal abgesehen von der Exekution eines Großteils der Eliten der Zweiten Polnischen Republik im Jahr 1940 in Katyń.

Iza Mrzygłód: Welchen Beitrag zum öffentlichen Diskurs über das Ende des Krieges möchte das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig leisten?

Wir wollen die ganze Komplexität der damaligen Situation aufzeigen: Dass es sich aus polnischer Perspektive sowohl um eine Befreiung als auch um den Beginn einer neuen Unterwerfung handelte; dass das Kriegsende auf dem Boden verheerender Zerstörungen dennoch den Aufbau des Landes mitsamt einer neuen politischen Ordnung in Gang setzte, was wiederum tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur hervorrief. Außerdem löste das Kriegsende in der modernen europäischen Geschichte beispiellose Menschenbewegungen, demografische und ethnische Veränderungen aus: Die Flucht und Umsiedlung der Deutschen, die Umsiedlung der Polen aus dem Osten in die neuen Grenzen der Volksrepublik, die Umsiedlung der Ukrainer, die Rückkehr von Hunderttausenden von Zwangsarbeitern und Lagerinsassen. Wir wollen in unserem Museum überdies den lokalen Kontext in Erinnerung rufen, indem wir einerseits die Tragödie der hiesigen Bevölkerung beleuchten: den Exodus der Deutschen, den Untergang der „Wilhelm Gustloff“, bei dem mehr als 6.000 Menschen ums Leben kamen, die massenhaften Vergewaltigungen vor allem deutscher aber auch polnischer Frauen durch Soldaten der Roten Armee. Auf der anderen Seite stellen wir die bis zur ultimativen Kapitulation Hitlers andauernden deutschen Kriegsverbrechen dar – zum Beispiel die Todesmärsche aus dem Konzentrationslager Stutthof oder die Massaker in Palmnicken [4], wo mehrere Tausend Gefangene, vor allem jüdische Frauen, getötet wurden, mit tatkräftiger Unterstützung durch die lokale Hitlerjugend. Das geschah am Tag nach der Tragödie der „Gustloff“, in derselben Gegend, aus der zur selben Zeit die deutsche Zivilbevölkerung vor der Roten Armee flüchtete. Umso mehr symbolisches Gewicht hat dieses grausame Ereignis. Unsere Erzählung ist ganz einfach sehr vielschichtig und komplex, weil die damalige Realität kompliziert war.

Iza Mrzygłód: In Polen geraten Erzählungen über den Krieg meistens zu einer geschlossenen heroisch-martyriologischen Narration über unseren Widerstand und unser Leiden. Museen werden so zu Werkzeugen der Konstruktion des großen Mythos einer im Leid zusammengeschweißten Gemeinschaft. In Deutschland hat sich dagegen die Tradition entwickelt, Museen als kritische Institutionen zu denken, die in eine Diskussion mit der Vergangenheit eintreten. Welche Formel realisiert das Museum in Danzig?

In der Tat gibt es zwei unterschiedliche Typen von Geschichtsmuseen – einerseits den Tempel, der ein geschlossenes Wissen vermittelt, und andererseits das kritische Museum, das zum Nachdenken anregen soll. Kaum ein Museum lässt sich eindeutig einer dieser Pole zuordnen, die überwiegende Mehrzahl findet sich irgendwo dazwischen wieder. Auch in Deutschland präsentieren die wichtigsten Museen trotz des Postulats kritischer Auseinandersetzung im Grunde sehr geschlossene, traditionell konstruierte Narrationen, die vermutlich sogar in Polen als allzu denkmalhaft wahrgenommen würden. Ich denke zum Beispiel an das Deutsche Historische Museum.

Wir wollen uns keinem der beiden Modelle doktrinär verschreiben. Dennoch müssen wir dem zeitgenössischen Heroismus einen Platz einräumen – denn der Krieg war eine Zeit, in der tatsächlich die größtmöglichen Opfer für das Vaterland erbracht wurden, so aufdringlich und unmodisch das für manche heute vielleicht klingen mag. Gleichzeitig hatten viele Aktivitäten in der damaligen Zeit den Charakter gesellschaftlichen Engagements. Der polnische Untergrundstaat war nicht einfach eine „von oben“ installierte Struktur. Sein Entstehen ist vor allem einer Vielzahl von Initiativen „von unten“ zu verdanken. Dieser Aspekt der Selbstorganisation beinhaltet eine wichtige Lektion für die Polen von heute, denen es oft an der Bereitschaft zu gemeinschaftlichem Engagement mangelt.

Łukasz Bertram: Wo liegen Ihrer Meinung nach die größten weißen Flecken und Mythologisierungen in der polnischen Erinnerung an den Krieg?

Am meisten stört mich die fortschreitende Ideologisierung der historischen Reflexion im Laufe der vergangenen zehn bis fünfzehn Jahre. Ein markantes Beispiel ist auf der einen Seite die anti-kommunistische, rechte Ideologisierung, die die Volksrepublik während ihrer gesamten Dauer als totalitär bezeichnet. In ihrer radikalsten Ausprägung suggerieren entsprechende Historiker sogar, die Sowjets oder Kommunisten hätten wesentlich schlimmere Verbrechen an den Polen begangen als die Deutschen, und behaupten ohne Einschränkung, Hitler sei nur der kleine Schüler Stalins gewesen. Da werden Behauptungen aufgestellt, wonach die einzige, eines wahren Polen würdige, Verhaltensweise im Jahr 1945 darin bestand, in den Wald zu gehen und sich dem bewaffneten Widerstand gegen die Kommunisten anzuschließen – was damals sogar von der Exilregierung in London ausdrücklich verurteilt wurde. Diese These übersieht die Entscheidung von Millionen von Menschen, die sich zwar nicht politisch für den Kommunismus engagierten, aber mithalfen, das Land aufbauen, indem sie zum Beispiel in sozialen oder kulturellen Einrichtungen sowie Bildungsinstitutionen arbeiteten.

Mit Ausnahme der wertvollen Erkenntnisse des polnischen Zentrums zur Erforschung des Holocaust, die differenziert auf die unterschiedlichen Haltungen der Polen gegenüber der jüdischen Bevölkerung während des Krieges hinweisen und die Verbreitung des Phänomens des „Schmalzowniks“ [5] – der Ermordung sich versteckender Juden oder ihre Auslieferung an die deutschen Besatzer – benennen, haben wir es auf der anderen Seite auch mit sehr radikalen Positionen zu tun. Nehmen wir zum Beispiel die Bücher von Jan Tomasz Gross. Sie bedienen sich einer maximalen Verallgemeinerung, indem sie unter anderem behaupten, dass es für die polnische Bevölkerung während des Krieges eine „gesellschaftliche Norm“ gewesen sei, Juden umzubringen. Das stellt ebenso eine Ideologisierung, den Versuch einer Gemütsveränderung dar, um durch eine bewusste und übertrieben Zuspitzung der historischen Sprache den gegenwärtigen Antisemitismus zu bekämpfen. Der Effekt ist das genaue Gegenteil, die Leute verschließen sich Erkenntnissen, die bei einer differenzierteren Sprache durchaus allgemein Anerkennung finden würden.

Iza Mrzygłód: Wie wollen Sie den Besucherinnen und Besuchern aus dem Ausland diese Narration verständlich und spannend präsentieren, ohne dabei all diese Nuancen zu verlieren?

Man muss die polnischen Erfahrungen im Gesamtbild der europäischen und globalen Geschichte platzieren, nur dann werden jene verständlich und die Besonderheit Polens vor dem Hintergrund anderer nationaler Erfahrungen sichtbar. Wir verwirklichen im Museum des Zweiten Weltkriegs die Überzeugung, dass dazu unbedingt die Tatsache hervorgehoben werden muss, dass Polen einer zweifachen Aggression und einer zweifachen Besatzung zum Opfer gefallen ist. Häufig weiß man davon im Westen gar nichts. Wir zeigen, wie sich noch in der Zwischenkriegszeit zwei totalitäre Ideologien und Herrschaftssysteme herausbildeten. Dargestellt wird unter anderem die extreme Brutalität der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen und allgemein in Mittel- und Osteuropa, die sogar im Deutschland der Gegenwart wenig bekannt ist. Schließlich akzentuieren wir die Ambivalenzen des Jahres 1945.

Man muss die polnischen Erfahrungen im Gesamtbild der europäischen und globalen Geschichte platzieren, nur dann werden jene verständlich und die Besonderheit Polens vor dem Hintergrund anderer nationaler Erfahrungen sichtbar.

Paweł Machcewicz

Ich habe die Hoffnung, dass eine solche Erzählung auch für Russen interessant sein wird, denen man vor dem Ausbruch des jüngsten russisch-ukrainischen Krieges in Danzig noch an jeder Ecke begegnen konnte. Die Mehrzahl von ihnen hat vom Ribbentrop-Molotow-Pakt nie gehört, den 17. September 1939 interpretieren sie aus sowjetischen und postsowjetischen Lehrbüchern.

Łukasz Bertram: Ist das Museum vor diesem Hintergrund mit seiner Darstellung ein Teil der staatlichen Ideologie des heutigen Polens? Ich meine, beteiligt es sich an der begründenden Narration polnischer Staatlichkeit und ihre Vergangenheit.

Eine solche Formulierung ruft meine Beunruhigung hervor. Selbstverständlich wird diese Narration gewissermaßen staatlich sanktioniert, aber unter den Bedingungen eines demokratischen, pluralistischen Staates existieren viele Museen und viele Narrationen. Ich will damit keineswegs sagen, dass unser Museum als Gegenpol zum Museum des Warschauer Aufstandes entsteht, wie es viele Medien und Politiker suggerieren. Aufmerksame Betrachterinnen und Betrachter erkennen mit Sicherheit Unterschiede in beiden Museen, was die Behandlung des Warschauer Aufstandes oder des polnischen Untergrundstaates angeht. Das Wesen eines demokratischen Staates besteht darin, dass verschiedene historische Perspektiven nebeneinander existieren können. Aber darüber entscheiden Historikerinnen und Historiker, Kuratorinnen und Kuratoren, und eben die Museen – und nicht Premierministerinnen oder Kulturminister. Zum Glück.

Łukasz Bertram: Haben die Entscheidung, am 8. Mai ein Treffen der Staatsoberhäupter unserer Region in Verbindung mit einer Diskussion über den 2. Weltkrieg zu organisieren, auch Historiker getroffen?

Natürlich nicht. Die Veranstaltung einer Gedenkfeier zum Kriegsende in Danzig war eine politische Entscheidung, genauso wie die Parade in Moskau am 9. Mai politischen Charakter hatte. Unabhängig von dem Treffen europäischer Staatschefs in Danzig hat eine internationale wissenschaftliche Tagung stattgefunden, die das Kriegsende thematisiert hat und mit der Eröffnung der Ausstellung „Das Kriegsende in 45 Exponaten“ verbunden war. Diese Konferenz war deutlich früher als die Zusammenkunft der Vertreter europäischer Staaten in Danzig geplant.

Aus meiner Sicht als Historiker halte ich es für unsere Pflicht, der groß angelegten und unter anderem propagandistischen Expansion des gegenwärtigen Russlands in Bezug auf die Interpretation des Krieges und des 20. Jahrhunderts im Ganzen Widerstand zu leisten. Den weitreichenden Versuchen einer Instrumentalisierung der Geschichte für aktuelle politische Ziele gilt es entgegenzutreten. In diesem Kontext war das angesprochene Danziger Treffen von Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Geschichtswissenschaft – auch aus Russland –nicht nur der Versuch, ein realistisches Bild vom Krieg und seinem Ende zu präsentieren, sondern auch daran zu erinnern, worin die Fundamente des gegenwärtigen, demokratischen Europas bestehen. Die jeweilige Besonderheit der Funktion von Historiographie und Politik muss dabei gewahrt bleiben.

Übersetzung: Lukas Becht

[1] Die 1. Polnische Panzerdivision von Stanisław Maczek war mit den Alliierten am 1. August 1944 in der Normandie gelandet und über Belgien und Holland nach Deutschland vorgedrungen, wo sie u.a. die Kapitulation der Marinebasis in Wilhelmshaven entgegennahm.

[2] Einheiten der Roten Armee, der sowjetischen Sicherheitspolizei und des Geheimdienstes führten gemeinsam mit polnischen Kommunisten im Juli 1945 eine groß angelegte Säuberungsaktion zur Zerschlagung des antikommunistischen Widerstands in der Gegend um die Stadt Augustów nahe der heutigen Grenze Polens zu Litauen und Belarus durch. Bei der als „Obława Augustowska“ bekannt gewordenen Aktion wurden 2000 Menschen festgenommen, der Verbleib von 600 ist bis heute ungeklärt. Inzwischen wird davon ausgegangen, dass diese exekutiert worden sind.

[3] Władysław Gomułka übernahm im Jahre 1956 nach politischen Unruhen die Führung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei.

[4] Wegen der anrückenden Front wurden im Januar 1945 die ostpreußischen Außenlager des KZ Stutthof aufgelöst und die Insassen über Königsberg nach Palmnicken getrieben. Von ursprünglich 7000 vorwiegend aus Polen und Ungarn stammenden jüdischen weiblichen Häftlingen überlebten knapp 3000 den Todesmarsch, in Palmnicken (heute die im Oblast Kaliningrad gelegene Stadt Jantarny) zahlreiche von ihnen durch die SS-Wachmannschaften ermordet.

[5] Szmalcownik – abwertende Bezeichnung für Personen, die unter der deutschen Besatzung gegen Geld versteckte Juden ausfindig machten, sie und ihre polnischen Beschützer erpressten und/oder an die Deutschen verrieten.

Special Reports / Wer hat heute Angst vor den Roma?

Wer hat heute Angst vor den Roma?

Karolina Wigura · 24 June 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor gar nicht allzu langer Zeit war auf dem Titelblatt des Schweizer Magazins „Die Weltwoche“ das Foto eines dunkelhäutigen Jungen zu sehen, der mit einer Pistole auf den Betrachter zielte. Der Titel unter dem Foto verkündete: „Die Roma kommen. Raubzüge in die Schweiz“. Das Groteske bestand darin, dass das Foto gar nicht in der Schweiz geschossen worden war, sondern im Kosovo. Der abgebildete kleine Junge heißt Mentor Malluta. Tatsächlich präsentierte er dem Fotografen einen Spielzeugrevolver, den er auf der Müllhalde gefunden hatte, wo seine Eltern auf der Suche nach Gegenständen waren, die sie verkaufen und damit etwas Geld verdienen konnten.

Ein Ausrutscher? Mitnichten! Anti-Roma-Parolen und gegen Roma gerichtete politische Maßnahmen sind in den letzten Jahren zu einem überparteilichen Phänomen geworden, das sich von der Linken bis zur Rechten erstreckt. Zur Untermauerung dieser These lassen sich problemlos zahlreiche Beispiele aus Frankreich (erinnern wir uns an den gerade eine Woche zurückliegenden Fall eines 16-jährigen Rom, der in einem Pariser Vorort brutal zusammengeschlagen wurde), Ungarn, der Slowakei usw. anzuführen. Dieser Missstand hat, das muss man hinzufügen, auch in Polen Einzug gehalten. Vor einem Monat schlug eine Stadträtin von Wrocław die Einzäunung einer Romasiedlung vor, damit keine neue Hütten dazugebaut werden könnten. Ein aktuelles Beispiel für Ghettodenken? In Andrychów, einer Kleinstadt bei Wadowice, kommt es seit einigen Wochen immer wieder zu Angriffen auf die Roma-Minderheit. Seit Jahren erfahren die negativen Gefühlsregungen gerade in den Sommermonaten einen Anstieg – sei es wegen der häufigeren Anwesenheit bettelnder Roma auf den Straßen, sei es wegen der zu dieser Jahreszeit zunehmenden Zahl von oftmals illegalen Romalagern.

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Special Reports / Wer hat heute Angst vor den Roma?

“Race zutiefst kriminell.” Die Geschichte von dem Bild der Roma in Europa

Karolina Wigura · 24 June 2014
Die Anti-Roma-Rhetorik ist in den letzten Jahren zu einem überparteilichen Phänomen geworden, das sich von der politischen Rechten bis zur Linken spannt. Aber die Roma-Politik verläuft im vereinten Europa schon seit Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten in diskriminierenden Bahnen.

Vor einem Monat schrieb Wrocławs Stadträtin Wanda Ziembicka eine Interpellation an den Stadtpräsidenten, in der es um die Erweiterung einer unhygienischen Siedlung um einige neue Hütten ging. Sie betonte ihr Entsetzen über eine Situation, in der die Roma sich straffrei fühlten. „Könnte man diese Siedlung nicht mit einem Zaun abgrenzen?”, fragten die schlesischen Kommunalpolitiker. Ihr Urteil zeugte jedoch nicht von politischer Rückständigkeit – ganz im Gegenteil! Beispiele für eine solche Anti-Roma-Rhetorik lassen sich in den unterschiedlichsten europäischen Ländern finden.

„In den Nachbardörfern nehmen schwangere Romafrauen vorsätzlich Tabletten ein und schlagen sich mit Gummihämmern in den Bauch, um behinderte Kinder zur Welt zu bringen und so eine höhere Familienbeihilfe zu erhalten“. Dieser Satz von Oszkár Molnár, Bürgermeister der ungarischen Kleinstadt Edelény, fiel auf einer offiziellen Stadtratssitzung im Jahr 2009.

Werfen wir nun einen Blick auf das Land an der Loire. „Der Grund für dieses Problem, d. h. das Problem der freien Bewegung dieser noch nie akzeptierten und unter miserablen Bedingungen lebenden Population [der Roma; Anm. KW], ist, dass die Europäische Union keine Regelung verabschiedet hat, derzufolge diese Menschen dort bleiben würden, wo sie hingehören: in Rumänien.“ Das sind die Worte des derzeitigen französischen Präsidenten François Hollande, ausgesprochen während der Wahlkampfperiode 2012.

Dieser Wandel geht jedoch nicht nur in der Sphäre politischer Rhetorik vonstatten: Den Worten folgen politische Schachzüge. Die Situation der Roma hat sich in den vergangenen Jahren drastisch verändert.

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Angefangen bei der Räumung von Romasiedlungen in Frankreich und der Auszahlung von Geldern an die Bewohner, damit diese nach Rumänien zurückkehrten (wofür Kritiker den Satz „Roma bezahlen, damit sie Roma bleiben“ prägten), bis hin zur Diskriminierung dieses Bevölkerungsteils in Tschechien, Ungarn und der Slowakei, wo z. B. Romakinder – wegen ihrer den Beamten zufolge nicht ausreichenden Sprachkenntnisse – in Sonderschulen geschickt werden, die sich hinterlistig „praktische Schulen“ nennen. Auch wurden Fälle von Zwangssterilisation bei Romafrauen beschrieben.

Deportationen und Voyeurismus

Nach dem Fall des Kommunismus suchten zehntausende Roma, vor allem aus Bulgarien, Rumänien und Ex-Jugoslawien, wegen des hohen Lebensstandards und der relativ liberalen Einwanderungspolitik Asyl in Deutschland. Anfangs hielt Deutschland sie an der Grenze zu Polen auf. Im September 1992 handelte das deutsche Außenministerium mit der Regierung Rumäniens aus, dass die Roma dorthin zurückgeschickt werden sollten. Für das Reintegrationsprogramm wurden 20 Millionen Dollar bereitgestellt.

Deutschland war nicht der einzige europäische Staat, der Roma deportierte. Aufgrund der Erinnerung an den Porajmos (die Bezeichnung der Roma und Sinti für den Holocaust) und der Ereignisse direkt nach dem Zweiten Weltkrieg, als die BRD den wenigen überlebenden deutschen Sinti und Roma, die versuchten, in ihre Häuser zurückzukehren, das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft absprach, stießen die Entscheidungen aus Bonn jedoch auf schärfste Kritik. An Beispielen für Deportationen mangelt es auch in anderen Ländern der Region nicht. Über 1000 Roma aus Polen suchten nach dem Pogrom von Mława 1991 Asyl in der Schweiz. Alle wurden deportiert. Die Tschechen wiesen Roma, die keinen festen Wohnsitz nachweisen konnten, in die Slowakei aus.

Nun könnte jemand sagen (und nicht ganz zu Unrecht), dass Gemeinschaften – wie die deutsche, französische, polnische oder, weiter gefasst, die europäische – schließlich das Recht hätten, ihre Kultur zu verteidigen. Dass niemand in der Nachbarschaft der informellen Romasiedlung von Wrocław wohnen wollen würde, oder neben der Wohnblock-Siedlung Luník IX in Košice, deren Google-Fotos zum Internethit avancierten und mit schaudernd-voyeuristischen Kommentare bedacht wurden. Kaum zu bestreiten, dass das Recht des Einzelnen und der Gesellschaft auf ein „Leben nach eigener Fasson“ keinen Mangel an Achtung vor gemeinsamen Regeln bedeuten kann…

Im Fall der Roma darf man es jedoch nicht bei dieser Feststellung bewenden lassen, ist ihr Verhalten doch tief mit der jahrhundertealten Tradition der Diskriminierung und der Xenophobie der Europäer „Fremden“ gegenüber verflochten.

Reifes Gesellschaftsdenken sollte die mit einbeziehen, die von jahrelangem Unrecht betroffen waren. Sie nicht zu bedenken bedeutet, ihnen das Recht auf Würde abzusprechen.

Karolina Wigura

Islamische Spione

Von Anfang ihrer Anwesenheit in Europa an bescherte ihre unklare Herkunft den Roma zweifelhaften Ruhm. Es wurde behauptet, sie seien Anhänger des Islam; man hielt sie für türkische Spione. Den Roma wird vorgeworfen, ein Nomadenleben zu führen, obwohl nur wenigen der Grund für dieses Phänomen bekannt ist. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts besaß der Großteil der Roma, die zur damaligen Zeit an der unteren Donau lebten, keine persönliche Freiheit. Ist das nicht ein Schlag für das kollektive Bewusstsein Europas, das die Sklaverei nach außerhalb der eigenen Zivilisationsgrenzen verlegt hatte?

Erst nach einer Rechtsänderung nahmen die Migrationswellen der Roma ihren Anfang. Sie versuchten, in den verschiedensten Teilen Europas einen anderen Ort zum Leben zu finden – überzeugt, dass das Freilassungsdekret nur eine Laune eines der Herrscher sein konnte. Meistens wurde ihnen jedoch verboten, an einem Ort zu verbleiben. In einigen Teilen des Deutschen Kaiserreichs erwartete die Roma automatisch die Todesstrafe, und den Romni wurden die Ohren abgeschnitten. Bekannt sind auch Jagden auf Roma – wie Tierjagden, als Sport. Eine „Zigeunerfrau und ihr Junges“ verzeichnete ein rheinischer Aristokrat auf seiner Trophäenliste.

Wie ist diese Grausamkeit zu erklären, in einer Zeit, in der die neuzeitliche Vorstellung von einem liberalen Staat geboren wurde, in der die Debatte über Frauen- und Kinderrechte in die entscheidende Phase trat? Es lässt sich ein direkter Zusammenhang zwischen dem „Liber Vagatorum“ – einem im 16. Jahrhundert auf deutschem Gebiet veröffentlichten Pamphlet, in dem verschiedene Arten von Bettlern vorgestellt wurden, darunter auch „der Zigeuner“ – und den Theorien zur Degeneration und Kriminalbiologie aus der Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert aufzeigen. Ein bahnbrechendes „Werk“ unter den Studien zur „Zigeunerkriminalität“ war „L’Uomo Delinquente” des berühmten Cesare Lombroso [1]. Darin werden Roma als „durch und durch kriminelle Rasse“ bezeichnet, die „in moralischer Hinsicht zutiefst verkommen und unfähig zu jeglicher kultureller und intellektueller Entwicklung“ sei. Dieses Buch des italienischen Psychiaters trug wie kaum ein anderes dazu bei, dass ein ganzes Spektrum von Begriffen wie „Zigeunerproblem“, „Zigeunerkriminalität“ und auch festen Wendungen zur Charakterisierung von Roma, z. B. „geistig zurückgeblieben“ oder „gesellschaftlich nicht integrierbar“, verbreiten konnte.

Das Rätsel der Andersartigkeit der Roma erklärt der Forscher Ian Hancock, selbst ein Rom, in seinem Buch „Das Paria-Syndrom“ [Originaltitel: The Pariah Syndrome: An Account of Gypsy Slavery and Persecution]. Die spezifische Weise, auf welche die Roma nach Europa gelangten, wirkte sich Hancock zufolge so aus, dass sie hier als zersplittertes Volk in Erscheinung traten, das zwar durch die Kultur, teilweise auch durch die Sprache und die Quelle der Herkunft vereint wurde, aber zugleich jeglicher Mittel entbehrte, mit Hilfe derer andere Gesellschaften ihr Selbstwertgefühl und ihre Identität aufbauten. Die Roma verfügten weder über politische noch militärische Stärke, noch über ein geographisches Territorium, mit dem sie sich hätten identifizieren können. Sie hatten auch keine Geschichte, Religion, Sprache, die den Völkern um sie herum vertraut gewesen wären. In dieser Situation mussten die Roma sich einen alternativen Selbstschutzmechanismus schaffen. Sie flüchteten sich in die Magie, verbreiteten Schrecken mit Verwünschungen und Bannen, mit denen sie Kinder belegten.

Die Integration erschwerten noch die Vorstellungen von Reinheit und Verunreinigung, die die Roma von ihren Vorfahren vom indischen Subkontinent übernommen hatten und die sich auf viele Sphären des Alltagslebens erstreckten. Ernährung, Nahrungszubereitung, Sorge um die körperliche Hygiene stellten Barrieren bei der Interaktion mit anderen dar. Aus diesem Grund erachteten viele Romagruppen jegliche Ideen einer Verbrüderung mit den Europäern als unerwünscht. Aufgrund deren anderen Lebensstils zählten sie die Europäer sofort zu den „Unreinen“ und drückten dies nicht selten auf heftige Weise aus, was entscheidend zur Vermehrung der eigenartigsten Mythen und Phantasievorstellungen über sie selbst beitrug.

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Ein reifes Gesellschaftsdenken sollte die mit einbeziehen, die von jahrelangem Unrecht betroffen waren. Sie nicht zu bedenken bedeutet, ihnen das Recht auf Würde abzusprechen.

Werden Kultur und Identität der gesamten Roma-Minderheit in den Bereich des Elends und gesellschaftlichen Ausschlusses verbannt, geraten die Säulen der Europäischen Union – die Idee der Integration – ins Wanken. Die Roma sind heute für das Europäische Projekt eine wichtige Prüfung.

(Übersetzung: Lisa Palmes)

Special Reports / Wer hat heute Angst vor den Roma?

Unsere europäischen „Wilden“

Klaus-Michael Bogdal im Gespräch mit Karolina Wigura · 24 June 2014
Was sind die tiefen kulturellen Hintergründe für die Ablehnung der Roma? Was haben sie mit der heutigen Anti-Roma-Politik und -Rhetorik gemeinsam? Sind Antiziganismus und Antisemitismus einander ähnlich? Auf diese Fragen antwortet Klaus-Michael Bogdal, dessen Buch „Europa erfindet die Zigeuner” den angesehenen Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung erhalten hat.

Karolina Wigura: Sie schreiben, die Zigeuner seien seit Jahrhunderten eine „Erfindung” der europäischen Kultur, die es unserer Zivilisation erlaube, sich zu konstituieren und vom „Barbarischen”, „Fremden”, „Animalischen” abzugrenzen. Lässt sich auf diese Weise die derzeitige Anti-Roma-Rhetorik der europäischen Politiker erklären?

Klaus-Michael Bogdal: Man muss hier zwischen dem kulturhistorischen Bild der Roma in Europa und der ungesunden Melange von Emotionen, Populismus und Vorurteilen unterscheiden, die wir in letzter Zeit hinsichtlich der Roma beobachten. Das lässt sich leicht am Beispiel der immer wiederkehrenden Diskussion über die Einwanderung von Bulgaren und Rumänen auf die britischen Inseln seit der Öffnung des dortigen Arbeitsmarktes sehen. Im Zuge dieser Debatten tritt eine Zigeunerangst zutage, die jetzt genauso spürbar ist wie vor Jahrhunderten. Die Personen, die solche Vorurteile verbreiten, nutzen gewöhnlich die einfachsten und am wenigsten aufgearbeiteten Stereotype über die Roma: ihre kulturelle Fremdheit, orientalische Herkunft… Dabei ist es egal, ob diese Klischees überhaupt ein Körnchen Wahrheit enthalten.

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Wann bildete sich ein solches Bild von den Roma heraus?

Über die Stellung der Roma in Europa entschied der Moment ihrer Ankunft auf dem Kontinent, in der europäischen Frühneuzeit. Weil die Roma nicht am großen zivilisatorischen Sprung des ganzen Kontinents teilnahmen, erhielten sie eine absolute Ausnahmeposition in Hinsicht auf alle anderen nationalen und kulturellen Gruppen. Eine andere Position auch in Hinsicht auf die geradezu archetypische „fremde“ Alte Welt, also die Juden. Und somit mussten und müssen die Vorurteile gegen die Zigeuner anders sein als der Antisemitismus.

Weil die Romvölker nicht am großen zivilisatorischen Sprung zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert teilnahmen, wurden sie im europäischen Zuhause als „Wilde” angesehen.

Klaus-Michael Bogdal

Die tragische Schicksalsgemeinschaft von Roma und Juden während des Zweiten Weltkriegs bewirkt jedoch, dass von Antisemitismus und Antiziganismus oft „im Doppelpack” gesprochen wird. Die Historiker nennen Argumente dafür. Sie erinnern daran, dass das Dritte Reich an den Roma die Maßnahmen „testete“, die es später in großem Umfang an den Juden vornahm.

Konzentrationslager wie beispielsweise der „Zigeunerrastplatz Marzahn“ wurden 1936 eingerichtet. Sind Shoah und Porajmos zwei Gesichter desselben Hasses, derselben Verachtung der Europäer gegenüber „Fremden“?

Zwischen der Diskriminierung von Juden und Roma gab es zu Ende des 19. Jahrhunderts eine Parallelität, als sich die Ideologie des Sozialdarwinismus und Rassismus verbreitete. In den Wahnsinns-Gedankenkonstruktionen, die damals entstanden, fielen die beiden Völker in dieselbe Kategorie. In den Zeiten davor kann von Parallelitäten keine Rede sein. Antisemitismus und Antiziganismus repräsentieren ganz andere Bilder, Narrationen, Ausschlussmechanismen.

Kann der Antiziganismus somit als ein Begriff gelten, der nach dem Bild des Antisemitismus geschaffen wurde?

Ich sehe drei deutliche Unterschiede in der Genese der Vorurteile gegen Roma und Juden. Erstens brachten die Juden eine Kultur und Religion nach Europa, die bedeutend älter waren als die europäischen und christlichen Werte. In kulturellem Sinne fungierten sie gewissermaßen als Konkurrenten gegenüber dem römischen Christentum. Diesem Verhältnis entspringt der frühe, vor allem im Mittelalter und der späten Neuzeit entwickelte Antijudaismus. Zweitens spiegelte die soziale Struktur der jüdischen Gemeinden in hohem Maße die Verhältnisse in christlichen Gemeinschaften wider. Charakteristisch waren für sie eine Differenziertheit in Bildung und ausgeführten Tätigkeiten. Diese beiden Faktoren entschieden über die unterschiedliche Wahrnehmung von Juden und Zigeunern. Die Kultur der Roma lässt sich immer noch nicht als Konkurrenz zur christlichen betrachten (allein aus dem Grund, dass ein bedeutender Teil der Roma Christen sind). Und man kann ebenfalls nicht sagen, dass die Zigeuner eine geschlossene, innerlich differenzierte, soziale Einheit bilden.

Und der dritte Unterschied bei der Genese von Antisemitismus und Antiziganismus?

Der schon von mir erwähnte Moment der Erscheinung in der Geschichte Europas. Nach der Aufklärung versuchten alle Völker des Alten Kontinents sich eine eigene Geschichte zu erfinden. Das schloss auch die mit ein, die keinen Staat hatten – z. B. die Juden. Im Fall der Roma geschah das nicht. Bei ihnen gab es weder das Bewusstsein der eigenen Historizität noch Versuche, einen eigenen nationalen Mythos zu schaffen. Ihre mündliche Kultur tradiert vor allem Märchen und Lieder.

Entgegen ihrem Selbstverständnis benötigen die Europäer ein deutliches Gegenbild zum Rationalen und Aufgeklärten ihrer Kultur, Momente der Entzivilisierung, die ihnen erst die Kraft und die Möglichkeit geben, ihre eigene Kultur zu festigen.

Klaus-Michael Bogdal

Dieser Grund genügte vielen, um das Urteil zu fällen, ein Volk der Roma gäbe es nicht.

Das ist Unsinn. Die Roma sind in Europa ein außergewöhnliches Volk, das keine Ansätze eines nationalen Bewusstseins, keine gemeinsame geschichtliche Vision herausbildet. Sie sind eine Gemeinschaft, die nicht am zivilisatorischen Sprung zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert teilnahm. Aufgrund dieser Tatsache wurden die Roma als „Wilde“ angesehen. Ich kenne viele Dokumente aus der Zeit des Kolonialismus, als die Zigeuner mit den Völkern Afrikas oder Südamerikas gleichgesetzt wurden. Die Juden wurden diskriminiert, es wurden ihnen viele Dinge genommen, aber eines ist sicher: Man hat sie weder jemals für Wilde gehalten noch für unfähig, beispielsweise Verträge abzuschließen. Dagegen würde niemand auf die Idee kommen, die Roma als rechtsfähige Subjekte zu behandeln. Die Roma wurden als unrein, unehrenhaft gesehen, also überflüssig für die Gesellschaft.

In dem berühmten Gedicht von Konstantínos Kaváfis, in dem die Bewohner einer Stadt auf die Barbaren warten, die nicht kommen, signalisiert das den Untergang unserer Zivilisation. Kann man sich ein europäisches Projekt vorstellen, ohne sich „Fremde“ vorzustellen?

Aber warum brauchen wir die Figur des Fremden, des Dritten? Die Roma und die Juden sind zur europäischen Verkörperung dieser Figur geworden. Sie sind weder Freunde noch Feinde, sondern eben Fremde. Eine der Fragen, die ich mir immer stelle, betrifft den Grund dieser geradezu zyklisch wiederkehrenden Diskriminierung dieser Gruppen. Warum werden Roma und Juden immer wieder und immer noch wie ein Fremdkörper im europäischen Gewebe behandelt? Auf diese Frage kann ich keine wirklich befriedigende Antwort geben. Ich habe nur eine Hypothese. Diese Hypothese steht im Widerspruch zu unserem Selbstverständnis einer aufgeklärten, zivilisierten Gesellschaft, die wir immer noch sein sollten. Sie besagt, dass die europäische Identität nicht ohne ihr Gegenbild existiert, ohne dass Momente der Entzivilisierung geschaffen und erlebt werden. Das gibt uns Europäern erst die Kraft und die Möglichkeit, unsere Zivilisation zu konstituieren oder auch zu festigen.

Mitarbeit: Barbara Grodecka.

Übersetzung: Lisa Palmes

Special Reports / Wer hat heute Angst vor den Roma?

Eine Fassade der Multikulturalität

Andrzej Szahaj · 24 June 2014
Assimilation verursacht Leid, indem sie den Menschen befiehlt, jemand anderer zu sein, als sie fühlen, als sie sind. Wie sehr eine Person sich auch bemüht – sie wird doch nie als als „vollwertiges Mitglied” der Gruppe anerkannt werden, zu der sie gehören möchte. Währenddessen kann es geschehen, dass sie auch von den Mitgliedern der Gruppe, aus der sie kommt, nicht mehr als „vollwertig“ angesehen wird. Und schlussendlich steht sie allein da.

In voller Gänze wurde uns das Übel der Assimilation erst recht spät bewusst, irgendwann in den 1960er Jahren, und damals keimte auch eine Idee auf, die ihre Entfaltung erst einige Jahrzehnte später fand: Lassen wir die Menschen sie selbst bleiben, befehlen wir ihnen nicht, so zu werden wie die Dominierenden. Die Geschichte von der Multikulturalität war geboren, als Arznei gegen die Leiden von Minderheitengruppen in einer fremden Umgebung.

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Jede Gruppe soll das Recht haben, ihre kulturelle Andersartigkeit auszudrücken und zu pflegen. Ein schöner und edler Gedanke. In vielen Ländern nahm er die Gestalt einer entsprechenden Gesetzgebung an, besonders in denen, die nicht ohne Grund Einwanderungsländer genannt werden (z. B. Kanada, Australien). In anderen entstand eine Praxis nicht nur der breiten Toleranz gegenüber kultureller Verschiedenheit, sondern sogar ihrer aktiven Unterstützung durch entsprechende Bildungsprogramme in Schulen, durch die Finanzierung der Tätigkeit ethnischer Verbände und die Schaffung entsprechender Lehrstühle für Studiengänge zum Thema ethnischer und kultureller Minderheiten.

Doch die Idylle hielt nicht lange an. Schnell zeigte sich, dass die hinter dem Programm der Multikulturalität stehende Überzeugung, dass es gelänge, Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zu einem Leben in Harmonie anzuleiten, sich nur dann bewährt, wenn die Unterschiede nicht über das hinausgehen, was die tolerantesten Vertreter der im gegebenen Territorium dominierenden Gemeinschaft zu ertragen imstande sind. Es stellte sich heraus, dass diese Unterschiede nicht nur die Früchte einer angenehmen Verschiedenheit von Sprachen, Kleidung, kulinarischen Gewohnheiten oder Musiktypen tragen, die reichen Großstädtern auf der Suche nach dem sanften Kick des Andersartigen aus sicherer Ferne gerade recht sein mögen. Und man verstand, dass diese Verschiedenheiten häufig Probleme betreffen, die um einiges stärkere Emotionen wecken, wie z. B. den Platz der Religion im Leben der Gemeinschaft, die sexuelle Ethik, die Geschlechterbeziehungen, den Umgang mit Kindern, die Arbeitsdisziplin, das Hygieneniveau, die bürgerlichen Sitten oder das Verhältnis zum öffentlichen Raum. Da, als die Verschiedenartigkeit ihre wahre Macht erreichte, verlor sie ihren ganzen Reiz für die Konsumenten ihrer oberflächlichen, folkloristischen Erscheinungsbilder. Unter der multikulturellen Fassade kam die alte Wahrheit zum Vorschein, dass der Hausherr entscheidet, welches Verhalten des Gastes angemessen ist und welches nicht. Und es konnte wohl auch nicht anders sein.

Ich träume von einer Situation, in der die Roma in Polen nicht mehr stigmatisiert werden. Aber auch davon, dass bei ihnen keine Gesetze mehr mit Zwang durchgesetzt werden müssen. So, dass der Staat in Anerkennung der Multikulturalität und die Roma im Bewusstsein ihrer Rechte und Pflichten sich auf halbem Wege treffen.

Andrzej Szahaj

Es ist naiv zu glauben, die Mehrheit in einer an bestimmte Regeln, Bräuche und Überzeugungen gewöhnten Gesellschaft könnte sich damit abfinden, dass einige wenige Minderheitengruppen deren radikale Andersartigkeit publik machten. Umso mehr, als diese Regeln, Bräuche und Überzeugungen ihre Spiegelung im Rechtssystem finden mussten. Und hier geraten wir an einen entscheidenden Punkt. Jedes Recht ist ein Konstrukt, das sich auf bestimmte kulturelle Überzeugungen stützt, von denen ein Teil offen in ihm artikuliert wird, während ein anderer Teil selbst für die Gesetzgeber verdeckt bleibt. Es lässt sich nicht künstlich ein Recht herstellen, das in kohärenter Weise radikal voneinander abweichende kulturelle Überzeugungen vereinen würde. Aber deswegen gibt es auch keine Möglichkeit, dass die Vertreter von Minderheitengruppen damit rechnen könnten, alle ihre Verhaltensweisen und Bräuche vom gegebenen Staat toleriert zu sehen. Was bedeutet das für die Roma? Das, was es für alle Minderheitengruppen in einem Land bedeutet, das sich von der fatalen Ideologie des Assimilationismus losgesagt hat und nun offen oder verdeckt irgendeiner Form der Ideologie der Multikulturalität huldigt, wobei es gleichzeitig seine Gesetzgebung im Auge behalten muss.

Im konkreten Fall der Roma in Polen träume ich von einer Situation, in der die Idee der Multikulturalität tatsächlich zu funktionieren beginnt und die Roma nicht mehr stigmatisiert werden. So wie man in den Einwanderungsländern, zu denen Polen ja allmählich aufschließt, anfängt, die kulturelle Andersartigkeit von Minderheiten als Wert zu behandeln, den es zu achten, zu pflegen und zu fördern gilt. Dann werden die Roma bald nicht mehr denjenigen als modellhafter „Anderer“ dienen, welche die Geschlossenheit ihrer Gruppe durch die Kreierung eines imaginären Feindes festigen wollen.

Aber ich träume auch von einem Zustand, in dem die Roma Zwangslagen für den Staat vermeiden, in denen er keinen anderen Ausweg hat, als sie zur Anerkennung seiner Gesetze zu zwingen, selbst dann, wenn diese im Widerspruch zu ihren Bräuchen stehen (z. B. ein Verbot von Kinderehen durchzusetzen, obwohl die Roma-Tradition diese heiligt). Ich hoffe, dass der Staat in Anerkennung der Multikulturalität und die Roma im Bewusstsein ihrer Rechte – aber auch Pflichten – sich auf halbem Wege treffen – um Formen der Koexistenz zu bestimmen, die einerseits den Roma so viel Freiheit wie irgend möglich gewähren und andererseits die Sicherheit garantieren, dass diese Freiheit nicht die für alle geltenden Rechtsvorschriften überschreitet. Nur auf diese Weise kann es gelingen, die erhabenen Ideale der Multikulturalität und der Staatsangehörigkeit zugleich zu bewahren.

Special Reports / Wer hat heute Angst vor den Roma?

Aus der Tiefe unserer Seele

Don Wasyl Schmidt im Gespräch mit Błażej Popławski · 24 June 2014
Über die Wahrnehmung der Roma in Polen, die Entwicklung der gegenwärtigen Roma-Identität und das „Zigeunertum“, das in Mode ist, spricht Błażej Popławski von der „Kultura Liberalna” mit dem Komponisten Don Wasyl Schmidt, einer treibenden Kraft in der Roma-Kulturbewegung.

Błażej Popławski: Sie sind ein sehr beliebter Künstler nicht nur bei den Roma, sondern vor allem bei den Polen. Ihre Musik bringt einerseits den Polen die Romakultur näher und macht sie zu etwas „Vertrautem“, hält aber andererseits auch gewisse Stereotype über die Roma aufrecht – als Menschen ohne festen Wohnort, die durchs Land reisen und außerhalb des Systems leben. Wie wird Ihr Schaffen von der einen und der anderen Gemeinschaft wahrgenommen?

Don Wasyl Schmidt: Seit Beginn meiner künstlerischen Tätigkeit bemühe ich mich, die Mission zu erfüllen, den Zuhörern die Romakultur näherzubringen. Das geht besonders durch Musik, die Freude und Freundschaft verbreitet. Die Teilnehmer an unseren Konzerten – unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit – sagen, wenn sie unsere Lieder hören, werden sie für eine Zeitlang in eine andere, magische Welt versetzt, in der sie etwas Neues, vielleicht auch manchmal Exotisches finden, aber etwas, das mit Sicherheit echte Begeisterung und Neugier bei ihnen weckt. Unser Schaffen verbreitet die Botschaft, Freundschaft, Liebe, Toleranz auf der ganzen Welt zu verstehen. Und genau das ist die Romakultur!

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Diese Kultur wird von den Europäern häufig mit einer Mischung aus Angst und Faszination, Mitgefühl und Bewunderung wahrgenommen. Und wie sieht das von der anderen Seite aus? Wie nehmen die Roma sich selbst wahr?

Die Roma sehen sich selbst als Brüder. Wir wachsen im Gefühl einer starken gemeinschaftlichen Bindung, der Achtung vor der Familie auf. Natürlich kommt es, wie in jeder Gruppe, auch zu Situationen, in denen einzelne Individuen sich von den übrigen absetzen, sicherlich vor allem aus unbegründeter Eifersucht wegen der Erfolge der anderen. Sie handeln entgegen der Bestimmungen des Romakönigs oder des Ältestenrates. Aber schließlich sind Situationen, in denen die traditionellen Autoritäten abgelehnt werden, auch in anderen Gesellschaften nichts Außergewöhnliches.

Wir hören regelmäßig von Konflikten zwischen Roma-Gemeinschaften und den lokalen polnischen Gemeinschaften. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

Solche Konflikte treten nicht in größerem Ausmaß auf. Tatsächlich kommen sie sporadisch auf der Ebene lokaler Gemeinschaften vor. Ich denke, dass der Ursprung dieser Streitigkeiten in der mangelnden Toleranz gegenüber nationalen Minderheiten liegt, in Stereotypen und Vorurteilen, die in der Geschichte der gegenseitigen Beziehungen wurzeln, sowie in der medialen Tendenz zur Verallgemeinerung der Bedeutung von Phänomenen, die trotz allem nur Einzelcharakter haben. Sobald sich etwas Beunruhigendes bei den Roma ereignet, bauschen die Journalisten das Problem gleich auf, bis es das Ausmaß der ganzen Stadt, der Woiwodschaft oder des Landes annimmt. Gegen so einen medialen Diskurs lässt es sich schwer ankämpfen…

Im Westen treten die „Zigeuner“ im Diskurs der extremen Rechten als negative Helden der Finanzkrise auf, und vielleicht sogar als Gruppe, die der europäischen Integration schadet. Warum ist das so? Wie kann man in einer liberalen Demokratie gegen die Diskriminierung der Roma angehen?

Das hängt in großem Ausmaß von der Politik des Staates ab, davon, wie viel Toleranz für die Idee der Multikulturalität und wie viel Xenophobie und nationalistische Tendenzen es in den Regierungen der einzelnen Staaten gibt. Nationale Minderheiten kann man immer leicht zum Sündenbock machen, ihnen unberechtigterweise Schuld aufhalsen. Es ist Unsinn, dass die Roma-Gemeinschaft im Westen für die Finanzkrise oder für das verlangsamte Integrationstempo innerhalb der EU verantwortlich ist. Man muss die Schuldigen bei den verantwortungslosen und korrupten Politikern und Bankern suchen.

Wenn das Zigeunertum in Mode ist, darf das nicht dazu führen, dass eine exotische Subkultur in Mode ist, doch leider geschieht häufig genau das. Dabei gestaltet die Roma-Tradition seit sechs Jahrhunderten die europäische Zivilisation mit. Wir führen einen Dialog mit Europa, wenn wir Werte bewahren, die über die Koexistenz unserer Gemeinschaft entscheiden.

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Welche Rolle könnte es für die Propagierung der Toleranz gegenüber den Roma spielen, dass das „Zigeunertum“ seit Kurzem in Polen wieder in Mode ist, wozu ohne Zweifel der Film und das Buch über die Roma-Dichterin Papusza beigetragen haben?

Wenn das Zigeunertum in Mode ist, darf das nicht dazu führen, dass eine exotische Subkultur in Mode ist, doch leider geschieht häufig genau das. Dabei gestaltet die Roma-Tradition seit sechs Jahrhunderten die europäische Zivilisation mit. Wir führen einen Dialog mit Europa, wenn wir Werte bewahren, die über die Koexistenz unserer Gemeinschaft entscheiden. Einer „Modeerscheinung Zigeunertum“ muss demnach die Achtung vor unserer Tradition folgen. Ihre Akzeptanz ist der erste Schritt in der Propagierung von Toleranz.

Was kann der polnische Staat für eine bessere Wahrnehmung der Roma-Gemeinschaft tun?

Ich bin mir bewusst, dass es nicht nur eine Frage des Vorgehens vonseiten der Regierung ist, auf welche Weise die Roma-Gemeinschaft wahrgenommen wird. Es ist ebenso Sache der Roma, auf das Bild von sich zu achten, und das auf vielen Ebenen. Wir wahren unsere eigene Identität und bemühen uns zugleich, die guten Sitten und Bräuche unserer polnischen Brüder zu achten sowie auch das Recht in dem Staat, in dem wir leben. Aber wenn Sie nach dem Vorgehen der Regierung fragen, so hätte ich gern, dass sie unsere Einheit und die Repräsentanten unserer Gemeinschaft anerkennt, die von uns in demokratischen Wahlen gewählt wurden. Ich betone das, weil zur Zeit beunruhigende Signale über Usurpatoren zu mir vordringen, Personen, die keine Unterstützung vom König und Ältestenrat bekommen, aber dennoch versuchen, ihre eigene Politik zu machen und im Namen der Roma-Gemeinschaft aufzutreten. Solche Vorgehensweisen können nur zur Destabilisierung unserer Gemeinschaft und der seit vielen Jahren vom Ältestenrat errichteten Ordnung führen.

Wie ist Ihr Verhältnis zum Assimilationsprozess der Roma, ihrer Polonisierung und Europäisierung?

Seit 600 Jahren leben wir auf polnischem Boden, sprechen die polnische Sprache, unsere Kinder gehen auf polnische Schulen, wir achten sowohl das polnische als auch das Roma-Recht – das in keinstem Maße mit dem polnischen Recht kollidiert. Wir respektieren das polnische Recht und wollen zugleich unsere Identität bewahren, die auf Werten fußt, welche unsere Völker einander näherbringen sollten. Wir möchten unsere Kinder gut ausbilden, sie nicht nur die Roma-Geschichte lehren, sondern auch die polnische und die europäische.

Was bestimmt somit im größten Maße die gegenwärtige Identität der Roma? Was ist in ihr am lebendigsten – besonders für die jüngere Roma-Generation?

Ohne Zweifel sehr lebendig sind unsere Kultur, Musik, aber auch Kleidung, Schmuck oder sogar Küche – das spüre ich deutlich auf den Konzerten und Festivals. Das ist eine tiefe künstlerische Ausdruckskraft, die der Tiefe unserer Seele entströmt – das Alter spielt dabei keine große Rolle. Die junge Roma-Generation strebt nach Stabilisierung; sie sieht ein Bedürfnis, sich selbst neu zu entdecken, weiterzubilden und gemeinsam mit anderen in der polnischen und europäischen Gesellschaft zu existieren – natürlich unter Bewahrung ihrer Roma-Identität.

Wir respektieren das polnische Recht und wollen zugleich unsere Identität bewahren, die auf Werten fußt, welche unsere Völker einander näherbringen sollten. Wir möchten unsere Kinder gut ausbilden, sie nicht nur die Roma-Geschichte lehren, sondern auch die polnische und die europäische.

Don Wasyl

Ist es leicht, die beispielsweise in Musik und Lyrik enthaltenen Modelle der Romakultur zu fördern, ohne die Gefahr, sie zu Folklore zu machen? Dieses Problem betrifft alle nationalen Minderheiten. Häufig verwandelt die Popularisierung von Traditionen diese in ein Freilichtmuseum, dessen Betrachter nicht zu verstehen versucht, sondern lediglich die Fremdheit und Exotik bewundert.

Die Romakultur wird sich wegen ihres Reichtums und ihrer Vielfältigkeit nie in ein Freilichtmuseum verwandeln. Diese Kultur, die in Europa und vielen anderen Winkeln der Welt verbreitet ist, hat im Laufe der Jahrhunderte ihren Charakter herausgebildet. Dieser Charakter ist nicht nur mit Ländern, sondern auch mit Regionen verbunden. Die Roma in verschiedenen Teilen Europas oder der Welt zeichnen deutliche kulturelle Unterschiede aus, die sich zum Beispiel in der Musik oder der Art der Kleidung bemerkbar machen.

Eine sehr große Bedeutung bei der Popularisierung der Romakultur haben Massenveranstaltungen, die von den Roma selbst für ein Publikum organisiert werden, das nicht nur aus Roma besteht. Diese Festivals sind ein wirksames Mittel sowohl gegen Folklorisierung als auch gegen Anti-Roma-Stereotype. Vor 18 Jahren habe ich das Internationale Festival des Romaliedes und der Romakultur in Ciechocinek ins Leben gerufen. Dieses Festival bringt die Kulturen einander näher, indem es das wahre Gesicht und die wahre Seele der Roma zeigt. Ich habe es aus der Mission heraus initiiert, eine gegenseitige Toleranz aufzubauen – heute kann ich feststellen, dass wir auf dieser Ebene einen sehr großen Erfolg nicht nur in Polen, sondern auch außerhalb seiner Grenzen erzielt haben. Ich lade Sie somit herzlich zum 18. Internationalen Festival des Romaliedes und der Romakultur nach Ciechocinek ein, das am 1. und 2. August stattfinden wird. In Anbetracht des 70. Jahrestages der Roma-Vernichtung beginnen wir das Festival mit dem Gedenken an diese für uns schmerzhaften Ereignisse. Im geplanten Unterhaltungsprogramm treten sowohl polnische Gruppen als auch Gäste aus ganz Europa und der Welt auf. Ich bin überzeugt, dass das Festival den Zuschauern wie stets viele einzigartige Eindrücke bieten wird.

(Übersetzung von Lisa Palmes)

Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union.

Kultura Liberalna · 27 May 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Präsidentschaftswahl hat eine neue Etappe in der jüngsten Geschichte der Ukraine eröffnet. Innerhalb von 23 Jahren ist das bereits die „dritte Neueröffnung“ – nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 und der Orangenen Revolution vor einem Jahrzehnt. Werden dieses Mal die Hoffnungen der Bürger endlich erfüllt?

Die Analytiker des postsowjetischen Gebietes sind sich ungewöhnlich einig: Die Ukraine war noch nie in einer so schwierigen Situation wie heute. Die Wirtschaft steht auf der Kippe zum völligen Zusammenbruch, und im Ostteil des Landes halten die Kämpfe mit den Separatisten noch immer an. Auch die geopolitische Lage des Landes verkompliziert sich. Selbst wenn wir uns darauf einigen, dass die EU sich langsam aus der Wirtschaftskrise befreit, setzt der Erfolg der euroskeptischen Parteien ein deutliches Zeichen, dass das politische Klima in Europa in nächster Zukunft nicht gerade günstig für EU-Erweiterungsgespräche sein wird. Indessen verspricht der ukrainische Wahlsieger Petro Poroschenko, das Land schon in zehn Jahren in die EU zu bringen. Ein reales Szenario oder Wahldemagogie?

Die Chancen für einen vollen Erfolg der Demokratie in der Ukraine sind nicht besonders groß – dennoch gibt es auch Gründe für einen vorsichtigen Optimismus. Wladimir Putin hat angekündigt, Moskau werde die Wahl in der Ukraine unabhängig vom Wahlergebnis anerkennen. Die hohe Wahlbeteiligung und Poroschenkos eindeutiger Sieg geben dem neugewählten Präsidenten eine starke Legitimation für die Durchführung der notwendigen Reformen. Wenn die westlichen Staaten die geleisteten Versprechen nicht vergessen und der Ukraine reale finanzielle, politische und beratende Unterstützung anbieten, kann Kiew vielleicht endlich den Erfolgskurs einschlagen. Heute hat wohl niemand mehr die Illusion, die Ukraine könne weiterhin so regiert werden wie bisher. Frei nach einer alten politischen Devise kann man sagen, die Ukraine steht heute vor einer einfachen Entscheidung: Reformen oder Tod!

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Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Schwierige Fragen, zu spät gestellt

Iwan Krastew im Gespräch mit Łukasz Pawłowski · 27 May 2014
Der neue Präsident der Ukraine wird vor der ungeheuren Herausforderung stehen, das Land zu stabilisieren und weiteren Teilungen vorzubeugen. Welcher der Kandidaten eignet sich am besten für diese Aufgabe? Das sei nicht so entscheidend, meint der bulgarische Politologe – wichtiger sei, dass die Regierung in der Ukraine ihre demokratische Legitimation erneuere.

Łukasz Pawłowski: Welche Zukunft erwartet die Ukraine nach der bevorstehenden Präsidentschaftswahl?
Iwan Krastew: Das Wichtigste bei dieser Wahl wird nicht der Name des Wahlsiegers sein, sondern die Tatsache, dass sie überhaupt anberaumt wurde, und ein verhältnismäßig ruhiger Ablauf. Und selbst wenn sich in einigen Regionen der Ukraine Störungen nicht vermeiden lassen sollten – dass das wahrscheinlich so sein wird, daran hegt wohl niemand Zweifel – so hoffe ich doch, dass ihr Ausmaß geringer sein wird als angenommen. Bitte bedenken Sie, dass die Regionen Charkiw oder Dnipopetrowsk sich nicht Donezk und Luhansk angeschlossen und separatistische Referenda organisiert haben. Daran sieht man, dass ein Teil des Donbas lieber seine Beziehungen zu Kiew ordnet.

Die Referenda in Donezk und Luhansk wurden durchgeführt, obwohl Wladimir Putin selbst sich für ihre Vertagung ausgesprochen hatte. Bedeutet das, dass der russische Präsident die Kontrolle über das Geschehen in der Ostukraine verliert?

Nicht unbedingt. Wir können nicht ausschließen, dass der Appell zur Vertagung der Referenda Teil eines besonders raffinierten diplomatischen Spiels war, und zwar aus mindestens drei Gründen. Erstens wissen wir nicht, ob diese Worte nicht möglicherweise nur für die westlichen Länder bestimmt waren und ob Putin nicht gleichzeitig den örtlichen Separatisten auf weniger formalen Kanälen ein anderes Signal gegeben hat. Zweitens erleichtert die Vertagung der Referenda Putins Bündnispartnern – vor allem in Westeuropa – die Argumentation gegen eine Verhängung weiterer Sanktionen gegen Russland. Und drittens wusste Putin, als er um die Verschiebung der Volksabstimmungen bat, sehr genau, dass diese nur in zwei Regionen durchgeführt werden könnten – und das ist etwas zu wenig, als dass er seine geopolitischen Ziele hätte erreichen können.

Welche Ziele sind das? Will der Kreml in der Ostukraine die Strategie wiederholen, die er auf der Krim verfolgt hat, und auch diese Gebiete annektieren?

Russland will die Ukraine nicht besetzen. Putin will eine Situation erreichen, in der das Land nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu steuern. Die Rolle des Garanten für die Wiederherstellung der Steuerbarkeit könnte dann allein Moskau verkörpern.

Wie wird die Regierung in Kiew sich nach der Präsidentschaftswahl diesen Plänen widersetzen können?

Man darf vor allem nicht vergessen, dass die Ukraine nicht nur aus zwei Teilen besteht: dem proeuropäischen Westteil und dem prorussischen Ostteil. Die Differenzierung ist um Vieles komplizierter. Auch im Osten finden sich Interessensgruppen, die ihre Position lieber mit Kiew aushandeln würden als mit Moskau.
Lohnt es sich, mit diesen zu sprechen?

Ja, das lohnt sich, sogar mit den Radikalen. Die schlechteste Lösung wäre die, bei der Moskau als Verhandlungspartner Gespräche im Namen eines Teils der Ukrainer führen würde.
Bis jetzt ist es der Regierung mit unterschiedlichem Ergebnis gelungen, die Situation im Land zu beherrschen…  

Um die Situation zu beherrschen, hat die Regierung in Kiew einen Teil ihrer Macht an lokale Strukturen und Oligarchen abgegeben, damit diese in den instabilen Regionen „die Brände löschten“. Auf kurze Sicht scheint diese Strategie recht effektiv zu sein. Aber auf längere Sicht kann sie zu einer weiteren Schwächung der Zentralgewalt und weiteren – nicht mehr ethnisch-nationalen, sondern stricte politischen – Teilungen des Landes führen. Eine so verstandene, auf die Politisierung der lokalen Identitäten gestützte Föderalisierung des Landes stellt die größte Bedrohung für die entstehende Bürgergesellschaft in der Ukraine dar.

 

Eine stabile liberale Demokratie ist kein politisches System, das richtige Entscheidungen garantiert. Es ist ein System, das es gestattet, falsche Entscheidungen richtigzustellen.

Iwan Krastew

Warum fällt es den Ukrainern so schwer, miteinander zu reden?

Das bisherige System verlangte von der Mehrheit der ukrainischen Bürger nicht, dass diese sich schwierige und lästige Fragen nach der eigenen Identität, der Geschichte, der Beziehung zu Russland oder dem Verhältnis zwischen ukrainischer und russischer Sprache stellten. Heute müssen sich die Ukrainer die Antworten auf solche Fragen mühsam erarbeiten.

Gelingt das ohne die Hilfe des Westens?

Die Hilfe des Westens ist unzweifelhaft notwendig, aber machen wir uns nichts vor – auch Russland wird in diesem Prozess eine wichtige Rolle spielen. Das Wichtigste ist aber, dass die Ukrainer sich aneinander gewöhnen und lernen, miteinander zu reden.

Warum haben Sie dann zu Anfang des Gesprächs gesagt, es sei nicht so entscheidend, welcher Kandidat genau bei der Präsidentschaftswahl siege? Sind die Programme der Kandidaten alle gleich gut für die Ukraine?

Heute ist die Erneuerung der demokratischen Legitimation der Regierung wichtiger. Und was die Qualität der einzelnen Kandidaten betrifft – ich will nicht ausschließen, dass die Ukrainer möglicherweise nicht den besten von ihnen wählen. Aber eine stabile liberale Demokratie ist kein politisches System, das immer richtige Entscheidungen garantiert. Es ist ein System, das es gestattet, falsche Entscheidungen richtigzustellen.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes.

Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Die Russen sollte man nicht demütigen

Bernard Kouchner im Gespräch mit Łukasz Pawłowski · 27 May 2014
Der ehemalige französische Diplomatiechef sagt der „Kultura Liberalna”, warum er kein bedingungsloser Befürworter wirtschaftlicher Sanktionen ist, verteidigt die Entscheidung, Wladimir Putin zum Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie einzuladen, und erklärt die Regeln der russischen Außenpolitik.

Łukasz Pawłowski: Was wird in der Ukraine nach der Präsidentschaftswahl am 25. Mai geschehen?

Bernard Kouchner: Wenn ich das nur wüsste! Ich hoffe, dass die Wahl als transparent und ehrlich anerkannt wird. Dafür besteht die Chance: Es sind ungeheuer viele – fast 2500 – Wahlbeobachter in die Ukraine entsandt worden. Die am wenigsten stabilen Regionen, besonders der Donbas, sollten so weit abgesichert werden, dass die Bürger, die ihre Stimme abgeben wollen, auch die Möglichkeit dazu haben.

Glauben Sie, dass die Separatisten aus diesen Regionen und Russland die Wahlergebnisse akzeptieren werden?

Sie werden sie nicht akzeptieren und versuchen, sie zu untergraben. Ich mache mir nicht die Illusion, dass die Stimmabgabe in der ganzen Ukraine sicher ablaufen wird. An einigen Orten wird sie sicher gar nicht möglich sein, aber selbst dort wird man mindestens ein paar Wahllokale betreiben müssen, sodass wenigstens ein Teil der Wähler seine Stimme abgeben kann.

Wie sehen das beste und das schlechteste Szenario für die Ukraine aus?

Das beste Szenario ist zuallererst eine demokratische Wahl des Präsidenten und dessen Erlangung der allgemeinen Legitimation. Der neue Präsident muss die Ukraine auf angemessene, legale Weise repräsentieren.

Wollen Sie damit andeuten, dass der derzeitig amtierende Präsident Oleksandr Turtschynow seine Funktion nicht legal ausübt?

Das habe ich nicht gesagt, aber denken Sie daran, dass er von dem Parlament gewählt wurde, das vor dem Ausbruch der Proteste auf dem Maidan aktuell war.
Und wie sieht das schlechtestmögliche Szenario aus?

Krieg – wenn auch natürlich kein Weltkrieg. Zu verschiedenen Vorfällen mit Todesopfern wird es sicherlich kommen, daran habe ich keine Zweifel. Wir müssen uns aber bemühen, ihre Ausdehnung klein zu halten. Deshalb muss der demokratisch gewählte Präsident sofort in Dialog mit dem Volk treten. Was er genau anbieten wird, weiß ich nicht. Das Wichtigste wäre, dass er die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft wiederaufzubauen versucht.

Persönliche Sanktionen gegen enge Mitarbeiter des russischen Präsidenten machen auf ihn nicht den geringsten Eindruck.

Bernard Kouchner

Auf welche Weise kann Europa bei diesem Prozess behilflich sein? Bei Ihrem Vortrag auf der Konferenz „Ukraine: Thinking Together” haben Sie den Besuch der Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands in Kiew im Februar sehr gelobt, da es mit ihrer Beteiligung zur Unterzeichnung einer Vereinbarung zwischen Wiktor Janukowytsch und der Opposition kam.

Ja, das ist eine effektive Methode, politischen Druck auszuüben, und eines der diplomatischen Instrumente zur Krisenbewältigung. Schade, dass die europäischen Staatsoberhäupter nicht mutig genug sind, Moskau eine Visite abzustatten und mit Putin unter vier Augen über die Bedingungen zur Beruhigung der Situation zu reden.
Aber eine solche Visite wäre doch auch eine Art Eingeständnis, dass der russische Präsident das Mandat besitzt, eine Entscheidung in dieser Sache zu fällen.

Das denke ich nicht. Alles hängt davon ab, mit welcher Botschaft wir dort hinfahren würden. Ich glaube an die Wirksamkeit solcher Initiativen.

Also ein „Runder Tisch” mit Putin und keine weiteren wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland? Sie sind kein Befürworter ihrer Verhängung.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass Sanktionen manchmal wirken – so war es zum Beispiel bei ihrer Verhängung gegen die Republik Südafrika, wo sie zum Fall der Apartheid beitrugen. Aber am aktuellen Fall machen die persönlichen Sanktionen, die gegen enge Mitarbeiter des russischen Präsidenten verhängt werden,  nicht den geringsten Eindruck auf ihn.  Sicherlich, sie können für die betreffenden Personen mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sein, weil sie kein Visum für Europa bekommen. Sie werden jedoch Putin nicht aufhalten und keine Veränderung des Staatssystems bewirken.
Manche Analytiker sind jedoch der Ansicht, Putin verliere die Kontrolle über die Situation in der Ostukraine. Die Separatisten haben nicht auf seine Aufforderung gehört, die Referenda zu vertagen…

Aber das ist doch Teil seines Spiels!

Wie sind die Regeln in diesem Spiel?

Das ist einfach – die Strategie besteht darin, in einem bestimmten Moment starke, entschlossene Bewegungen zu machen, und im nächsten dann versöhnliche Gesten. Übrigens hatte Putin in diesem Fall nicht versprochen,  die Separatisten zurückzuhalten, sondern  lediglich, sich mit einer Bitte an sie zu wenden, wobei er genau wusste, dass diese nie erfüllt werden würde. Er tat das einzig und allein dafür, um den OECD-Chef  zufriedenzustellen, der damals gerade in Moskau bei ihm zu Besuch war. Putin ist ein Lügner, aber einer, der immer nach demselben Schema vorgeht.
Wenn das so einfach ist, warum fallen wir dann immer wieder auf ihn herein? Liegt das daran, dass Putin sich nicht an die Regeln hält, nach denen im Westen Politik betrieben wird?

Putin schreckt nicht davor zurück, Truppen zu entsenden – ob das die regulären russischen Truppen sind, wie beim Georgien-Konflikt, oder Einheiten ohne nationale Kennzeichnung, wie beim Krim-Konflikt. Und das macht er immer dann, wenn sich die Notwendigkeit zeigt. Wir hier setzen weniger gern das Militär ein, Europa hat vergessen, was eine Manifestation militärischer Stärke bewirken kann. Ich glaube, Brüssels großer Fehler ist, bis heute keine europäischen Streitkräfte organisiert zu haben. Ich weiß, dass die Polen diesen Gedanken unterstützen, ich bin auch ein Befürworter davon, aber im Moment gibt es keine Chance für eine Umsetzung. Vielleicht in zehn Jahren…
Denken Sie dabei an eine andere Struktur als die NATO?

Nicht notwendigerweise. Aber schließlich brauchen wir auch dann Soldaten und Ausrüstung, wenn wir die NATO-Kräfte einsetzen – indessen geben außer Frankreich und Großbritannien nur wenige Mitgliedsstaaten die vorgeschriebenen 2 Prozent des Budgets für Rüstung aus.

Wladimir Putins Popularität basiert in hohem Maße auf dem Gefühl der Erniedrigung ihres Landes, das viele Russen seit dem Zerfall der Sowjetunion verspüren, und dem ihnen gegebenen Versprechen, durch den Wiederaufbau der russischen Macht neue Achtung zu erlangen. 

Bernard Kouchner

Sie sprechen von der Notwendigkeit einer Verbesserung der europäischen Streitkräfte, und währenddessen rüstet Russland auf, und das u.a. gerade dank Frankreich. Die Regierung in Paris hat bis jetzt den Vertrag zum Bau von Kriegsschiffen für die russische Marine noch nicht aufgelöst. Was denken Sie über diese Entscheidung?

Die französische Regierung hat informiert, im Oktober eine Entscheidung bekanntgeben zu wollen. Ich hoffe, dass die Erfüllung dieses Vertrags wenigstens vertagt wird.
Darüber wird sie schon bald mit Putin sprechen können – bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an die Landung der Alliierten in der Normandie, zu denen auch Putin eingeladen ist. Haben Sie nichts gegen diese Entscheidung einzuwenden?

 

Das ist doch nur normal – Putin ist Russlands Präsident! Sollen wir wegen seiner Politik das Opfer der Millionen Russen vergessen, die im 2. Weltkrieg gefallen sind?!

Ihn nicht einzuladen wäre ein deutliches Signal gewesen, dass der Westen Russlands heutiges Handeln nicht akzeptiert.

Das ist aber nicht möglich. François Hollande – der zur Zeit des Krieges noch nicht einmal auf der Welt war – nimmt heute als Frankreichs Präsident an diesen Feierlichkeiten teil. Ähnlich ist es mit Putin. Auch wenn er sich gegenüber der Ukraine niederträchtig verhält, repräsentiert er doch immer noch Russland, und Russland war Teil der Anti-Hitler-Koalition, dank der Hitler besiegt wurde. Das heißt nicht, das Präsident Obama auf der Feier gleich eine Umarmung mit Putin austauschen oder ein „Selfie“ von ihnen beiden knipsen muss, aber wir müssen uns anständig verhalten.

Russlands politische Elite ist nicht besonders anständig… Wie sollen wir dann also zu erkennen geben, dass wir nicht einverstanden sind?

Wenn Sie Russland demütigen möchten, dann bitte sehr – wir hätten Putin auch nicht einzuladen können. Aber das hätte das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung zur Folge gehabt. Die Popularität des russischen Präsidenten basiert in hohem Maße auf dem Gefühl der Erniedrigung ihres Landes, das viele Russen seit dem Zerfall der Sowjetunion verspüren, und dem ihnen gegebenen Versprechen, durch den Wiederaufbau der russischen Macht neue Achtung zu erlangen.

Ist dieses Gefühl der Erniedrigung denn berechtigt?

Meiner Ansicht nach nicht, aber so sieht die Sachlage nun einmal aus.

Wie kann man sie verändern?

Wir könnten den Russen eine kollektive Psychotherapie spendieren, aber so eine Maßnahme für 140 Millionen Leute wäre doch etwas teuer und würde sich für niemanden auszahlen.

 

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes

Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Putin braucht uns, nicht wir ihn

Bernard-Henri Lévy im Gespräch mit Łukasz Pawłowski · 27 May 2014
Nur Europas entschlossenes Vorgehen gegen Wladimir Putins Politik kann der russischen Aggression ein Ende setzen. Putin braucht unser Geld und unsere Technologien viel mehr als wir sein Erdgas und Erdöl, argumentiert der französische Philosoph.

Łukasz Pawłowski: Glauben Sie an eine rasche Demokratisierung der Ukraine? Wie sieht das beste und wie das schlechteste Szenario für das Land nach der Präsidentschaftswahl aus?
Bernard-Henri Lévy: Im schlechtesten Fall wird der Ablauf der Wahlen gestört oder in bestimmten Regionen die Möglichkeit zur Stimmabgabe ernsthaft erschwert. Ich fürchte eher die Folgen einer negativen Wahlbeteiligung. Wenn nur wenige Ukrainer zu den Urnen gehen, werden Wladimir Putin und die Separatisten im Osten der Ukraine zweifellos die Wahl nicht anerkennen, was die Legitimation des neu gewählten Präsidenten schwächen würde.
Im besten Fall verläuft die Wahl verhältnismäßig ruhig und einer der Kandidaten siegt im ersten Wahlgang, womit er das starke gesellschaftliche Mandat für seine Regierung bekräftigt.

Sie sind der Berater Petro Poroschenkos, der wahrscheinlich die Wahl gewinnen wird. Was sollten die ersten Schritte des neuen Präsidenten sein?

Er sollte sich an das ukrainische Volk als Ganzes wenden, an die Ukrainer in allen Landesteilen, die Angehörigen aller verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und die Sprecher aller unterschiedlichen Sprachen. Das sollte die erste Geste sein – eine symbolisch äußerst wichtige Geste.
Dann muss der Präsident alle, die das Vertrauen in die Kiewer Regierung verloren haben, davon überzeugen, dass ein Verbleib innerhalb der Staatsgrenzen in ihrem eigenen Interesse ist. Sie sollten verstehen, dass momentan die einzige Alternative zur Ukraine die Diktatur Putins ist – eines Menschen, der in seinem Amtszimmer über dem Schreibtisch ein Portrait des schlimmsten Zaren der Geschichte Russlands hängen hat, Nikolaus I. Dieser Herrscher fing im 19. Jh. den ersten Krimkrieg an, einen Kreuzzug zur Verteidigung der Interessen Russlands und seiner Bewohner – es sieht ganz danach aus, als wollte Putin heute das Testament Nikolaus’ I. erfüllen und den Krimkonflikt auf seine eigene Weise austragen…

Ich sehe, Sie mögen historische Analogien. In Ihren Aussagen vergleichen Sie das Handeln des russischen Präsidenten häufig mit der Politik Adolf Hitlers. Ist das nicht aber ein Missbrauch und eine Vereinfachung?

Putin verhält sich nicht wie ein zivilisierter Mensch, sondern wie ein Bandit, der nicht nur lügt, sondern noch dazu Gangstermethoden anwendet. Ich bin mir bewusst, dass man das Handeln Putins und Hitlers nicht so einfach vergleichen kann, denn nichts lässt sich mit dem Verbrechen des Holocaust vergleichen. Dennoch lassen sich in Putins Vorgehen bestimmte Muster erkennen, die es auch in der Vergangenheit gab.

Das, was Putin zuerst in Abchasien und Ossetien und später auf der Krim getan hat und was er jetzt im Ostteil der Ukraine versucht, ist eine Abfolge von Ereignissen, die Hitlers Vorgangsweise in den 1930er Jahren erstaunlich ähnelt – erst die Remilitarisierung des Rheinlands, dann der Anschluss Österreichs, dann die Äußerung von Gebietsansprüchen in einem Teil der Tschechoslowakei, begründet mit einer angeblichen Verletzung von Rechten der lokalen deutschen Minderheit. Das ist ein ähnlicher Prozess, das sind ähnliche Argumente und Methoden.

Putin wird von einem bedeutenden Teil der extremen Rechten in vielen europäischen Ländern unterstützt. Aber z.B. in Deutschland billigt auch die linksextreme Partei Die Linke Russlands Vorgehen. Wie lässt sich das erklären?

Die Quelle für Putins Unterstützung durch die deutsche Linke ist deren unreflektierter Antiamerikanismus, automatisch wie ein Pawlowscher Reflex. Als Verbündeter erscheint ihnen jeder, der gegen die USA ist. Die Unterstützung durch die extreme Linke ist jedoch nicht so wesentlich. Eine viel größere Bedeutung hat die Unterstützung, die Putin vonseiten der rechten Gruppierungen bekommt.

Diese Parteien sind nicht nur ein Problem Westeuropas. In der Ukraine gibt es auch eine radikale Rechte, vor der die russischen Medien seit Langem warnen. Wenn wir den bevorstehenden Erfolg der Demokratie in der Ukraine prophezeien, vergessen wir dann nicht, dass Mitte-Rechts mehr auf dem Euromaidan erreicht hat?

Ich bin mir bewusst, dass Vorurteile und auch Antisemitismus in der Ukraine existieren, und ich bin ein entschiedener Gegner extremer Gruppierungen wie Prawyj Sektor. Aber zugleich glaube ich, dass die beste Methode, diese zu schwächen, eine demokratische und liberale, dem Westen zugewandte Ukraine ist, und nicht der Putinismus – der schließlich dieselben Werte repräsentiert wie der Prawyj Sektor. Parteien ähnlich der ukrainischen extremen Rechten sind in Russland viel stärker. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Prawyj Sektor sich in der Ukraine einer sehr geringen Unterstützung von wenigen Prozent erfreut. Die Mitte-Rechts-Parteien Swoboda und Batkiwschtschyna sind da schon viel eher zur überparteilichen Zusammenarbeit bereit. Wenn die Front National in Frankreich sich derselben Unterstützung erfreuen würde wie der Prawyj Sektor in der Ukraine, wäre ich froh.

Vor drei Jahren haben Sie die westlichen Länder zur bewaffneten Intervention in Libyen aufgerufen. Heute sieht man jedoch, dass wir uns bei unserer Entscheidung für die Unterstützung der Gegner Muammar Gaddafis nicht dafür interessiert haben, wer die politische Lücke nach ihm füllen würde. Heute ist Libyen noch immer im Chaos versunken. Wiederholt die Ukraine nicht diesen Weg des Niedergangs?

Die Ukraine und Libyen lassen sich nicht vergleichen, und sei es nur, weil im Fall Ukraine keine Rede von einer militärischen Intervention sein kann. Es gibt zahlreiche effektivere Arten, Putin zu besiegen, als mit Hilfe militärischer Truppen.
Wirtschaftliche Sanktionen?

Ja. Anders als Bernard Kouchner bin ich der Meinung, dass richtig bemessene Sanktionen wirken, was beispielsweise die Gespräche mit Iran über dessen Rückzug aus dem Atomprogramm beweisen. Das iranische Regime wurde infolge der Sanktionen in die Knie gezwungen und fleht im Grunde um Verhandlungen in dieser Sache. Ähnliche Mittel würden auch bei Russland Wirkung zeigen. Stellen wir uns einmal vor, morgen träfen sich die obersten Stellvertreter der europäischen Länder und begännen eine Diskussion über neue Pläne der europäischen Energiepolitik für die nächsten 5-10 Jahre, die den gemeinsamen Ankauf und eine Diversifizierung der Lieferungen voraussetzen würden. Das allein würde reichen, um den Kreml die Botschaft verstehen zu lassen. Putin braucht unser Geld und unsere Technologien viel mehr als wir sein Erdgas und Erdöl.
Die Gegner von Sanktionen meinen, diese träfen vor allem die gewöhnlichen Russen, würden die russische Gesellschaft noch zusätzlich spalten und Putins Popularität ansteigen lassen.

Wir müssen den Russen begreiflich machen, dass wir mit einer Sperrung der Konten von Oligarchen nicht Russland und die russische Gesellschaft treffen, sondern Menschen, die ihre Mitbürger bestehlen. Was aber Putins Popularität betrifft, so sollte man bedenken, dass Politiker in der heutigen Welt leicht zu Ruhm kommen, diesen aber ebenso leicht wieder verlieren können. Der russische Präsident ist da keine Ausnahme.
Ganz sicher aber schadet es seiner Popularität nicht, dass er von der französischen Regierung zum Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie eingeladen wurde. War es richtig, Putin einzuladen?

Ich denke, dass diese Einladung ein politischer und moralischer Fehler war. Putin ist nicht der rechtskräftige Vertreter derjenigen, die gegen Hitler gekämpft haben. Er eignet sich das gesellschaftliche Gedenken an und nutzt es für seine Ziele.
Wie lässt sich dieser Fehler beheben?

Die einzige Methode bestünde darin, auch den neuen ukrainischen Präsidenten zu den Feierlichkeiten einzuladen. Erstens wäre das ein Signal für die Anerkennung der Legalität der Wahlen in der Ukraine. Zweitens wäre es eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern, dass in der Roten Armee nicht nur Russen, sondern auch u.a. Ukrainer gedient haben. Die Opfer unter den sog. sowjetischen Völkern betrafen nicht allein die Russen. Die Einladung des ukrainischen Präsidenten wäre eine Anerkennung der historischen Wahrheit und eine dem Gedenken der Ukrainer zustehende Ehrerbietung.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes

Special Reports / Proeuropäische Ukraine, Euroskeptische Union

Vertrauenskapital lässt sich leicht verprassen

Die „Kultura Liberalna” im Gespräch mit Ola Hnatiuk · 27 May 2014
Auf den neuen Präsidenten der Ukraine wartet eine ganze Reihe Herausforderungen, bei denen Polen nicht nur passiver Zuschauer sein kann. Wir können den Ukrainern zwar nichts abnehmen, aber wir müssen reale Hilfe anbieten und nicht nur eine Palliativbehandlung.

„Kultura Liberalna”:  Wie sieht das beste und wie das schlechteste Szenario für die Ukraine für die kommenden Wochen aus?

Das bestmögliche Szenario ist eine Wahlbeteiligung von über 70 Prozent bei der Präsidentschaftswahl und der Sieg eines der Kandidaten im ersten Wahlgang. Wenn die Wahlen in wenigstens 25 Prozent der Wahlkreise in den Oblasten Luhansk und Donezk durchgeführt werden, gibt es keine Grundlage für die Behauptung, diese Oblaste hätten nicht gewählt, und damit auch keinen Grund, die Wahlergebnisse in Frage zu stellen. Das Interessante an diese Wahlen ist, dass ihr Ausgang zum ersten Mal in nur verschwindend geringem Maße von UdSSR-Nostalgie bestimmt sein wird, die auf der Krim und in den Oblasten Luhansk und Donezk am lebendigsten ist.

Und das schlechteste Szenario?

Eine Serie von Anschlägen. Die Wahlergebnisse würde das nicht ändern, aber ein Klima der Angst herstellen.

Welche Schritte kann Russland unternehmen?

Die russischen Handlungsszenarien sind einfach und basieren immer auf Gewaltlösungen. Nur die Taktik ändert sich. Und selbst wenn Putin diese Art des Handelns aufgeben würde, kann dadurch der in den vergangenen 10 Jahren sorgfältig geschürte Hass doch nicht urplötzlich zum Erkalten gebracht werden. Die Ukrainer befinden sich zu ihrem eigenen unermesslichen Erstaunen unter den bei den Russen verhassten Nationen. Die ganzen letzten Monate servieren die russischen Medien nun schon ein Programm der Feindseligkeit, dessen Ergebnis eine zuvor nie dagewesene – allerdings auch so außergewöhnlich hohe – Unterstützung für Putin und Aggressionsbereitschaft ist.

Was ist das Ziel dieser aggressiven Politik?

Das Ziel des russischen Präsidenten ist nicht nur der Wiederaufbau der UdSSR. Das verkündete er sofort nach seinem Machtantritt. Er will eine zivilisatorische Alternative schaffen. Dieses Projekt gewinnt vor unseren Augen an Unterstützung, besonders bei der extremen Rechten in der EU, ganz zu schweigen von den traditionellen russischen Bündnispartnern. Diese Unterstützung wird wachsen, wenn sie auf keinen entschiedenen Widerstand trifft. Das ist die Logik des Gewaltanwenders: es so weit zu treiben, wie es der Gegner gestattet. Beginnt der Gegner sich zu fragen, ob er dem Aggressor nicht zu nahe tritt, wird er ganz einfach vernichtet. So eine Szene gibt es in Oleksandr Dowschenkos Film „Arsenal“ über den bolschewistischen Aufstand gegen die Ukrainische Volksrepublik im Januar 1918: Ein ukrainischer Soldat warnt einen Bolschewisten, dass er schießen werde, doch der Bolschewist entreißt ihm ohne zu zögern die Waffe und schießt als Erster. Eine Metapher des ukrainischen Unabhängigkeitskampfes von 1918.

 

Die russischen Handlungsszenarien sind einfach und basieren immer auf Gewaltlösungen. Nur die Taktik ändert sich.

Ola Hnatiuk

 

Was kann die Europäische Union in dieser Situation tun?

Erstens sollte sie ihre eigenen politischen Prioritäten und Bedrohungen neu definieren. Zweitens sollte sie, falls sich im Ergebnis dieser Analyse zeigt, dass die EU doch immer noch eine Wertegemeinschaft und keine von Erdöl und Erdgas und Russlands schmutzigem Geld abhängige Zufallsgemeinschaft ist, noch einmal über eine Öffnung für die Ukraine nachdenken – eine Öffnung, die die völlige Aufhebung der Visapflicht zulässt. Zu diesem Zweck sollte jedoch dabei geholfen werden, die ukrainischen Grenzen zu schließen. Das ist nicht leicht und nicht populär, weil schon Millioneninvestitionen an der Grenze EU-Ukraine getätigt wurden. Da fällt es schwer, jetzt zuzugeben, dass dieses Geld unbedacht ausgegeben wurde, ähnlich unbedacht wie die Ukraine-Politik war – von der Ablehnung der NATO-Mitgliedschaft bis hin zu den mindestens unzutreffenden Vorschlägen einer Östlichen Partnerschaft.

Welche Entscheidungen sollte der neue ukrainische Präsident nach der Vereidigung treffen?

Da gibt es viele, aber ich will versuchen, einige der wichtigsten aufzuzählen. Erstens sollte er Gesetze zur Einschränkung der weit verbreiteten Korruption in die Wege leiten, wozu auch gehört, dass diese Gesetze die Bekleidung eines staatlichen Amtes – als Abgeordneter, Richter, Staatsanwalt und Beamter der Strafverfolgungsorgane – bei gleichzeitiger Unternehmertätigkeit untersagen. Sinnvoll wäre auch die Einführung einer Pflicht zur Vermögensoffenlegung, auch der engsten Familie des Beamten.

Zweitens sollte der neue Präsident der Ukraine persönlich die Schirmherrschaft über Ermittlungen zu den Verbrechen übernehmen, die während der Maidan-Proteste von Funktionären begangen wurden. Ein Teil der Ermittlungen sollte die Anfertigung eines wöchentlichen Berichtes der Ermittlungsfortschritte und die Angabe der rechtskräftig verurteilten Personen sein.

Drittens sollte ein gesonderter Hilfsfonds für die Opfer des Konfliktes geschaffen werden, darunter auch für die ukrainischen Bürger, die zum Wohnortwechsel gezwungen wurden. Der Fonds sollte auf transparente Art und Weise verwaltet werden und offen für Hilfe aus dem Ausland sein.

Viertens ist eine Dezentralisierung der Macht wesentlich – die Einführung einer Selbstbestimmungsregelung, nicht notwendigerweise nach dem Muster der Reformen in Polen, aber mit einer deutlichen Festlegung der Kompetenz- und  Verantwortungsbereiche der einzelnen Institutionen.

Fünftens schließlich ist die blitzschnelle Neuverhandlung eines Partnerschaftsvertrags notwendig, mit dem Ziel, eine Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft zu schaffen.

Die Ukrainer erwarten auch wichtige Gespräche über nationale Identität und Geschichte – die länger zurückliegende und auch die jüngste Geschichte, wo Ukrainer aufeinander schossen. Wer soll diese Diskussionen leiten, und meinen Sie, dass die Ukrainer entschlossen genug sind, diesen – zweifellos schmerzhaften – Prozess durchzustehen?

Solche Diskussionen wurden bis vor Kurzem intensiv geführt. Darüber habe ich unter anderen in meinem Buch „Pożegnanie z imperium” [Abschied vom Imperium] geschrieben. Eine Blockierung der öffentlichen Debatte habe ich bereits zu Anfang der Regierungszeit Janukowytschs bemerkt. Das deckte sich mit der fortschreitenden Medienkrise und dem Fehlen meinungsstiftender Zeitungen.

Der neue Präsident der Ukraine sollte persönlich die Schirmherrschaft über Ermittlungen zu den Verbrechen übernehmen, die während der Maidan-Proteste von Funktionären begangen wurden.

Ola Hnatiuk

Wie sollte der Versöhnungsprozess aussehen?

Die Ukraine ist ein kulturell außerordentlich vielfältiges Land: Weder die Sprache, noch die Religion, noch das kulturelle Erbe sind Faktoren, die alle Bürger einen. Eine Gemeinschaft kann daher nur auf der Grundlage geteilter Ideale, vor allem der Achtung vor dem menschlichen Leben und der menschlichen Würde, entstehen. Die ukrainische Krise ist – wie alle Krisen – eine Chance. Die Ukrainer können nicht nur eine Alternative zum osteuropäischen Autoritarismus aufzeigen, sondern auch – im Falle des Gelingens – die Attraktivität eines solchen Weges.

Natürlich vollzieht dieser Prozess sich nicht von einem Tag auf den anderen. Ich stimme allerdings nicht mit meinem Freund Professor Jarosław Hrycak überein, der das spanische Modell für das beste Rezept hält: eine Art Einfrieren der Debatte für Generationen. Aber ganz und gar nicht aus Egoismus – auch wenn es stimmt, dass ich die Zeiten gerne erleben möchte, in denen man von einer ukrainischen Nationalität,  basierend auf der Gemeinsamkeit echter Werte, sprechen kann.

Können die polnischen Erfahrungen irgendwie hilfreich für die Ukrainer sein?

Die Europäische Union oder gar Polen können nicht nur passive Zuschauer sein. Dabei geht es natürlich nicht darum, den Ukrainern ihre Aufgaben abzunehmen, aber auch nicht nur um eine Palliativbehandlung. Es geht um wirksame und reale Hilfe. Leider konnte ich viele Male – auch bei polnischen Institutionen – Hilfeleistungen beobachten, die darin bestanden, Geld von der einen Tasche in die andere fließen zu lassen, also in der Finanzierung der eigenen Beamten und Fachleute.

Was erwarten Sie von polnischer Seite?

Trotz der ungeheuren Bemühungen vieler Milieus, wie auch bis zu einer gewissen Zeit der kohärenten Staatspolitik, wurden noch keine institutionellen Grundlagen für den polnisch-ukrainischen Dialog geschaffen, und es mangelt der polnischen Politik – ausgenommen sind die Stipendienprogramme – an Systematik. Es fehlen Institutionen wie die, die gleich nach Polens Erlangung der Unabhängigkeit in den Beziehungen mit Deutschland ins Leben gerufen wurden: ein Jugendaustausch in großem Umfang, ein Programm zu Ermöglichung der kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit nach dem Muster des DAAD [1] sowie ein institutionell verankerter Historiker-Dialog nach dem Beispiel dessen, was das Zentrum für Historische Forschung [Centrum Badań Historycznych] in Berlin leistet. Die ukrainischen Zentren, die solche Aufgaben anstreben, haben keine systematische Unterstützung von polnischer Seite. Und dabei ist das Vertrauenskapital, das mühselig im Laufe des letzten Vierteljahrhunderts aufgebaut wurde, so unerhört leicht zu verprassen.

Fußnoten:

[1] DAAD – Deutscher Akademischer Austausch Dienst (Niemiecka Centrala Wymiany Akademickiej).

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes

Special Reports

Wer kommt nach Putin?

Andrzej Waśkiewicz · 27 May 2014
Repräsentiert Präsident Putins Politik den Willen des russischen Volkes? Das Regime, für das Putin steht, ist keine repräsentative Demokratie, sondern Autoritarismus. Und dennoch hat seine Macht einen besonderen Repräsentationscharakter.

Seit die Idee der Repräsentation unter die Demokratie untergeordnet und in Repräsentationsorganen institutionalisiert wurde, dient sie als eine Art Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Regierung. Dabei begründet sie, warum die Regierten die Macht in die Hände von ihnen gewählter Politiker legen und dabei doch souveräne Bürger bleiben können. Eine solche Repräsentation ist Putins Regierung natürlich nicht. Seit der Zeit des Mittelalters funktioniert Repräsentation aber auch in schwächerem Sinne, als Idee, die eine nicht dem Willen des Volkes entsprechende, sondern lediglich vom Volk anerkannte Ausübung von Macht legitimiert. Und einen solchen Charakter hat Putins Regierung. Repräsentation ist hier als gewisser Anspruch auf ein Auftreten im Namen anderer zu denken; wenn dieser Anspruch anerkannt wird, ist die Regierung repräsentativ, wenn nicht, ist sie usurpatorisch.

Mäander der Rechtskräftigmachung

Putins Regierung erfüllt die grundlegenden Bedingungen einer repräsentativen Herrschaft nicht, und ist doch, wie unabhängige Studien zur Meinungsforschung zeigen, eine anerkannte und damit legitime Regierung. Und das lässt sich, leider, verstehen, indem man sich auf die Idee der Repräsentation beruft.

Erstens erscheint Putins Regierung, wenn sie auch keine vor den Regierten verantwortliche Regierung ist, so doch als eine für die Regierten verantwortliche Regierung. Und eine für die Regierten verantwortliche Regierung lässt sich leicht zu Taten hinreißen, die eine vor den Regierten verantwortliche Regierung nur im äußersten Notfall durchführt. Kann man sich in Russland so etwas wie einen Guantanamo-Skandal vorstellen, einen Putin, der sich vor Menschenrechtsschützern dafür rechtfertigt, wie er die imaginären und tatsächlichen Feinde seines Landes behandelt, z.B. die des Terrorismus verdächtigten Tschetschenen?

Zweitens erscheint Putins Regierung, wenn auch die Wahlen gefälscht werden und die Zusammensetzung der Repräsentationsorgane nicht die gesellschaftliche Differenziertheit abbildet, den Russen doch als Kraft, die die ganze Gesellschaft zusammenhält, welche ohne sie sicher auseinanderfallen würde. Haben sie solche Erfahrungen etwa nicht aus Boris Jelzins Zeiten in Erinnerung? Demokratie verbinden sie mit Chaos und scheinen somit die Ansichten Thomas Hobbes’ zu teilen – eines englischen Philosophen, der in der Zeit des englischen Bürgerkriegs Mitte des 17. Jh. lebte – dass es ohne eine starke Herrschaft gar keine Gesellschaft gebe, dass die Herrschaft die Gesellschaft schaffe und deren Zerfall vorbeuge. Hobbes ist zwar heute der meistzitierte politische Philosoph in seinem Land, dennoch wurden seine Ideen in England nie verwirklicht. Sollte Hobbes etwa erst in Putin denjenigen gefunden haben, der sein Projekt umsetzt? Der englische Denker bezeichnete schließlich jegliche Institutionen, die die Allmacht der Herrschenden in Frage stellten und an heutige Körperschaften oder Nichtregierungsorganisationen denken lassen, als „Würmer in den Eingeweiden“ einer gesunden Republik! Diese Ansicht würde Putin doch sofort unterschreiben.

Kann man sich in Russland so etwas wie einen Guantanamo-Skandal vorstellen, einen Putin, der sich vor Menschenrechtsschützern dafür rechtfertigt, wie er die imaginären und tatsächlichen Feinde seines Landes behandelt?

Andrzej Waśkiewicz

 

Drittens schließlich erwarten die Russen von den Regierenden im selben Maße wie die Verwirklichung ihrer materiellen Interessen die Erfüllung der historischen Mission des russischen Volkes, eines Elements, das die Grenzen der Russischen Föderation überschreitet. Putins Herrschaft hat also ein gewisses metaphysisches Element, das in Hobbes’ Modell fehlt. Mit Sicherheit leben viele sogenannte gewöhnliche Russen jetzt etwas besser als unter Jelzins Regierung – wenn auch wahrscheinlich die am besten leben, die aus Angst vor einer Konfiskation ihres Vermögens ins Ausland gegangen sind. Aber denen, die geblieben sind, hat Putin die Selbstachtung zurückgegeben. Auf die Frage: „Wann achten sie uns im Ausland?“, antworten über 80 Prozent der Russen: „Wenn sie Angst vor uns haben!“ Und Angst erwecken kann schließlich nur ein starkes Russland. Putin hat also bewiesen, dass er ein einiges, ewiges und unbesiegbares Russland repräsentieren kann. Putin ist Russland, Russland ist Putin – Putins Gegner sind Russlands Gegner.

Führung durch Angst

Betrachten wir Putin aus dieser Perspektive, scheint es verwunderlich, dass er überhaupt eine Opposition duldet. Doch er toleriert sie – und nicht nur die konzessionierte, sondern auch eine authentische. Das tut er aber nicht aus Gründen der gesellschaftlichen Sensibilität und Achtung vor demokratischen Werten.

Der russische Präsident sät keinen Terror wie ein totalitärer Despot – er wendet durchdacht und sparsam Gewalt an. Propaganda wendet er in massivem Ausmaß an, um nicht in massivem Ausmaß Gewalt anzuwenden. Die Gewalt richtet er nicht gegen die ganze Gesellschaft, sondern gegen selbsterwählte Feinde. In Machiavellis Sprache gesagt, stützt er seine Herrschaft auf Liebe und Angst – bemüht sich um die Liebe der einen und will den anderen Angst einjagen. Man könnte sogar sagen, dass die einen ihn deshalb lieben, weil die anderen Angst vor ihm haben.

Die Russen erwarten von den Regierenden im selben Maße wie die Verwirklichung ihrer materiellen Interessen die Erfüllung der Mission des russischen Volkes, eines Elements, das die Grenzen der Russischen Föderation überschreitet.

Andrzej Waśkiewicz

Putin hat somit ein System geschaffen, das fassadenhafte repräsentative Institutionen mit authentischer Repräsentation koppelt. Die spannendste Frage, die man hier stellen kann, lautet also: Warum hält er diese Institutionen am Leben? In der Literatur finden wir zwei Antworten auf diese Frage. Die erste ist eine Antwort im Geiste François de La Rochefoucaulds und besagt, dass der Grund für eine solche politische Strategie gewöhnlich Heuchelei sei, also „der Tribut, den das Laster der Tugend zollen muss“. Die zweite, perversere Antwort auf diese Frage lautet: Putin unterhält Institutionen, die scheinbar seine Macht beschränken, um so zu beweisen, dass seine Herrschaft… unbegrenzt ist, da sie nicht einmal den wichtigsten Kontrollinstitutionen unterliegt.

Ich weiß nicht, welche Erklärung die richtige ist; vielleicht sind beide richtig, vielleicht auch keine. Ich habe aber das Gefühl, dass die Fassadeninstitutionen wichtiger sind als gemeinhin angenommen, und dass ihre Erhaltung möglicherweise die einzige Sache ist, für die die Russen Putin einmal dankbar sein werden. 2008, kurz vor Ende der zweiten Amtszeit Putins, war Gleb Pawlowski in Warschau zu Gast, damals der erste politische Berater des Präsidenten. Auf die Frage, wer in Russland nach Putin die Macht übernähme, antwortete er ohne nachzudenken: „Wie – wer? Putin.“

Fürs Erste stimmen Pawlowskis Vorhersagen, aber diese Frage wird in einiger Zeit wiederkehren und nach einer ernsthaften Antwort verlangen! Ob bei dieser Antwort die heute in Russland fassadenhaften Institutionen der repräsentativen Demokratie hilfreich sein werden? Bis Februar 1989 nahm niemand in Polen die Institution des Parlaments ernst. Das Parlament bekam erst dann Gewicht, als im Ergebnis der Verhandlungen am Rund Tisch und nach den Juniwahlen in Polen die Opposition, die Solidarność, auf seinen Bänken Platz nahm. Bis zum August 1989 nahm niemand in Polen die Satellitenparteien der PVAP ernst, unterdessen bildeten diese zusammen mit der Bürgerlichen Parlamentsfraktion die Regierungskoalition, an deren Spitze Premierminister Tadeusz Mazowiecki stehen würde. Ich weiß, dass man von der Geschichte keine Wiederholung verlangen kann, aber vielleicht schenkt sie uns ja irgendwann wenigstens ein Lächeln.

Aus dem Polnischen von Lisa Palmes

Politics

Putins Propaganda sollte gebrochen werden

Timothy Snyder im Gespräch mit Jarosław Kuisz · 14 May 2014
Auf die Initiative von Professor Timothy Snyder (Yale University, Institut für die Wissenschaften vom Menschen) und Leon Wieseltier (The New Republic) hin, wird vom 16. bis 19. Mai in Kiew der Kongress „Solidarity Ukraine” stattfinden. Noch vor dem Beginn befragen wir Professor Snyder kurz zu der Idee und dem Sinn dieser Zusammenkunft.

Jarosław Kuisz: Warum veranstalten Sie kurz vor den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai den Kongress „Solidarity Ukraine“ in Kiew? Geht es darum, auf Politiker und Diplomaten Einfluss auszuüben?

Timothy Snyder: Beginnen wir einmal damit, dass diese Konferenz keine direkte politische Dimension hat. Die Teilnehmer wollen vor allem ihre Kollegen aus der Ukraine treffen, Solidarität für die vor sich gehenden Veränderungen zeigen und ihre Unterstützung für diejenigen Stimmen ausdrücken, die Freiheit und die Achtung der Menschenrechte in der Ukraine fordern. Es gibt verschiedene Formen der Diplomatie. Die „hohe“, die mit der Außenpolitik zusammenhängt, aber auch die Diplomatie von unten, die gesellschaftliche. Wissenschaftler, Journalisten und Künstler begeben sich nach Kiew, um zu zeigen, dass Ereignisse wie eine Konferenz, wie Gespräche zwischen im gesellschaftlichen Leben engagierten Personen, genau jetzt in der Ukraine stattfinden können. Und auch deshalb, um Erfahrungen zu sammeln und die Stimme der Ukrainer besser zu hören. Schließlich kennen die Ukrainer selbst am besten die Situation in ihrem Land. Die Gesellschaften des Westens hingegen kennen diese Situation weniger. Es ist wichtig, dass die Konferenzteilnehmer sich genau hier an diesem Ort und zu dieser Zeit einfinden. Es geht darum zu zeigen, dass man sich in Kiew treffen und über Dinge reden kann, die im Grunde für uns alle grundlegende Bedeutung haben, wie der friedliche Kampf um die Menschenrechte, die Geschichte und das Gedächtnis oder die Bedeutung von Pluralismus und Demokratie im 21. Jahrhundert.

Kann man auf diese Weise versuchen, die Wirklichkeitsdeutung des Kremls, die unter den Intellektualisten im Westen durchaus erfolgreich ist, zu durchbrechen?

Man muss zugeben, dass Putins Wirklichkeitsdeutung eine enorme Kraft hat, weil sie sich überhaupt nicht an Fakten halten muss. Die Personen, die sie schaffen, können ungehindert Bekanntmachungen erstellen und sich der Medien frei bedienen. Ich würde jedoch vorsichtig sagen, dass sich im Westen die Einstellung zu dem Bild, dass der Kreml vermittelt, langsam ändert. Der Konflikt dauert schon so lange, dass sich immer mehr Menschen darüber im Klaren werden, dass es vor unseren Augen zu einem wahren Zusammenprall zweier Wirklichkeitsdeutungen kommt. Das bedeutet im Grunde, dass wir es hier mit ideologischen Kämpfen zu tun haben.

Wir haben in unserer Ausgabe den Text „Die satten Polen schauen auf die Ukraine“ [http://kulturaliberalna.pl/2014/02/25/syci-polacy-patrza-ukraine/] veröffentlicht. Es ist nicht ausgeschlossen, dass man einen ebensolchen Text über jede Gesellschaft in Westeuropa hätte schreiben können. Wie kann man die offensichtliche Gefahr abwenden, dass Intellektuelle aus dem Westen nach Kiew fliegen und die Ukrainer belehren, indem sie ihnen sagen, was sie machen sollen …?

Diese Denkweise begleitet uns seit langem. Heute haben die Intellektuellen aus dem Westen kein Recht, irgendjemanden von oben herab zu belehren. Im Gegenteil, sie können von der Ukraine viel lernen, denn die für uns wichtigsten Ereignisse finden dort statt. Wir haben zu der Konferenz übrigens Menschen aus der ganzen Welt eingeladen, nicht nur Intellektuelle aus dem Westen. Mehr noch, wir haben für die Konferenz jegliche „symbolische“ Dominanz durch eine Konferenzsprache ausgeschlossen. Die Podiumsdiskussionen finden nicht nur auf Englisch, sondern auch auf Ukrainisch, Russisch, Polnisch, Französisch und Deutsch statt. Es geht uns darum, dass alle die Erfahrung teilen, sich mithilfe einer anderen Sprache auszudrücken, genau so, wie die Ukrainer es tun müssen. Es ist wichtig, dass wir einander auf diese Weise Respekt zeigen und Erfahrungen auf diese symbolische Art miteinander teilen.

Wenn wir davon sprechen, voneinander zu lernen, stellt sich eine ganz konkrete Frage: Wie können die Ukrainer mit ihrem Staat zurechtkommen?

Ich würde diese Frage umdrehen. Das gesamte 19. und 20. Jahrhundert hindurch war der Staat in Europa ein Problem. Der Staat hat in ganz Europa natürliche, anarchistische Tendenzen zum Widerstand gegen sich bekämpft. Heute wissen wir, wie wichtig es ist, dass der Staat seine Bürger davon überzeugen kann, dass er ihnen etwas zu geben hat, dass sie ihn für etwas Konkretes brauchen. Im Westen erweist sich heute als ernstes Problem, dass diese Vorteile allgegenwärtig geworden sind. Man hat aufgehört sie wahrzunehmen, und dadurch hat man aufgehört, seinen Staat angemessen zu schätzen. Er ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, während er für die Ukrainer, die sich die westlichen Staaten ansehen, eine Quelle der Hoffnung bleibt.

Es gibt also Hoffnung für die Ukraine.

Auf jeden Fall.

Dann auf Wiedersehen in Kiew.

Auf Wiedersehen.

Special Reports / Zynischer Nationalismus

Zynischer Nationalismus

Redakcja Kultury Liberalnej · 13 May 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

zum ersten Mal platziert sich mitten im Herzen der Europäischen Union eine euroskeptische Anti-EU-Gruppierung auf dem ersten Platz bei den Wahlen zum Europäischen Parlament: die Front National. Ähnliche Parteien gedeihen übrigens in ganz Europa prächtig, von Großbritannien über Ungarn bis hin zu Griechenland. Wahre Finnen, Freiheitliche Österreicher… Seit Langem stand der Wind auf dem Alten Kontinent nicht mehr so günstig für Nationalismen. Und das Tüpfelchen auf dem I: Fast 40% der Franzosen würden heutzutage gern aus der EU austreten!

Die nationale Ideologie ist somit nicht mehr nur eine Bezeichnung für die utopischen Annahmen radikaler politischer Randgruppen. Sie wird zu einer realen Bedrohung für die internationale Sicherheit und die Stabilität der EU. Auf der einen Seite kann der vereinte euroskeptische Block, gleich einem Trojanischen Pferd, zur dritten Kraft im Europäischen Parlament werden. Auf der anderen Seite hingegen sollten die Ereignisse in der Ukraine und die Wahlen am 25. Mai die Europäer daran gemahnen, dass es ein mindestens zweischneidiges Schwert ist, sich der Idee eines starken Nationalismus zu bedienen.     (more…)

Special Reports / Zynischer Nationalismus

Spiele mit dem Nationalismus

Viktoriia Zhuhan im Gespräch mit Gleb Pawlowski · 13 May 2014
In Wladimir Putins Russland herrsche eher ein imperialistischer Nationalismus, als ein ethnischer, so der russische Politologe. Wenn die Sprache des Regimes von einem gewissen Synkretismus geprägt ist, so deshalb, weil das Regime, das die europäische Sprache verworfen hat, nach einer neuen Ausdrucksweise sucht und Wörter entlehnt: sowohl von dem rechtsextremen Dugin, als auch von dem antisemitischen Kisielow.

Viktoriia Zhuhan: Herr Pawlowski, der Kreml ist der Meinung, dass in der Ukraine Faschisten die Macht ergriffen haben. Glauben die Russen das?

Gleb Pawlowski: Ich denke, ja. Aber „Faschisten“ – das ist nur ein Wort. Der Hauptvorwurf, den ich der Regierung in Kiew mache, ist, dass sie über keine gesellschaftliche Legitimierung verfügt. Diese Menschen hat die Revolution an die Macht gebracht, aber sie waren nicht die Anführer dieser Revolution. Das Schlimmste ist, dass sie ihre Posten missbraucht haben. Sie sind der Herausforderung, das Land zu einigen, nicht gerecht geworden. Zunächst war mir das seltsam vorgekommen. Dann aber habe ich verstanden, dass das Strategie ist, frei nach dem Motto „wer nicht für uns ist, ist gegen uns“.

Ich bin mit Ihnen nicht einverstanden. Erstens hat die derzeitige Regierung ihre gesellschaftliche Legitimation von dem Parlament erhalten, das durch allgemeine Wahlen entstanden ist. Zweitens darf das Wort „Faschismus“ nicht einfach so dahergeworfen werden. Seine Platzierung im Herzen der russischen Propaganda bezüglich der Regierung in Kiew, kann für das Image der Ukraine beispielsweise in Westeuropa dramatische Konsequenzen haben.

 Ich nehme die ernsthafte Metapher der ukrainischen liberalen Revolution durchaus wahr. Natürlich ist das kein Faschismus. Aber Liberalismus kann man es wohl kaum nennen.

Gleb Pawlowski

Die heutige Regierung in Kiew wird im Grunde von der ehemaligen politischen Elite repräsentiert. Die Zusammensetzung des derzeitigen Parlaments wurde durch Wahlen bestimmt, die zu Janukowytschs Zeiten stattgefunden haben. Diese Wahlen waren, vorsichtig gesagt, gestellt. Außerdem ist der Regierung Jazenjuks auch jedes Mittel recht. Alle Gegner dieser Regierung werden als Terroristen bezeichnet. Genauso war es in Russland vor zehn Jahren: Wer das Vorgehen Moskaus im Kaukasus nicht befürwortete, war ein Terrorist. Leider war der Charakter dieser Revolution von Anfang an mit einer ausschließenden Art von Nationalismus verbunden. Es gibt „national Bewusste“ und „Unbewusste“. Ich habe die Geschehnisse auf dem Majdan sehr genau verfolgt und war ein paar Mal in Kiew. Der Osten und der Süden der Ukraine hatten dort praktisch keine Stimme. Man ging davon aus, dass sie sich anschließen würden. Die neue Regierung hat daraus eine andere Politik gemacht: „Wer sich nicht anschließt, ist ein Terrorist“!

Vielleicht würden sie sich am liebsten anschließen, wenn da nicht die prorussischen Aktivisten wären, die durch die ukrainische Grenze sickern, Männer in Uniformen, die – wie Wladimir Putin meint – aus „dem Laden“ stammen? Und wenn nicht das Spiel mit dem Begriff „Volkswillen“ durch die Erzwingung der Organisation von Referenden zum Anschluss an Russland wäre.

Die Ukrainer haben ein paar Mythen, die die ganze Zeit in den Westen übermittelt werden. Zum Beispiel, dass im Osten Ordnung herrscht. Oder das alle Probleme von Putins Saboteuren verursacht werden. Das ist nicht wahr. Der Osten ist voller Angst. Die Berichte vom Majdan machen den Eindruck, als würden sie einen anderen Staat betreffen. Hinzu kommt der Stil dieser Proteste, bitte machen Sie sich bewusst, dass die Menschen, die im Januar „Ruhm der Ukraine! Den Helden Ruhm!“ gerufen haben, noch im Dezember diese Worte nicht über die Lippen gebracht hätten, wegen der Assoziation mit den Bandera-Anhängern. Der Majdan und seine Konsequenzen haben in der Ukraine Dämonen geweckt, die jetzt nicht leicht zu beherrschen sein werden. Nehmen wir einmal Odessa und die Personen, die vor ein paar Tagen in dem Brand des Gewerkschaftsgebäudes umgekommen sind. Das war ein gigantischer Schlag für diese ruhige Bürgerstadt. Das letzte Mal sind hier 1941 Menschen verbrannt worden. Wenn Kiew denkt, dass es damit leicht zurechtkommt, dann irrt es sich. Ich erinnere mich an frühere Wahlkämpfe in der Ukraine. Es haben sich immer zwei Makroregionen gegen die dritte vereint. Aber dieses Mal droht das Land zu zerbrechen. Ich bin der Regierung in Kiew gegenüber wesentlich skeptischer als ich das noch im März war. Ihr Prinzip ist folgendes: erst der Sieg, dann die Reformen. Aber ob sie im Moment des Sieges tatsächlich über irgendetwas wird entscheiden können? Ich nehme die ernsthafte Metapher der ukrainischen liberalen Revolution durchaus wahr. Natürlich ist das kein Faschismus. Aber man kann es wohl kaum Liberalismus nennen.

Wir haben über die Besonderheit des heutigen ukrainischen Nationalismus gesprochen. Und wie sieht der heutige Nationalismus in Russland aus?

Wesentlich differenzierter als der in der Ukraine. In Russland haben wir es mit einer Vielfalt solcher Gruppierungen zu tun: von ethnischen Nationalisten und Faschisten bis zum imperialistischen Nationalismus, wo man eigentlich nicht von Russländern spricht, oder auch nicht von „Russen“, sondern von Bürgern der Russischen Föderation. Der Präsident spricht ungern von „Russen“. Nicht, weil er sie nicht schätzt, sondern weil sie im Rahmen unseres imperialen Nationalismus ein Volk unter vielen anderen sind. Unserer Meinung nach gibt es gleichzeitig verschiedene Nationalitäten. Das heißt die Nation wird durch den Staat vertreten. Wenn man also von „Russländern“ spricht, sind die Russen gemeint und mit ihnen die Tataren, die Juden, die Ukrainer usw. Das ist eine sehr alte und mächtige Tradition.

Wie sieht es mit den russischen ethnischen Nationalisten aus? Studien, die im Jahr 2013 vom Lewada-Zentrum durchgeführt wurden, zeigen, dass es mehr werden. 60 Prozent der Russen erklärten, dass sie Widerwillen und Angst gegen die Bewohner des Kaukasus und gegen Asiaten empfinden. 66 Prozent unterstützen das Motto „Russland den Russen“. Jedes Jahr findet auch ein „Russischer Marsch“ statt.

Solche Studien haben ein grundsätzliches Manko: Sie vereinfachen die Wirklichkeit allzu sehr. Der Slogan „Russland den Russen“ verliert seit 20 Jahren nicht an Beliebtheit. Insbesondere unter den Vertretern der Mittelklasse, von der die Hälfte gar nicht russisch ist. Er wird von vielen Halb-Tataren, Halb-Juden usw. benutzt. Und an den „russischen Märschen“ nehmen alljährlich lediglich ein paar tausend Personen teil. Ich halte sie nicht für Faschisten. Das sind mehr oder weniger liberale Nationalisten, die vom Großteil der Gesellschaft als Sonderlinge wahrgenommen werden. Ein wichtiger Grund für ihre Proteste ist sicherlich das Fehlen einer Agenda für die „Russen“. Sie haben keinen Sonderstatus, während allen anderen nationalen Minderheiten bestimmte Privilegien zugestanden werden. Zwar wurde die idiotische Idee aufgebracht, die „Russen“ zur elementaren Gründungsnation zu ernennen, aber das würde sowie nichts ändern. Und andere Lösungen? Nehmen wir zum Beispiel die Krim. Wenn die Regierung sagt, dass wir die Russen auf der Krim schützen, weil sie sich bedroht fühlen, müsste man vielleicht eine Krimregion als Bestandteil der Föderation gründen? Ebenso für die Russen in Sibirien und im Süden usw. Nur dass man offiziell nicht darüber sprechen darf. Wenn jemand davon sprechen würde, dass es das Bedürfnis gibt, Gebiete für ethnische Russen abzusondern, wäre das ein großer Skandal. Man würde schimpfen, dass dies ein Ausdruck von Extremismus sei, ein Versuch, den Staat zu sprengen.

Putin setzt gern die patriotische Rhetorik ein. Spielt er nur mit nationalistischen Empfindungen, oder teilt er sie auch?

Ich glaube nicht, dass das Heuchelei ist. Soweit ich weiß fühlt sich Putin wirklich als ein „Russe“. Das Paradox besteht jedoch darin, dass man nicht Russland regieren und Russe bleiben kann. Wenn du Russland regierst – egal ob als Zar, als Generalsekretär, als Präsident – verlierst du deine nationale Identität. So ist es seit Iwan dem Schrecklichen, der als erster Herrscher Russlands einen Raum geschaffen hat, der anders als nach nationalen Gesichtspunkten organisiert war. Auch die Bolschewiken haben insbesondere nach der Revolution versucht, einen multikulturellen Raum zu schaffen. Die Sowjetunion wurde als Imperium einer affirmativen Politik bezeichnet, aber erfunden wurde diese in den zwanziger Jahren. Es wurden Nationen konstruiert, und es wurden ihnen Privilegien zugestanden. Früher oder später wird die Föderation den Russen ein staatliches Angebot machen müssen.

Sie haben gesagt, dass der ethnische Nationalismus in Russland nicht viele Befürworter hat. Dennoch hat während der Annexion der Krim der ethnische Diskurs in den Medien dominiert.

Wir schützen gern die Russen, solange sie weit weg sind. Aber im Internet kann man Aufnahmen finden, die zeigen, wie ethnonationalistische Demonstrationen in Simferopol von der russischen Polizei bereits nach der Annexion befriedet werden. Man sagte den Demonstranten: Ihr seid keine Russen mehr, sondern Bürger Russlands. Die haben das aber überhaupt nicht verstanden. Der heutige Patriotismus wird von den Massenmedien künstlich verstärkt, er basiert auf Aggressionen und auf Vorwürfen gegen andere. Einer wirft dem anderen vor, dass dieser seinen Patriotismus nicht in der gleichen Form teilt. In Moskau herrscht heute ein regelrechter patriotischer McCarthyismus: Ständig wird überprüft, was du über Patriotismus denkst, und ob du nicht in Wirklichkeit ein Feind bist. Dabei kann es passieren, dass dein Gesprächspartner nicht einmal den Unterschied zwischen Nation und Staat kennt.

 In Moskau herrscht heute ein regelrechter patriotischer McCarthyismus: Ständig wird überprüft, was du über Patriotismus denkst, und ob du nicht in Wirklichkeit ein Feind bist.

Gleb Pawlowski

Sie haben aber meine vorherige Frage noch nicht beantwortet. Manfred Sapper zählt in der heutigen Ausgabe von Kultura Liberalna auf, wer beteiligt ist am Aufbau der Rhetorik des Kremls: Ideologen, die aus der radikalen Strömung stammen wie Alexander Dugin, Sergej Kurginyan und Alexander Prochanow, und auch Dmitrij Kisielow, der seinen Antisemitismus offen äußert. Also ist der Nationalismus des gegenwärtigen Regimes nicht nur – wie Sie sagten – imperialistisch. Er ist auch ethnisch.

Ein gewisser Synkretismus rührt daher, dass unsere Regierung den Diskurs beinahe von Null aufbauen muss. Man ist von der europäischen Rhetorik abgekommen, aber es gibt noch keine neue. Putin klang im vergangenen Jahrzehnt wie ein anderer Mensch. In der russischen Kultur ist Ethnoradikalismus tabu, erst recht Faschismus. Aber die Regierung bedient sich, um sich an die Situation anzupassen, eines gemischten Dialektes, der mal bei Dugin, mal bei Kurginyan entlehnt. Da sind leider auch meine Formulierungen dabei, die noch in der vergangenen Epoche hinzugefügt wurden. Beispielsweise „russländische Welt“ und „russische Welt“. Aber unter dem Begriff „russische Welt“ war kein ethnischer Paternalismus zu verstehen, sondern es ging um die Zone der russischen Sprache und Kultur. In diesem Sinne gibt es Elemente der russischen Welt in den USA, in Europa, in Kanada und sogar in China. Das ist so etwas wie die „Anglosphäre”.

Für die radikalen Elemente in der russischen öffentlichen Sphäre zeigen Sie allerdings viel mehr Verständnis als für die in der Ukraine. Schaut man sich die derzeitigen guten Umfrageergebnisse für Wladimir Putin an, kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Bewohner der Föderation einen gemeinsamen Feind brauchen. Dieses Mal sind es die Ukrainer oder die Regierung in Kiew…

Das Schädlichste ist, dass die derzeitige russische Propaganda das Skript der Suche nach dem Verräter aktiviert hat. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das letztlich gegen Putin selbst wendet.

Gleb Pawlowski

Ich denke, dass wir uns in einer Epoche eines schweren Traumas befinden. Viele Menschen, auch ich, haben es lange ignoriert. Die Menschen haben in hohem Maße die Fähigkeit zur Kommunikation verloren. Das hängt teilweise mit dem Charakter der heutigen Massenmedien zusammen. Verschlimmert wird das noch durch die sozialen Medien, die durchaus nicht vor Propaganda schützen. Im Gegenteil, sie verstärken ihre Wirkung. Die User verschanzen sich auf ihren Positionen und das führt zur Spaltung der Gesellschaft. Das war im vergangenen halben Jahr im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine sehr gut zu sehen. Man darf das nicht nur durch das Prisma des Nationalismus sehen. Ideologische Inhalte sind hier weniger wichtig als die Technologie der Spaltung und der Aggressivität. Der Mensch greift an, und denkt erst dann darüber nach, warum er das getan hat.

Als ich mir die russischen sozialen Medien angesehen habe, habe ich den Eindruck bekommen, dass die Haltungen der Russen zur Politik des Kremls bezüglich der Ukraine gar nicht einheitlich sind. Wo verläuft die Linie der Spaltung, von der Sie sprechen?

In den sozialen Medien greifen sich Menschen an, die einander ähneln. Sie werfen dem Gegner ihre eigene Vorstellung von dessen Ansichten vor. Ein Beispiel: Putin hatte vor ein paar Tagen einen sehr kurzen Auftritt, aber er hat es nicht versäumt, das Thema Verrat anzusprechen. In unserem poststalinistischen öffentlichen Diskurs ist das ein wichtiger Begriff. Es spielt keine Rolle, ob du Jude, Ukrainer oder Tschetschene bist – wichtig ist nur, ob du ein Verräter bist oder nicht. Und hier kommen wir zum schädlichsten Element der derzeitigen russländischen Propaganda: Sie hat das Skript der Suche nach dem Verräter in Gang gesetzt. Selbst wenn jemand versuchen würde, die gesellschaftlichen Stimmungen zu besänftigen, läuft dieses Skript inzwischen von selbst. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich letztlich gegen Putin selbst wendet.

Special Reports / Zynischer Nationalismus

Der Schwanengesang der „Swoboda”

Anton Schechowzow Michał Jędrzejek · 13 May 2014
Janukowitschs Fall bedeutet für die „Swoboda“ den Verlust der wichtigsten Quelle für die negative Wählermobilisation. Positive Quellen fehlen ebenfalls. Trotz der blau-gelben Farbe der Revolution weist die ukrainische Gesellschaft heute eher bürgerlich-republikanische als ausschließend-ethnische Züge auf.

Michał Jędrzejek: „Swoboda“ und „Prawyj Sektor“ – sind das rechte, nationalistische oder faschistische Gruppierungen?

Anton Schechowzow: Es sind beides rechtsextreme Parteien, die sich aber im Grad ihres Extremismus und in ihrer Geschichte unterscheiden. Die „Swoboda“ (Freiheit) kann man mit einigen Parteien aus den EU-Ländern vergleichen – mit der Front National unter der Führung von Jean-Marie Le Pen (nicht mehr jedoch unter Marine Le Pen, die die Rhetorik ihrer Gruppierung bedeutend abgemildert hat) oder mit der Freiheitlichen Partei Österreichs aus Jörg Haiders Zeiten. In der „Swoboda“ gibt es auch Kleingruppen mit faschistischen Zügen, allerdings ist das nur ein sehr kleiner Teil der Partei. Mit „Prawyj Sektor“ (Rechter Sektor) ist die Sache komplizierter. Die Gruppierung entstand Ende November 2013 als breite Bewegung, die verschiedenste radikale Gruppen in sich versammelte. Auch wenn „Prawyj Sektor“ selbst sich erst während der Proteste auf dem Maidan herausbildete, so gab es diese Gruppen – den „Trisub“ (Dreizack) oder die UNA (Ukrainische Nationalversammlung) – schon in den 90er Jahren. Die radikalste und tatsächlich faschistische Organisation ist die vor einem Jahrzehnt in Charkiw registrierte „Patriot Ukrainy“ (Patriot der Ukraine).

Hat der Westen recht mit seiner Furcht vor ihnen?

Nur in gewissem Sinne. Ich glaube nicht, dass diese Gruppierungen eine Chance haben, in der Ukraine eine rechte Diktatur einzuführen. Mir macht eher Sorgen, dass stärkere politische Kräfte sie zur Manipulation benutzen könnten. So ist es mit dem „Patriot Ukrainy“, in dem es viele Provokateure gab, die mit dem Regime zusammenarbeiteten. Und so ist auch die Geschichte der „Swoboda“.

 Ich glaube nicht, dass sie eine Chance haben, in der Ukraine eine rechte Diktatur einzuführen. Mir macht eher Sorgen, dass stärkere politische Kräfte sie zur Manipulation benutzen könnten

Anton Schechowzow

Wer benutzte denn die „Swoboda” zur Manipulation?

Zum Beispiel Präsident Janukowitsch. Erinnern wir uns daran, dass die Vorgängerin der „Swoboda” die vollkommen unbedeutende „Sozial-Nationale Partei der Ukraine“ war, gegründet Anfang der 90er Jahre. „Sozial-National“ heißt nicht zwangsläufig nationalsozialistisch. Die Bezeichnung „sozial-national“ stammt von Jaroslaw Stezko, einem Ideologen des ukrainischen Nationalismus, der nach dem 2. Weltkrieg in seinem Text „Zwei Revolutionen“ feststellte, dass außer der Bildung eines souveränen ukrainischen Staates auch der Aufbau eines Sozialstaates und einer staatlich gestützten Industrie und Landwirtschaft nötig sei, und dass eine politische Revolution mit einer gesellschaftlichen Revolution einhergehen müsse. Dieses Programm behielt die Partei nach der Namensänderung 2004 bei.

Hat die Namensänderung die Popularität erhöht?

Nicht nur. Die Gruppierung hat viel davon profitiert, Oleh Tjahnybok als Parteioberhaupt ernannt zu haben, die treibende Kraft bei den meisten Programmänderungen. Trotzdem erlangte sie 2006 und 2007 bei den Parlamentswahlen nur 0,36 und 0,76 Prozent der Stimmen. Die Erfolge stellten sich erst drei Jahre später ein, als die „Swoboda“ in der Westukraine auf über 30 Prozent der Stimmen kam. Damals beschlossen Janukowitsch und seine Berater, sie zum Kampf gegen die „orangene“ Opposition zu benutzen. Die Vertreter der „Swoboda“ traten plötzlich regelmäßig im Staatsfernsehen auf, obwohl sie nicht im Parlament waren. Nach den Plänen der Regierenden sollte die „Swoboda“ den Mitte-Rechts-Parteien einen Teil der Stimmen wegnehmen und einen Präsidentschaftskandidaten stellen, der als Extremist ein bequemer Gegner für Janukowitsch bei den nächsten Wahlen wäre. Als Resultat erlangte die „Swoboda“ bei den Parlamentswahlen 2012 über 10 Prozent der Stimmen.

 Die „Swoboda“ füllte bei den national-demokratisch eingestellten Wählern eine Lücke. Sie erschien als eine wirkliche Alternative zu den nach der Orangenen Revolution entstandenen Parteien

Anton Schechowzow

Ihr Wahlerfolg ist aber wohl nicht ausschließlich auf die verdeckte Unterstützung durch Janukowitsch zurückzuführen.

Das ist wahr. Das gute Ergebnis war die Folge eines ganzen Bündels gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Faktoren, wobei man hier tatsächlich nur schwer von einem Anstieg der Fremdenfeindlichkeit oder des Rassismus in der ukrainischen Gesellschaft sprechen kann. Die „Swoboda“ galt in der Ukraine vor allem als eine der sehr wenigen Parteien, die sich überhaupt auf irgendeine ideelle Doktrin berufen konnten. Für viele Wähler war der tief problematische Charakter ebendieser konkreten Ideologie paradoxerweise zweitrangig. Es herrschte eine große Enttäuschung über den Zynismus der nach der Orangenen Revolution entstandenen Parteien. Die „Swoboda“ füllte somit bei den national-demokratisch eingestellten Wählern eine gewisse Lücke. Sie erschien geradezu als neue, energiegeladene politische Kraft, als eine wirkliche Alternative einerseits zur „Partei der Regionen“ und Präsident Janukowitsch – und andererseits zur Allukrainischen Vereinigung „Vaterland“, die während der Abwesenheit der inhaftierten Julija Tymoschenko von Oleksandr Turtschynow und Arsenij Jazenjuk geleitet wurde, und zur Partei „Unsere Ukraine“ von Wiktor Juschtschenko. Interessant ist, dass die Wähler der „Swoboda“ sich als pro-europäischer bezeichnen als die Wähler der „orangenen“ Parteien.

Pro-europäische Wähler stimmen für Nationalisten? Wie ist dieses Paradox zu erklären?

Die „Swoboda” konnte die Wähler davon überzeugen, dass diese eine Kraft seien, die sich in äußerst konsequenter Weise dem Janukowitsch-Regime und den russischen Einflüssen in der Ukraine entgegenstellte. Ihr Radikalismus konnte als beste Antwort auf den Autoritarismus der Regierenden erscheinen. Diese Partei überraschte durch ihre Bereitschaft zur Kooperation mit den politischen Parteien der Hauptströmung oder auch mit dem „Komitee gegen Diktatur“, das als Antwort auf die politische Verfolgung Tymoschenkos gegründet wurde.

Was ist aber mit der Kooperation der „Swoboda” mit anderen europäischen rechtsextremen Gruppierungen?

Mit solchen Gruppierungen kooperierte sie tatsächlich und nutzte dies zu Image- und Propagandazwecken. Im Jahr 2000 knüpfte sie Kontakt mit Euronat, einer Vereinigung europäischer rechtsextremer Parteien, danach auch mit anderen „Schirmorganisationen“ für Nationalisten. Im selben Jahr nahm Jean-Marie Le Pen am Parteitag der „Swoboda“ teil. Die Zusammenarbeit war lang und fruchtbar. Es waren die Franzosen, die der Partei 2004 zu einem Imagewechsel hin zu einem etwas gemäßigteren Programm rieten. 2010 begann die Parteispitze der „Swoboda“ eine Kooperation mit den Österreichern. Von diesem Zeitpunkt an waren die Verbindungen zur europäischen extremen Rechten relativ stabil, bis Anfang 2013.

 Die ausschließende Rhetorik des ethnischen Nationalismus ist nicht förderlich und schadet der Ukraine im Ganzen. Heute gibt es eher das Bedürfnis nach einer anderen Sprache, die zu der uneinheitlichen Gruppe der über hundert Personen passt, die auf dem Maidan umkamen

Anton Schechowzow

Die „Swoboda” gelangte 2012 ins Parlament. Ein Jahr später brechen die Proteste auf dem Maidan aus. Wie haben die jüngsten Ereignisse die politische Position der „Swoboda“ beeinflusst?

Die aktive Haltung der „Swoboda” bei den pro-europäischen, pro-demokratischen Protesten seit November 2013 könnte wie ein doppeltes Paradox erscheinen. Erstens verhielt sie sich auf einmal anders als die Gruppierungen, mit denen sie bis dahin in Europa sympathisierte und die eher mit Anti-EU-Parolen in Verbindung gebracht werden. Ein solcher Wandel war von Tjahnyboks Partei kaum zu erwarten. Zweitens hatte die „Swoboda“ selbst lange Zeit die geplante Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU kritisiert. Doch die Parteiführer bemerkten schnell, dass eine EU-Integration die bessere Lösung für die Ukraine wäre als Putins Projekt der Eurasischen Union. Die „Swoboda“ erkannte die pro-europäische Einstellung der Wähler, bemerkte, welch mächtige Plattform der Selbstpräsentation der Maidan werden konnte. Der Haken war nur, dass die Unterstützung für die Partei trotz all dieser Veränderungen bereits vor den Ereignissen auf dem Maidan zwei Mal sank und im November nur noch auf 5 Prozent geschätzt wurde. Zur Zeit hält sie sich auf diesem Niveau. Die „Swoboda“ versuchte, durch aktive Oppositionstätigkeit, Beteiligung an Kämpfen mit der Berkut usw. gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Zugleich sahen aber gerade auf dem Maidan viele Menschen, dass ihre Aktivitäten etwas zu radikal sind, die Gesellschaft zu sehr polarisieren. Es wurden auch Gerüchte über eine Manipulation der „Swoboda“ vonseiten des Kreml laut. Auch die Aktivitäten der Partei auf dem Euromaidan, das ist im Grunde der Schwanengesang dieser Formation.

Wollen Sie damit das Ende der „Swoboda“ vorhersagen?

Janukowitschs Fall bedeutete für diese Gruppierung den Verlust der wichtigsten Quelle für die negative Wählermobilisation. Dazu kommt, dass die ukrainische Gesellschaft, nachdem sie – im wortwörtlichen Sinne – durch Feuer und Wasser gegangen ist, trotz der blau-gelben Farbe der Revolution eher bürgerlich-republikanische als ausschließend-ethnische Züge aufweist. Und es gibt noch andere Gründe. Einer der Ersten, die auf dem Maidan umkamen, war ein Mann georgischer Herkunft. Später starben außer Ukrainern auch Armenier, Weißrussen, Russen, auf dem Maidan protestierten auch Krimtataren. Viele Ukrainer sehen jetzt, dass die ausschließende Rhetorik des ethnischen Nationalismus nicht förderlich ist und der Ukraine im Ganzen schadet. Es gibt das Bedürfnis nach einer anderen Sprache, die zu der uneinheitlichen Gruppe der über hundert Personen passt, die auf dem Maidan umkamen. Diese „himmlische Hundertschaft“ wird heute zu einem neuen Mythos – einem Mythos, der sich auf die jüngsten Ereignisse bezieht und um Vieles inklusiver ist als die Rhetorik, die die „Swoboda“ heute bieten kann.

Special Reports / Zynischer Nationalismus

Nationalismus: ein Dietrich für jede Tür?

Łukasz Jasina · 13 May 2014
Die Furcht vor dem ukrainischen Nationalismus und dem russischen Imperialismus ist historisch begründet. Aber wie in jeder Angst spiegeln sich auch in dieser Komplexe, Einbildungen und lediglich teilweise begründete Beweise für einen Verlust an Sicherheit.

Die zweite ukrainische Revolution und die Errungenschaften des Euromaidan hatten die Chance, den Topos des Ostens als barbarischer Orient, als Wiege der Bedrohung für das Bollwerk des christlichen Europas aufzulösen. Auf dem Maidan wurde geradezu eine Bürgergesellschaft zusammengeschweißt, der Diktator zu Fall gebracht – die Morgenröte der Demokratisierung leuchtete am Himmelsgewölbe. Die tragischen Begebenheiten der letzten Wochen, insbesondere die geopolitische Destabilisierung der Ukraine als Folge der russischen Aggression, lassen die Perspektive eines friedlichen Nebeneinanders der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas in weite Ferne rücken.

Phantasie der Massen entzündet

Die Europäer haben mit nationalistischer Ideologie ein ernstes Problem. In einer Reihe von Ländern koexistieren Nation und Gesellschaft bereits jahrzehntelang in einem ständigen Spannungsverhältnis, ist die Erinnerung an die Grauen des Totalitarismus noch lebendig. Seit einigen Wochen entzündet sich die Phantasie der Massen wie in der Zeit nach dem Kalten Krieg wieder an der Vision eines Zusammenstoßes der „Imperien des Guten und des Bösen“. Das gemeinsame Auftreten dreier Diskurse – des nationalistischen, des totalitären und des imperialen – ist gefährlich. Es erschwert die objektive Beurteilung des politischen Wandels, verringert die gesellschaftliche Sensibilität und schafft eine künstliche kulturelle Distanz zwischen Russen, Ukrainern und dem restlichen Europa.

Der Vergleich von prorussischen paramilitärischen Einheiten mit Politikern, die vor der Europawahl um Stimmen kämpfen, ist eine Verdrehung der Wirklichkeit nach Moskauer Art

Łukasz Jasina

Die Geschichte der ukrainischen Krise als außergewöhnlich, verrückt, anarchisch zu erzählen ist sinnlos und zeugt nur von Eurozentrismus. Es ist schließlich schwer, Wladimir Putins Entscheidungen die Schlüssigkeit abzusprechen. Bei seinem Agieren in der Ukraine zog er bewusst nationale und imperiale Register, schürte die Sprache des Hasses, im vollen Bewusstsein, dass Brüssel Schwierigkeiten mit dem Verständnis der spezifischen Kreml-Diplomatie haben würde. Und dass die EU-Herrscher nicht wirksam würden reagieren können.

Vielen Analytikern ist eine recht entscheidende Tatsache entgangen. Der Anstieg der Bedeutung radikaler Gruppierungen in Westeuropa verläuft, trotz allem, innerhalb der demokratischen Regeln eines Rechtsstaates. Prorussische paramilitärische Einheiten, die ukrainische Ämter besetzen, mit Politikern zu vergleichen, die vor der Europawahl um Stimmen kämpfen, ist ein katastrophaler Fehler, eine Verdrehung der Wirklichkeit nach Moskauer Art.

Können die Erfolge der Nationalisten, das Erstarken radikaler Gruppierungen in Westeuropa somit irgendeinen Hinweis zum Verständnis des politischen Wandels in der Ukraine geben? Reicht die Konzentration auf das nationale Element für eine Diagnose zu den Ereignissen von Sewastopol und Donezk?

Politisches Labor in Kiew

Die unabhängige Ukraine konstruierte nach 1991 ihre Identität nicht auf der Grundlage einer nationalistischen Ideologie. Der Gründungsmythos des neuen Staates stützte sich auf die Vermischung fremder, postsowjetischer und im Kern patriotischer Modelle. Auf den Hauptplätzen der Städte (mit Ausnahme von Galizien und Wolhynien) standen weiterhin Denkmäler von Lenin und der Roten Armee. Die weiß-blaue Flagge, der Trisub oder der – von vielen Polen mit der UPA assoziierte – Ausruf „Ruhm der Ukraine!” fungierten als dekoratives Element, als eine auf der Achtung vor der Tradition basierende Verzierung. Bei der Wahl ihrer Staatssymbole dachten die Ukrainer nicht an Feinde des Staates, sondern an historische, gesellschaftlich wiedererkennbare und akzeptable Werte.

Putin ist den ukrainischen Nationalisten zur Hilfe gekommen. Sie erhielten eine hervorragende Gelegenheit, Scharen von Anhängern zu gewinnen. Sie machten sich das Konzept des Feindes zu eigen, und den russischen Präsidenten zu ihrem Feind

Łukasz Jasina

Sicherlich, der Nationalismus war in der Ukraine stets gegenwärtig – allerdings grundsätzlich nur im Westen des Landes. Nationalistische Ansichten verkündeten auch die Vertreter der ukrainischen Diaspora in Kanada und den Vereinigten Staaten. Die Parlamentswahlen zeigten jedoch immer wieder, dass die Stimmen der Nationalisten die Gesellschaft nicht überzeugten. Keine der extremen Parteien erreichte je einen bedeutenden Platz im Höchsten Rat der Ukraine. Dieser Erfolg kam erst Oleh Tjahnyboks „Swoboda“ zu – notwendig war dafür allerdings ein entscheidendes Image-„Lifting“ der Gruppierung, eine Änderung des Tonfalls ihrer Äußerungen, besonders zum Thema ukrainisch-polnische Beziehungen. Die Revolutionszeit war reich an Extremen aller Art, aber außer „Prawyj Sektor“ (Rechter Sektor) ist keine dieser Erscheinungen breiter bekannt. Der „Prawyj Sektor“ selbst ist eine verdächtige Organisation: Nach einer Erklärung verlangen zumindest seine Anfänge, Finanzierungsquellen und Verbindungen zu Russland. Dennoch ist er schwerlich als „leibhaftiges Böses“ zu bezeichnen, wie es die Kreml-Propaganda gern hätte. Warum?

Die ukrainischen Nationalisten haben – im Gegensatz zu ähnlichen Gruppierungen aus Westeuropa, wie beispielsweise die Partei der Wahren Finnen oder die französische Front National – nie eine Widerstandsbewegung gegen reife Demokratien gebildet. Ihr Diskurs war schlimmstenfalls vernebelnd. Es gelang ihm zwar, viele Maidan-Teilnehmer vorübergehend zu verführen. Das war jedoch kein Beweis für eine dauerhafte Entwicklung der politischen Einstellung der ganzen Gesellschaft, sondern zeugte eher vom Außergewöhnlichen der Revolutionserfahrung, davon, wie das politische Labor in Kiew die Menschen zur Suche nach einer neuen Identität inspirierte. In dieser Hinsicht ist Putin den ukrainischen Nationalisten – möglicherweise unbewusst – zur Hilfe gekommen. Die Nationalisten erhielten eine hervorragende Gelegenheit, Scharen von Anhängern zu gewinnen. Sie machten sich das Konzept des Feindes zu eigen, und den russischen Präsidenten zu ihrem Feind.

Ebendieses Phänomen, das auf der Entzweiung von Russen und Ukrainern beruht, kann zum wahren Nährboden für extreme und nationale Bewegungen werden. Die Rhetorik der imperialen Nationalität, derer Putin sich hervorragend bedient, weckt die Geister der  ukrainischen Vergangenheit – nationalistische, stellenweise ethnische und sogar totalitäre Diskurse.

Mitarbeit: Błażej Popławski

Special Reports / Zynischer Nationalismus

Große Polarisierung

Manfred Sapper · 13 May 2014
Die Ukraine-Krise hat die schärfste öffentliche Polarisierung in Deutschland seit dem Jugoslawienkrieg ausgelöst. Die eine Seite diffamiert den Maidan als Werk von Nationalisten, Neonazis, Russophoben, Bandera-Anhängern und Antisemiten, die andere unterstreicht den Kampf für Menschenrechte. Leider wissen die Deutschen als Gesellschaft fast nichts über die Ukraine.

In Deutschland ist das Wissen über die Ukraine gering. Die Ukraine rückte erst mit der Orangen Revolution 2004/2005 ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit. Damals war es der Schriftsteller Juri Andruchowytsch, der mit seinem Buch „Das letzte Territorium” der deutschen Öffentlichkeit die Augen öffnete. Doch bis heute ist das deutsche Ukraine-Bild von Ahnungslosigkeit und Zerrbildern geprägt. Dafür sind Defizite in Bildung und Medien verantwortlich. An den deutschen Universitäten gibt es 60 Professuren für osteuropäische Geschichte. Eine widmet sich unter anderem der ukrainischen Geschichte! Wenn es um ostmitteleuropäische Geschichte geht, steht Polen im Vordergrund. Als historiographischer Gegenstand befindet sich die Ukraine im Abseits. Dasselbe Bild bietet sich in der Slavistik. Ukrainische Sprache, Literatur und Kultur finden in Deutschland praktisch nicht statt! Ähnlich ist die Lage in den Medien. Das öffentlich-rechtliche Radio und Fernsehen, die führenden Printmedien wie Der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Süddeutsche Zeitung haben Korrespondenten in Moskau und Warschau, aber keinen in Kiew.

Die prorussische Haltung eines Teils der deutschen Öffentlichkeit ist eine Mischung aus wirtschaftlichen Partikularinteressen, einem wachsenden Relativismus sowie einem verbreiteten Antiamerikanismus

Manfred Sapper

Die Ukraine-Krise hat die schärfste öffentliche Polarisierung in Deutschland seit dem Jugoslawienkrieg ausgelöst. Auf der einen Seite steht eine eigentümliche „Unheilige Allianz” aus Wirtschaftsvertretern, alten Sozialdemokraten wie dem Ex-Kanzler Helmut Schmidt oder dem SPD-Vordenker Erhard Eppler sowie der Partei „Die Linke”, die den Umsturz in der Ukraine als Werk von „Nationalisten, Neonazis, Russophoben, Bandera-Anhänger und Antisemiten” diffamieren, die EU, die Nato und „den Westen” für die Ukraine-Krise verantwortlich machen und vor allem Verständnis für Russland verlangen. Eine Menschenrechtspartei wie Bündnis 90/Die Grünen, Teile der CDU sowie das Gros der Medien verstehen den Maidan dagegen als Fortsetzung der Revolutionen von 1989. Sie unterstreichen, dass die Ukrainer auf dem Maidan für ein Leben in Würde, Gleichheit und Selbstverantwortung, für bürgerliche Freiheiten, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit und gegen ein autoritäres, korruptes und kriminelles Regime gekämpft haben.

Die Diffamierung der Maidan-Proteste als rechtsradikal und antisemitisch spiegelt in einem erstaunlichen Maße die russischen Propaganda. Dass in Russland rechtsextremes Denken hoffähig geworden ist, rechtsradikale Vordenker wie Aleksandr Dugin, Sergej Kurginjan und Aleksandr Prochanov und offene Antisemiten wie Dmitrij Kisselov die öffentliche Debatte bestimmen und Putin ein autoritäres Regime konsolidiert hat, spielt für Lobbyorganisationen wie den Ostausschuss der Deutschen Wirtschaft, das Deutsch-Russische Forum oder Die Linke keine Rolle. Die prorussische Haltung eines Teils der deutschen Öffentlichkeit ist eine Mischung aus der zynischen Verfolgung wirtschaftlicher Partikularinteressen, einem wachsenden Relativismus gegenüber der Geltung bürgerlicher Freiheitsrechte sowie aus einem verbreiteten Antiamerikanismus, der durch Praktiken wie die illegalen weltweiten NSA-Abhöraktivitäten neue Nahrung bekam.

Herrschaft eines unerklärten Krieges

Mit der Annexion der Krim durch Russland und der gewaltsamen Destabilisierung der Ostukraine hat sich die öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland von der Ukraine auf Russland verlagert. Nun stehen wieder Fragen wie „Was sind die russischen Interessen?” oder „Was treibt Putin”? im Zentrum des Interesses. Wo ein „unerklärter Krieg” herrscht, ist für die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Probleme der Ukraine in den Medien kein Platz.

In seiner Fixierung auf die Großmacht Russland und seinem Unverständnis für die ukrainische National- und Freiheitsbewegung reproduziert Helmut Schmidt die Ignoranz, die er bereits gegenüber der Solidarność zeigte

Manfred Sapper

Gleichzeitig zwingt der Anschluss der Krim an Russland sowie die Destabilisierung der Ostukraine die Große Koalition in Deutschland, ihre Russlandpolitik und damit auch ihre Osteuropapolitik zu überprüfen. Das gilt selbst für die Sozialdemokraten. In der Tradition der Ostpolitik von Willy Brandt stehend, waren sie neben der deutschen Wirtschaft die treibende politische Kraft, die sich für eine „strategische Partnerschaft” mit Russland, eine „Modernisierungspartnerschaft” und die Politik eines „Wandels durch Verflechtung” eingesetzt hatten. Dabei ignorierten sie innenpolitische Entwicklung in Russland seit Putins Amtsantritt 1999 weitgehend, der von Beginn an den Kurs hin zu weniger Demokratie, weniger Freiheit, weniger Rechtsstaatlichkeit einschlug. Heute müssen selbst die entschiedensten Verfechter der deutsch-russischen Annäherung wie etwa Außenminister Frank-Walter Steinmeier einräumen, dass diese Ansätze gescheitert sind. Die politische Elite des Putin-Regimes hat weder ein Interesse an Modernisierung, noch an Verflechtung mit Europa, geschweige denn an Demokratisierung. Denn all das würde ihre Machtbasis bedrohen. Insofern stellt das Jahr 2014 eine Zäsur dar!

Allerdings herrscht darüber unter den Sozialdemokraten und in der deutschen Öffentlichkeit keineswegs Konsens. Führende Sozialdemokraten von gestern wie Ex-Kanzler Helmut Schmidt verlangen Verständnis für die Sicherheits- und Stabilitätsinteressen Russlands und bezweifeln gar – im offenen Widerspruch zur ukrainischen Nationsbildung des 19. Jahrhunderts – die Existenz einer ukrainischen Nation. In seiner Fixierung auf die vermeintliche Großmacht Russland und seinem völligen Unverständnis für die ukrainische National- und Freiheitsbewegung reproduziert er die Ignoranz, die er bereits gegenüber der Solidarność zeigte, als er den Dialog mit Moskau der Solidarität mit der polnischen Arbeiter- und Freiheitsbewegung vorzog. Schmidts Position löst unter deutschen Intellektuellen nur noch Kopfschütteln aus. Doch daraus erwächst noch keine neue Russland- oder Osteuropa-Politik. Das Nachdenken, wie diese aussehen soll, hat gerade erst begonnen.

Special Reports / Wladimir Putin – Herr des Ringes

Wladimir Putin – Herr des Ringes

Kultura Liberalna · 1 April 2014

Sehr geehrte Damen und Herren,

Die Angst um die eigene Zukunft ist nach Osteuropa, in die baltischen Staaten und sogar nach Skandinavien zurückgekehrt. Kein Wunder, dass nach Russlands Annexion der Krim sich Experten und Politiker nicht nur über dieser Situation angemessene Sanktionen und Sicherheitsmaßnahmen den Kopf zerbrechen. Sie versuchen auch, die passende Sprache für diesen Vorfall zu finden. Historische Analogien gibt es viele, am stärksten aber sind heute die Stimmen zu vernehmen, die an die Zeit des Kalten Krieges erinnern, als sich der Begriff „internationale Sicherheit“ änderte. Ludwig von Mises, der Klassiker des Liberalismus, schrieb einst: „Derzeit sind die am weitesten verbreiteten Chimären Stabilität und Sicherheit.“ Diese Aussage gibt, obwohl sie mehrere Jahrzehnte alt ist, ausgezeichnet die Evolution des Verständnisses von geopolitischer Stabilität wieder. Plötzlich sind diese „Chimären“ in unsere Welt zurückgekehrt – in der griechischen Mythologie sind das menschenfressende Monster mit Löwenköpfen, Ziegenkörpern und Schlangenschwänzen. Heute haben sie sich in den Köpfen von Politikern eingenistet, die bereit sind, einen anderen Staat zu überfallen, seine territoriale Integrität und das internationale Recht zu verletzen.

Putins Strategie bezüglich der Krim macht nicht den Eindruck, der Plan eines Wahnsinnigen zu sein, wie es sich ein Teil der Journalisten wünschen würde. Das ist ein Plan, dessen Erfolg nicht nur die Niederlage der Ukraine, sondern auch die Niederlage von uns Europäern zur Folge hat. Russlands Präsident ist sich durchaus darüber im Klaren, dass der Begriff „Krimkrieg“ für Historiker für das 19. Jahrhundert reserviert ist. Der damalige Konflikt hatte zur Rekonfiguration der globalen Ordnung geführt und Veränderungen innerhalb Russlands eingeleitet, unter anderem die Aufhebung der Leibeigenschaft von Bauern. Heute wird ein ähnliches Szenario – basierend auf dem Wachstum der politischen Solidarität zwischen dem Westen und der Demokratisierung des gedemütigten Russlands – immer unrealer.

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Special Reports / Wladimir Putin – Herr des Ringes

Der Herr des Ringes

Michał Jędrzejek im Gespräch mit Professor Andrzej Nowak · 1 April 2014
„Dem russischen Präsidenten geht es nicht allein um den Wiederaufbau der Macht im Gebiet der ehemaligen UdSSR. Das strategische Ziel ist ein anderes, tieferes – es ist die Unterordnung ganz Europas”, sagt der Historiker.

Michał Jędrzejek: Wer ist Ihrer Ansicht nach Władimir Putin?

Andrzej Nowak: Ich möchte mich hier auf ein bestimmtes Zitat berufen. 2006 wurde der israelische Präsident Mosche Katzav wegen sexueller Belästigung und Vergewaltigung von zehn Frauen angeklagt. Wladimir Putin, der damals den israelischen Ministerpräsidenten bei sich zu Gast hatte, quittierte die ganze Sache mit den folgenden Worten: „Bitte grüßen Sie Ihren Präsidenten – er hat sich als starker Kerl erwiesen. Zehn Frauen hat er vergewaltigt! Das hätte ich ihm nie zugetraut, er hat uns alle verblüfft. Wir beneiden ihn!”

Widerlich. Warum erzählen Sie mir diese Geschichte?

Das ist einer der interpretatorischen Schlüssel zur Figur des russischen Präsidenten. Wladimir Putin strebt danach, vergewaltigen zu können – in verschiedenen Lebensbereichen. Er will das tun, wozu er gerade Lust hat; er will ein Übermensch sein. Und mehr noch, er hat seinen Ring des Gyges – einen mythischen Ring, der seinem Besitzer volle Straffreiheit verleiht. Über diesen Ring schreibt Platon in „Der Staat”. Der Ring des Gyges ist in diesem Fall seine Stärke. Sie erlaubt es Putin, zu sagen und zu tun, was er nur will. Schließlich reagiert ohnehin keiner. Es ist ein großes Vergnügen, so vorgehen zu können. 

Vergnügen?

Natürlich. Putin ist ein Mensch, der die niedersten Gelüste, wie sie in uns allen schlummern, einfach ausdrückt. Man kann so tun, als wäre man frei von schlechten Tendenzen, aber das ist Hypokrisie. Wladimir Putin will seine ausländischen Partner verleiten, will, dass auch sie einer Vision des Menschen und der internationalen Beziehungen erliegen, in denen die Stärke über alles entscheidet. In Putins Welt hat der Schwache nichts zu sagen.

War Putin schon immer so? Cornelius Ochmann hat im Interview mit der „Kultura Liberalna” betont, der Präsident habe sich früher mit unterschiedlichen Experten umgeben, die westlichen Medien verfolgt. Erst seit einiger Zeit begleiteten ihn nur die Militärs…

Die Einschätzung, Putin hätte sich gewandelt, ist meiner Meinung nach eine Illusion liberaler Kommentatoren, die ihre vor Jahren gefällten falschen Diagnosen verteidigen wollen. Diagnosen, in denen sie die Hoffnung auf eine rasche Liberalisierung Russlands ausdrückten. 

Ich erinnere mich nicht an viele derartige Diagnosen. 

Ich nenne Ihnen ein Beispiel. Am 1. September 2009 publizierte Radosław Sikorski in der „Gazeta Wyborcza” einen Artikel, in dem es hieß, Russland sei noch nie so demokratisch und den menschenrechtlichen Idealen so nah gewesen wie heute. Zu derselben Zeit ging der Jurist Sergei Magnitski, der Fälle von Veruntreuung in den russischen Finanzbehörden aufgedeckt hatte, in russischen Kerkern gefoltert seinen letzten Lebenstagen entgegen.

 

Putin ist ein Mensch, der die niedersten Gelüste, wie sie in uns allen schlummern, einfach ausdrückt. Er will seine ausländischen Partner verleiten, will, dass auch sie einer Vision des Menschen und der internationalen Beziehungen erliegen, in denen die Stärke über alles entscheidet.

Andrzej Nowak

Sikorskis Artikel war ein Versuch, das Stereotyp von Polen als antirussischem Land zu überwinden, und diese Strategie ist heute die Grundlage für unsere Glaubwürdigkeit in der internationalen Arena. In der Diplomatie sollte man nicht ausschließlich auf Konfrontationskurs gehen. 

Mit dem Bösen kann man entweder einen Kompromiss eingehen oder auf Konfrontationskurs gehen. Ich habe keine Zweifel, was hier die richtige Wahl ist. Menschen wie Cornelius Ochmann oder die Journalisten der „Gazeta Wyborcza” waren jedoch zu der Ansicht gelangt, es gebe keinen Grund zur Beunruhigung. Da haben wir die Kraft des Rings des Gyges, den Wladimir Putin sich über den Finger gestreift hat.

Das halte ich für eine ungerechte Beurteilung. Die liberalen Analytiker haben oft die Einhaltung der Menschenrechte in Russland angemahnt, und die polnischen und westeuropäischen Medien haben viele Male über die Fälle Chodorkowski, Politkowskaja oder Pussy Riot geschrieben.

Bei den EU-Russland-Gipfeln wurde es aber vermieden, Themen wie Menschenrechte und freie Medien anzuschneiden. Und die Medien? Lassen Sie uns die Proportionen gerecht beurteilen. Als Wladimir Putin im September 2009 Polen besuchte, wurden auf den ersten Seiten der Zeitungen Lobeshymnen auf den liberalen russischen Staatschef gesungen, und nur auf den letzten gab es kurze Mitteilungen über die Festnahme eines Geschichtsprofessors aus Archangelsk, der die Geschichte des Gulags untersuchte. Unerwähnt blieb, dass die russische Armee in dem Moment für einen taktischen Atomangriff auf Warschau übte. Niemand schrieb damals über Magnitski. Gewiss, es gab Informationen über den Pussy-Riot-Prozess, aber hierbei wurde vor allem die Schuld der Kirche und nicht Putins selbst hervorgehoben. Zugleich überbot man einander in Entzückensbekundungen über die polnische Kirche wegen deren Verständigung mit der russisch-orthodoxen Kirche, die schließlich vom Kreml beaufsichtigt wird. Das war übrigens der einzige Titel zur Verteidigung von Erzbischof Józef Michalik in den Augen der liberalen Presse.  

Ihrer Ansicht nach war also die Verständigung mit der russisch-orthodoxen Kirche ein Fehler?

Auf metaphysischer Ebene – nein. Vielleicht wird diese prophetische Geste der interkonfessionellen Versöhnung ja einmal von großer Bedeutung sein. Vom irdischen Gesichtspunkt her gibt es allerdings bei dieser Verständigung viele drastisch schlechte Elemente. 

Zum Beispiel?

Man nehme nur die Tatsache, dass die Frage der unierten Kirche – also der ukrainischen – völlig außer Acht gelassen wurde: Wir sollten uns nicht über die Köpfe der Ukrainer hinweg mit dem Patriarchen von Moskau verständigen. Die liberalen Medien haben die Kirche für die politische Agenda von Donald Tusk benutzt.

Aber es waren nicht die liberalen Medien, die diese Form des Dialogs der katholischen Kirche mit der russisch-orthodoxen Kirche vorgeschlagen haben. Kommen wir aber auf Putin zurück. Sie verwerfen die These von der erheblichen Entwicklung seiner Regierung. Warum?

Putin und die russischen Eliten, das ist unverändert die Welt der Geheimdienste. Prof. Stephen White aus Glasgow untersucht jedes Jahr die Biographien der tausend wichtigsten Personen im russischen Staat, der Funktionäre der bedeutendsten Ämter. Seit vielen Jahren stammen mindestens 20 Prozent dieser Leute (sogar 40 Prozent hat es schon gegeben!) aus den Reihen des KGB und des Militärgeheimdienstes GRU oder davon abgeleiteter Dienste. Noch nie und auch in keinem anderen Land waren die Geheimdienst-Mitarbeiter in diesem Maße an der Regierung beteiligt – nicht einmal in der Sowjetunion oder im Dritten Reich. Das ist ein beispielloses Phänomen in der Geschichte der Menschheit.   

Welche Bedeutung hat das?

Welche Bedeutung kann es wohl haben, dass Leute an der Macht sind, die beruflich auf Betrug und die physische Eliminierung ihrer Gegner geschult wurden? Charakteristisch ist die aufgezeichnete und in vielen Dokumentarfilmen verwendete Szene, dass Putin sich im Juni 2000 auf die Lubjanka begab und im Beisein einiger hundert ehemaliger KGB-Offiziere, damals schon Funktionäre des Inlandsgeheimdienstes FSB, vermeldete : „Genossen Offiziere – Auftrag erledigt. Wir haben die Macht übernommen.”

Wie wirkt sich die Anwesenheit der Geheimdienst-Mitarbeiter auf Putins Handeln aus?

Edward Lucas, ein Journalist von “The Economist”, versucht in seinem neuesten Buch die Spiele zu enträtseln, die in einer sehr engen Oligarchie gespielt werden – im Kreise der wenigen Personen, die Russland de facto regieren. Neben Putin gibt es dort auch andere frühere Funktionäre – die zu ebenso brutalen Vorgehensweisen fähig sind wie Putin, auch wenn sie immer noch schwächer sind als er. Putin weiß, dass die “Genossen Offiziere” gnadenlos jeden seiner Fehler ausnutzen. Ich denke, dass die Einnahme der Krim, die schließlich eine ungemeine Niederlage der russischen Politik ist, weil sie Russland der Ukraine entgegensetzt, von der Innenpolitik diktiert war. Die Manifestation der Stärke sollte – neben anderen Zielen – dem Präsidenten ein paar Punkte in dem Spiel verschaffen, das sich in seiner Umgebung abspielt.   

Putins Methoden sind Ihrer Meinung nach KGB-Methoden. Und was sind seine Ziele?

Ich denke, dem russischen Präsidenten geht es nicht allein – wie viele Kommentatoren meinen – um den Wiederaufbau der Macht im Gebiet der ehemaligen UdSSR. Es geht ihm nicht einmal um den historischen Einflussbereich, also den früheren Ostblock. Das strategische Ziel ist ein anderes, tieferes – es ist die Unterordnung ganz Europas. Das Ziel ist Europa als technisch-strategische Reserve, die Russland im Kampf um seinen Platz in der Welt des 21. Jahrhunderts nutzen will, wenn seine Hauptrivalen die Vereinigten Staaten und China sein werden. 

Russland unterwirft Europa? Das ist Science-Fiction.

Ich meine natürlich nicht die militärische Unterwerfung Europas, sondern die Situation, in der Russland sich politisch, nach Putin`schen Bedingungen, die europäische Wirtschaft unterordnet.

 

Im Juni 2000 begab Putin sich auf die Lubjanka und vermeldete im Beisein einiger hundert ehemaliger KGB-Offiziere: „Genossen Offiziere – Auftrag erledigt. Wir haben die Macht übernommen.”

Andrzej Nowak

Aber wenn wir die wirtschaftlichen Potenziale der EU und Russlands vergleichen, dann erweist Russland sich als Koloss auf tönernen Füßen. Es kann nicht realistisch an eine Unterwerfung der westlichen Länder denken.

Wenn Sie mit “Realismus” die komische Äußerung von Präsident Clinton meinen: „It’s the economy, stupid!”, dann haben Sie natürlich recht. Vom Gesichtspunkt der Logik Wladimir Putins aus – schon nicht mehr. Für ihn ist nicht die Wirtschaft das Wichtigste, sondern die Stärke. Die Wirtschaft ist ein Element der Stärke, aber nicht allein. Die Gaspipelines Nord Stream und South Stream, an denen eine ganze Reihe europäischer Firmen beteiligt ist, befördern schon russische Einflüsse nach Nord- und Südeuropa. Putins wichtigstes Machtelement ist aber die Bereitschaft zur Anwendung seiner Stärke. Europa hat keine Antwort auf sie. Die Intervention auf der Krim hat gezeigt, dass der russische Präsident Grenzen verändern darf und kann. Wir erwägen schließlich schon jetzt die Möglichkeit, er könnte ebenfalls Gebiete in NATO-Ländern – Litauen, Lettland oder Estland – einnehmen. Ganz zu schweigen von der immer noch gefährdeten West-Ukraine. Selbst die Vereinigten Staaten, die militärisch stärker sind als Russland, halten sich angesichts eines so starken Spielers mit Kraftanwendung zurück. Das Vorhaben, das ich aus Wladimir Wladimirowitsch Putins Handlungen herauslese, ist, weitere Partner mit seinen Drohungen einzuschüchtern. Die Deutschen haben eine vier Mal so starke Wirtschaft wie die Russen – wunderbar! Aber hat jetzt Russland Angst vor Deutschland oder fürchtet sich  Deutschland vor Russland?        

Sie zerstreuen meine Zweifel nicht. Gewiss, wir kennen Russlands energetische Stärke und seine Bereitschaft zum Einsatz militärischer Gewalt, aber gleichzeitig bemerken wir seine ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme. Die Zeit spielt Russland nicht in die Hände. Weicht Putin nicht durch Handlungen wie auf der Krim Russlands inneren Problemen aus?

Putin ist ein gut informierter, ganz und gar nicht realitätsferner Politiker. Er weiß, dass Russland wirtschaftlich nicht in der Lage ist, mit den mächtigsten Spielern der Welt zu rivalisieren, und dass das Land erst in der Synergie mit der europäischen Wirtschaft den Anforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sein wird.

Wladimir Putin hat sich für ein 600-Milliarden-Dollar-Programm zur Modernisierung der Armee entschieden, weil er die Möglichkeit haben will, Europa einzuschüchtern und zur Zusammenarbeit nach seinen eigenen Bedingungen zu zwingen. Und diese Bedingungen werden für die kleineren mittel- und osteuropäischen Länder, wie auch Polen, nicht sehr günstig sein. In der Art der Realitätssicht, zu der Wladimir Putin seine westeuropäischen Partner auffordert, zählen nur die Starken – die Schwachen haben keine Stimme. Moskau würde gern nur mit Berlin über das Schicksal der Ukraine, dann Moldawiens, und zum Schluss vielleicht auch Polens entscheiden.

 

Die Deutschen haben eine vier Mal so starke Wirtschaft wie die Russen – wunderbar! Aber hat jetzt Russland Angst vor Deutschland oder fürchtet sich  Deutschland vor Russland?

Andrzej Nowak

Demnach lebt die alte Angst der polnischen Rechten wieder auf. Droht uns Ihrer Ansicht nach das Schicksal eines deutsch-russischen Kondominiums? 

Der Angriff der Medien auf Jarosław Kaczyński wegen dieser Formulierung war grotesk, denn genau dieser Begriff „deutsch-russisches Kondominium“ tauchte bereits im Bericht des geschätzten amerikanischen „Centre for Strategic and International Studies“ auf, in dem u.a. Zbigniew Brzeziński und Henry Kissinger arbeiten. Natürlich ist das keine Bezeichnung für den aktuellen Zustand, sondern eine Charakteristik gewisser real existierender Bedrohungen. 

Aber vernehmen Sie denn im Westen keine Stimmen des Widerstands gegen Putins Handlungen?

Ich hoffe, dass es zu einem Moment des Durchbruchs in Europa kommt, zu einem Moment, in dem Putins wahres Gesicht entdeckt wird. Leider stehen die europäischen Politiker seinen Handlungen nach wie vor häufig übermäßig wohlwollend gegenüber – so wie Günter Verheugen, der ehemalige EU-Erweiterungskommissar, oder der ehemalige deutsche Kanzler Helmut Schmidt.   

Wie sollen wir also auf Putins Politik reagieren?

Erstens sollten wir für ein Europa appellieren, das nicht nur Raum geschäftlicher Interessen, sondern auch Wertegemeinschaft ist. In einem Raum der Geschäftsinteressen scheint eine Verständigung der Deutschen und Russen – über die Köpfe der kleinen Länder hinweg – nämlich nur logisch. Zweitens sollten wir bedenken, dass Wladimir Putin nicht gleich Russland ist. Wenn Putin weg ist, und er wird irgendwann weg sein, dann muss sein Nachfolger nicht zwingend jemand Ähnliches oder gar Schlimmeres sein. Wer dieser Jemand ist, wird von den Russen abhängen, aber ebenso von den Polen und dem ganzen Westen als Wertegemeinschaft. Was können wir tun? Wir müssen an der Wahrheit festhalten – das ist ein etwas altmodischer Begriff – zum Beispiel bei der Frage nach den Verbrechen des sowjetischen Systems, dem sowohl die Polen als auch und vor allem die Russen zum Opfer gefallen sind. Dann werden wir ein wichtiger Bezugspunkt für alle die sein, die in Russland leben und die wollen, dass ihr Land anders aussieht als bisher. Das können wir tun, und das ist das wirklich Wichtige.

Deutsch von Lisa Palmes

Special Reports / Wladimir Putin – Herr des Ringes

Der absolute Herrscher

Wojciech Engelking im Gespräch mit Wladislaw Inosemzew · 1 April 2014
„Demokratie und demokratischen Standards haben Putin mehrfach geschadet. Seine Niederlagen nimmt er persönlich – es überrascht daher nicht, dass er die Demokratie nicht mag“, sagt der russische Ökonom Wladislaw Inosemzew.

Wojciech Engelking: Viele westliche Publizisten und Kommentatoren pflegen Putins Politikstil mit der Regierungskunst der russischen Zaren, die ebenso allmächtige und unberechenbare Herrscher waren, zu vergleichen. Sind solche Vergleiche gerechtfertigt?

Wladislaw Inosemzew: Am Anfang seiner Karriere galt Putin als sehr europäischer Politiker. Es gibt jedoch zwei Dinge, die den Präsidenten Russlands von seinen europäischen Partnern unterscheiden. Erstens: die persönliche Erfahrung. Man stelle sich einen jungen Menschen vor, der den Großteil seines Erwachsenenlebens als Mitarbeiter des KGB in Ostdeutschland zugebracht und ein recht bequemes und beschauliches Leben geführt hat. Als dann plötzlich in der Sowjetunion demokratische Reformen eingeführt werden – und alles darauf hindeutet, dass das System zusammenbricht – erlebt seine Karriere einen Knick.

Aber Putins Ehrgeiz begrenzte sich nicht auf seine Agententätigkeit.

Ja, deshalb kehrte er nach Russland zurück und benutzte sein ganzes Talent, um das Vertrauen des damaligen Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak zu erlangen. Er wollte vor allem an öffentliche Gelder kommen, um so nach dem Umbruch gesellschaftlich aufzusteigen. Dank harter Arbeit – und möglicherweise nicht ganz legaler Methoden – erwarb er ein Vermögen und gewann an Einfluss. Bis 1996 war er zugleich Beamter und Geschäftsmann – eine in den neunziger Jahren in Russland nicht unübliche Kombination – sowie der Eigentümer eines beachtlichen Vermögens. 1996 verlor Sobtschak die Wahlen, und Putin war erneut ein Niemand. Er war nicht nur ein Niemand, auf ihm lastete zudem der Verdacht, in kriminelle Machenschaften im Zusammenhang mit früheren lukrativen Geschäften verwickelt gewesen zu sein.

Also beschloss er, nach Moskau zu gehen …

Sein Freund Alexej Kudrin, der spätere Finanzminister, riet ihm dazu. Putin begann seine Karriere wieder bei null – er wurde Chef der Präsidialkanzlei, Direktor des Inlandgeheimdienstes FSB, anschließend Ministerpräsident und schließlich Präsident. All das ist von essentieller Bedeutung, um diesen Menschen zu verstehen. Demokratie und demokratische Standards haben ihm mehrfach geschadet. Seine Niederlagen nimmt er persönlich – es überrascht daher nicht, dass er die Demokratie nicht mag. Das ist ein erster außerordentlich wichtiger Punkt. Der zweite ist noch einfacher zu verstehen. Putin ist mittlerweile seit 15 Jahren an der Macht. In dieser Zeit ist es der Wirtschaft recht gut gegangen, und der Lebensstandard des durchschnittlichen Russen hat sich merklich verbessert. Putin ist der Ansicht, dass dies allein sein Verdienst ist. Er überbewertet seine Erfolge und nimmt keine Rücksicht mehr auf die Meinung anderer. Er glaubt, es besser zu wissen. Ein solche Haltung passt sehr gut zum russischen Herrschaftssystem, das stark personalisiert ist. In Russland gibt es keine Politik, es gibt einflussreiche Personen, für die Putin der absolute Herrscher ist.

Anfang der neunziger Jahre prägte der amerikanische Journalist Fareed Zakaria den Begriff „gelenkte Demokratie“ (managed democracy), um politische Systeme zu beschreiben, in denen die Regierungen zwar durch freie und faire Wahlen legitimiert sind, im Grunde genommen aber keine politische Macht besitzen, da diese vom Staatsführer ausgeht. Ist das nicht auch das Modell, das Putin in den letzten fünfzehn Jahren entwickelt hat?

Ich kenne Zakarias Konzept gut, ich habe mehrere seiner Bücher ins Russische übersetzt. Zunächst einmal muss deutlich gesagt werden, dass das was er gelenkte Demokratie nennt, den Namen Demokratie nicht im Mindesten verdient. Zweitens ist diese Bezeichnung für Russland nicht ganz passend. Es stimmt einfach nicht, dass einzelne Institutionen der liberalen westlichen Demokratien in den postsowjetischen Staaten automatisch wie in Europa funktionieren, sobald man den Kapitalismus und den freien Markt einführt. Und falls der Kapitalismus die zentrale politische Bezugsgröße sein soll, darf auch nicht übersehen werden, dass Russland nicht gleich China ist. Nehmen wir beispielsweise die Oligarchen und ihre Geschäftsmethoden. Sie verdanken ihr Vermögen in großem Maße der Privatisierung und riesigen öffentlichen Aufträgen – wie zum Beispiel anlässlich der Ausrichtung der Olympischen Spiele in Sotschi. Ihre Geschäfte und ihr Vermögen sind abhängig vom Staat, und der Staat ist Wladimir Putin. Das von Zakaria beschriebene Modell hat die Position des russischen Präsidenten keineswegs geschwächt, sondern vielmehr gestärkt, da in diesem System die Magnaten noch abhängiger von Putins autoritärer Herrschaft sind.

Putin ist mittlerweile seit 15 Jahren an der Macht. In dieser Zeit ist es der Wirtschaft recht gut gegangen, und der Lebensstandard des durchschnittlichen Russen hat sich merklich verbessert. Putin ist der Ansicht, dass dies allein sein Verdienst ist.

Wladislaw Inosemzew

Putin wurde von den meisten westlichen Politikern stets als ein rationaler und kühl kalkulierender Autokrat wahrgenommen. Der Westen wusste, dass der russische Präsident kein demokratischer Staatsmann ist, aber man hielt ihn – mit Ausnahme von einigen wenigen Situationen – für einen geeigneten Geschäftspartner. Nach dem Ausbruch der Krise in der Ukraine hat Angela Merkel nach einem Gespräch mit Putin verlauten lassen, der russische Präsident lebe in seiner eigenen Welt. Die rationale Kommunikation ist unterbrochen.

Es gibt viele derartige Stimmen im Westen. Allerdings sei daran erinnert, dass Putin kein neuer Hitler ist. Trotz aller Spannungen macht er weiterhin mit dem Westen Geschäfte. Das ist eine alte russische Methode. Wissen Sie, selbst am 22. Juni 1941 wurden noch deutsche Schiffe in Hamburg mit russischem Gas beliefert. Für Putin, ähnlich wie für Stalin, sind Geschäfte nicht an eine konkrete Politik gebunden. Das mag „in den Augen des Westens“ irrational erscheinen, in Moskau wird Putin aber als durch und durch rationaler Politiker wahrgenommen, der den Grundsätzen der russischen Geopolitik des neunzehnten Jahrhunderts verhaftet ist.

Aber er weiß doch, dass seine Macht von den Öl- und Gaspreisen abhängt – und diese sinken.

Natürlich, aber das hat keinerlei Bedeutung für ihn. Obwohl Putin früher Geschäftsmann war, ist er in erster Linie ein Politiker und kein Wirtschaftsfachmann – in Wirtschaftsfragen ist er eher ein Laie. Er hält sich nicht für einen Ökonomen und hört auch nicht auf die Ratschläge von Ökonomen.

Putin hat – insbesondere in den letzten zwölf Monaten – den Westen häufig provoziert. Zwar hat er Chodorkowski freigelassen, zugleich aber Snowden Asyl gewährt – um seine moralische Überlegenheit Barack Obama gegenüber zu demonstrieren –, und er hat Gérard Depardieu die russische Staatsangehörigkeit zuerkannt – um François Hollande und die Europäische Union zu blamieren.

Ja das stimmt, trotzdem hat er damit in erster Linie seine Position in Russland gestärkt. Er kreiert für die eigene Bevölkerung ein Bild von Russland, das im Gegensatz zum kranken Europa steht. Er droht Schwulen und Lesben Strafen an, um zu zeigen, wie sehr dieses imaginierte Europa, in dem Homosexualität keinen Anstoß mehr erregt, verdorben ist, während Russland die traditionellen Werte hochhält. Sowohl seine Innen- wie auch seine Außenpolitik orientiert sich an den Zielen, die er in Russland verfolgt.

Wohin führt das Ganze? Im vorigen Jahr feierte Putin seinen sechzigsten Geburtstag, aber es gibt immer noch keinen Nachfolger. Dmitri Medwedew erwies sich als Fehlbesetzung. Heute heißt es, Alexej Kudrin, der Vorsitzende des Wirtschaftsrates beim Präsidenten der Russischen Föderation, könnte der nächste Ministerpräsident werden. Allerdings wissen wir immer noch nicht, ob Putin ihn für einen geeigneten Kandidaten hält.

Ich glaube nicht, dass das für Putin irgendein Problem darstellt. Er ist vielmehr davon überzeugt, dass er dieses Amt die nächsten zwanzig Jahre bekleiden wird und als absoluter „Quasi-Monarch“ seinen achtzigsten Geburtstag feiern wird. Es interessiert ihn herzlich wenig, was nach ihm kommt.

Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Sollte Europa sich vor den Zielen, die Putin verfolgt, fürchten?

Ich denke nicht. Zwar hasst Putin die Demokratie, trotzdem ist er ein kühl berechnender Politiker. Er wird – weder militärisch noch politisch – eine Expansion riskieren, die Nato- oder EU-Mitgliedsstaaten betrifft, wie zum Beispiel Polen oder die ehemalige Tschechoslowakei. Er kennt die Grenzen seiner im neunzehnten Jahrhundert wurzelnden Politik.

Präsident Putin ist davon überzeugt, dass er dieses Amt die nächsten zwanzig Jahre bekleiden wird und als absoluter „Quasi-Monarch“ seinen achtzigsten Geburtstag feiern wird. Es interessiert ihn herzlich wenig, was nach ihm kommt.

Wladislaw Inosemzew

Was sollte also der Westen tun?

Was hat der Westen denn in Sachen Ukraine und Krim getan?

Nicht viel.

Besorgnis äußern oder gar Russland aus der G8 ausschließen, davon lässt sich Wladimir Putin nicht beeindrucken. Wenn der Westen diese Politik weiterverfolgt, wird sich in Russland nichts ändern.

Was könnte er stattdessen tun?

In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft konnte Putin eine Annäherung an den Westen riskieren. Wie hat der Westen darauf reagiert? Er hat nichts unternommen. Es gab kein Angebot, Russland in die NATO oder die Europäische Union aufzunehmen. Warum? Das Argument des Westens war, Russland sei zu groß. Der wahre Grund ist jedoch ein anderer – für den Westen ist Russland kein europäisches Land. Will der Westen, dass Russland sich demokratisiert, dann sollte die Europäische Union Russland eine klare Beitrittsperspektive geben, mit dem Land ein Assoziierungsabkommen abschließen, es offiziell zum Beitrittskandidaten küren, ihm einen Teil des europäischen Rechts auferlegen – und anschließend, vielleicht zehn oder zwanzig Jahre lang über eine volle Mitgliedschaft verhandeln.

Deutsch von Andreas Volk

Special Reports / Wladimir Putin – Herr des Ringes

Nie ging es den Russen so gut

Mit Dmitri Trenin spricht Łukasz Pawłowski · 1 April 2014
Obwohl sich die russische Wirtschaft in den letzten Jahren in einem guten Tempo entwickelt und der durchschnittliche Lebensstandard gestiegen ist, ist das aktuelle wirtschaftliche und politische System nicht aufrecht zu erhalten. Russland muss eine Republik werden, sagt der berühmte russische Politologe.

In Ihrem allseits kommentierten Artikel „Welcome to Cold War II”, der in „Foreign Policy” veröffentlicht wurde, haben Sie geschrieben: „Die Entwicklungen in der Ukraine haben ein Vierteljahrhundert der Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen Russland und dem Westen seit Ende des Kalten Krieges endgültig abgeschlossen. Die Zeit nach dem Kalten Krieg könnte zur Zeit zwischen den Kalten Kriegen werden.“ Halten Sie diese Behauptung wenige Wochen, nachdem der Text veröffentlicht wurde, aufrecht?

Ja, und die Ereignisse der vergangenen vier Wochen haben weitere Informationen geliefert, die diese These untermauern. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Zeitabschnitt, in den wir nun eintreten, sehr an die Zeit des ersten Kalten Krieges erinnern wird. Dennoch hat sich der Schwerpunkt zwischen Zusammenarbeit und Rivalität in der internationalen Arena deutlich in Richtung Rivalität verschoben.

Sie sprechen von einen neuen Kalten Krieg, erwähnen aber eine Reihe von Kriterien, durch die dieser sich von dem ersten Kalten Krieg unterscheiden wird. Sie weisen darauf hin, dass Russland durch die Sanktionen des Westens gezwungen sein wird, in die Zusammenarbeit mit China zu intensivieren. In dieser Konstellation wird China der stärkere Partner sein. Sie betonen, dass im Gegensatz zur UdSSR-Zeit Moskau keine Ideologie mit globaler Reichweite präsentiert. Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen sei nicht der wichtigste globale Konflikt der kommenden Jahre. In welchem Sinne also soll der kommende Zeitabschnitt an den Kalten Krieg erinnern? Ist dieser Begriff nicht verwirrend?

Vielleicht. Ich bestehe nicht auf diesen Begriff. Ich bin jedoch der Meinung, dass der Hauptgedanke, den ich vermitteln wollte, weiterhin richtig ist: nach einer Zeit der Partnerschaft, die schrittweise immer schwieriger wurde, sind wir in einer neuen Zeit angekommen, in der unsere gegenseitigen Beziehungen von Rivalität dominiert sind. Russland wird immer aktiver versuchen, die globale Ordnung, die im großen Maße auf den Vereinigten Staaten aufgebaut ist, aufzubrechen. Seit dem Untergang der UdSSR hat die Regierung in Moskau nichts dergleichen getan. Das ist das zentrale Element, das mich dazu bringt, von dem Anbruch einer neuen Epoche zu sprechen.

Der Konkurrenzkampf wird sich verschärfen, und zwar in verschiedenen Bereichen, nicht nur in der Geopolitik. Eine ebenso wichtige Rolle werden wirtschaftliche Fragen spielen. Die Sanktionen, die Russland bereits auferlegt wurden, und die, die ihm in der Zukunft auferlegt werden, sind eine ernsthafte
Herausforderung für die russische Wirtschaft. Die Regierung in Moskau wird nicht nur eine Strategie zum Überleben entwickeln müssen, sondern auch für die Entwicklung der Wirtschaft, und das angesichts der starken Konkurrenz seitens der USA. Bisher ist es keinem Land gelungen, sich zu modernisieren und gleichzeitig ein feindseliges Verhältnis zu den Vereinigten Staaten zu haben.

 

Russland wird immer aktiver versuchen, die globale Ordnung, die im großen Maße auf den Vereinigten Staaten aufgebaut ist, aufzubrechen. Seit dem Untergang der UdSSR hat die Regierung in Moskau nichts dergleichen getan.

Dmitri Trenin

Der Konflikt in der Ukraine war der Funke, der diese Veränderungen in den internationalen Beziehungen ausgelöst hat. Aber war das, was in Kiew vor sich gegangen ist, tatsächlich der Grund für Russlands Vorgehen, oder lediglich ein Vorwand, hinter dem ganz andere Gründe stecken?

Ich glaube nicht, dass das ein Vorwand war. Im Zuge der Ereignisse in der Ukraine haben beide Seiten – sowohl Russland als auch der Westen – bestimmte Grenzen überschritten, die die gegnerische Seite festgelegt hatte. Der Westen hat aus Moskaus Sicht die Grenze überschritten, als er sich in der Innenpolitik der Ukraine deutlich für eine Seite engagiert hat. Russland hingegen hat sich in den Augen des Westens zu weit hervorgewagt, als es seine Armee auf die Krim geschickt hat.

Hat das Engagement des Westens die Antwort Moskaus provoziert? Manche Analytiker sind der Meinung, dass Russland vor dem Bankrott steht. Deren Ansicht nach sollte die Besatzung der Krim von dem schlechten Zustand der russischen Wirtschaft ablenken und gesellschaftliche Unterstützung für Präsident Putin bringen.

Meiner Meinung nach ist das eine falsche Erklärung. Russland steht nicht vor dem Bankrott. Gut, seine wirtschaftliche Entwicklung ist langsamer geworden, ist beinahe stagniert, aber die Währungsreserven sind noch immer beutend, und die Verschuldung verhältnismäßig gering. Die Annexion der Krim war keine „Flucht nach vorn“ vor ökonomischen Schwierigkeiten. Meiner Meinung nach hat Putin in den Ereignissen in Kiew tatsächlich eine Bedrohung für die Sicherheit Russlands gesehen. Aber durch dieses Vorgehen hat Russland begonnen, die geopolitische Ordnung nach dem Kalten Krieg aufzubrechen. Alle – Präsident Putin eingeschlossen – sind sich darüber im Klaren, dass das, was passiert ist, für Russland sehr riskant ist.

Diese riskante Veränderung sollte gestützt werden von einer starken und stabilen Wirtschaft. Unterdessen hören wir nicht erst seit heute, dass die russische Wirtschaft überholt und wenig innovativ ist und vor allem auf dem Export von Rohstoffen basiert.

Das stimmt. Das russische Wirtschaftsmodell hat keine Zukunft und muss geändert werden.

Sie schreiben, dass sich Russland schon in Richtung Fernen Osten wendet – in Richtung China, aber auch Japan und Korea. Diese Neuorientierung vollzieht sich jedoch nicht von einem Tag auf den anderen. Was kann Russland noch tun?

Das langfristige Ziel sollte eine Reformierung der Wirtschaft sein, die sie unabhängig macht vom Erdgas- und Erdölsektor. Russland muss seinen Industriesektor entwickeln und wieder zu produzieren beginnen. Unerlässlich ist die Förderung des Wissenschaftssektors und der kleinen und mittleren Unternehmen, die sich heute aufgrund von monopolistischen Praktiken der größten Betriebe nicht entwickeln können. Ich bezweifle nicht, dass das Wirtschaftsmodell, das seit dem Untergang der UdSSR in Russland herrscht, geändert werden muss. Oft ist für die Auslösung so grundsätzlicher Veränderungen eine gewaltige Erschütterung notwendig. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Ereignisse in der Ukraine diese gewaltige Erschütterung sein werden.

Bildet das aktuelle Wirtschaftsmodell nicht die Grundlagen für das politische Modell, das von Präsident Putin geschaffen wurde? Ist eine radikale Umstellung der russischen Wirtschaft überhaupt möglich?

Man sagt, dass man das Richtige tut, wenn man keinen anderen Ausweg mehr hat. Ich hab den Eindruck, dass Russland in eine Lage geraten ist, in der es keine anderen Alternativen als Reformen gibt. Bisher hat sich die russische Wirtschaft in einem guten Tempo entwickelt und der durchschnittliche Lebensstandard ist gestiegen. Das BIP per capita gemessen in Kaufkraftparität in Russland hat bereits 70 Prozent des Durchschnittes in der Europäischen Union erreicht. Das ist außergewöhnlich! Nie ging es den Russen so gut wie derzeit, aber das bisherige Entwicklungsmodell ist nicht aufrecht zu erhalten. Europa wird nach Diversifikation der Lieferungen streben und seine Abhängigkeit von Russland wird sich verringern.

Sind Sie der Meinung, dass die wirtschaftlichen Veränderungen, von denen Sie sprechen, auch politische Konsequenzen haben werden?

Das russische System muss sich so ändern, dass die Menschen, die das Staatsvermögen erzeugen – ich denke an die Unternehmer und Investoren – mehr zu sagen haben hinsichtlich der Frage, wie der Staat verwaltet wird. Kein modernes Land im 21. Jahrhundert kann von einer einzigen Person verwaltet werden, in Russland aber ist es so – über alle wichtigen Fragen entscheidet Präsident Putin. Das hat natürlich gewisse Vorteile – die Entscheidungen fallen schneller, es kommt nicht zum Clinch zwischen verschiedenen Ebenen in den Behörden. Aber es hat auch gewaltige Nachteile. Das System muss sich von unten demokratisieren und gleichzeitig ganz oben mehr Pluralismus zulassen. Die wirtschaftlichen Eliten müssen mehr zu sagen haben und mehr Verantwortung übernehmen. Ein solches politisches System lässt sich mit einem Wort beschreiben: eine Republik.

Wenn ich Sie richtig verstehe, sind sie der Meinung, dass die Annexion der Krim, die für viele Analytiker eine Machtdemonstration von Präsident Putin war, auf längere Sicht zur Schwächung seiner Macht führen wird?

Alles verändert sich und wenn Putin keine Möglichkeit findet, ein stabileres politisches System zu schaffen, wird er nicht in der Lage sein, seine politischen Ziele zu erreichen, sprich er macht Russland nicht zu einem starken und modernen Staat.

 

Man sagt, dass man das Richtige tut, wenn man keinen anderen Ausweg mehr hat. Ich hab den Eindruck, dass Russland in eine Lage geraten ist, in der es keine anderen Alternativen als Reformen gibt.

Dmitri Trenin

Was passiert, wenn die Reformen, von denen Sie sprechen, nicht durchgeführt werden?

Das Risiko ist hoch. Wenn Russland sich in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nicht grundsätzlich reformiert, verliert es den Konkurrenzkampf gegen andere Länder, was in Folge zum Untergang des Staates und zu seinem Zerfall führen kann.

Im Westen wird Präsident Putin als mächtiger Politiker dargestellt, der sich sowohl in der politischen Elite als auch unter normalen Russen großer Beliebtheit erfreut. Stimmt dieses Bild? Hat Putin in Russland keine ernsthaften Gegner mehr?

Das Problem Russlands besteht darin, dass der gesamte Staat in hohem Maße von der Macht Putins und seiner Beliebtheit abhängt. Hier geht es nicht nur darum, dass Putin zu viel Macht hat, sondern dass, wenn ihm irgendetwas passiert, das gesamte System gefährdet ist.

Innerhalb der Elite sehe ich niemanden, der der Position des Präsidenten gefährlich werden könnte. Die Mehrheit der ihn umgebenden Leute sind keine Politiker, sondern Bürokraten – zuweilen recht geschickte, die jedoch keinerlei Unterstützung in der Bevölkerung haben. Putin hat schon immer gewusst, wie man enge Beziehungen zu den normalen Russen aufbaut.

Wenn die Fähigkeit, solide Unterstützung in der Bevölkerung zu finden, Putins größte Stärke ist – was ist dann seine größte Schwäche?

Ich sehe nicht viele persönliche Schwächen, aber ich nehme die Schwäche des Systems wahr, in dem die Position des Präsidenten einfach zu stark ist. Wenn er aus irgendwelchen Gründen der Fähigkeit beraubt wird, seinen Pflichten nachzukommen, ist die gesamte Ordnung gefährdet.

Sollte sich der Präsident einen Nachfolger suchen?

Eher das System ändern, indem er Institutionen schafft, die einen Teil der Macht und der Verantwortung übernehmen würden. Putins Nachfolger sollte kein neuer Medwedew sein, sondern eine starke russische Republik. Ob der Präsident seine Aufgabe so wahrnimmt, weiß ich nicht.

Vladislav Inozemtsev hat gesagt, dass Putin Russland in den kommenden zwei Jahrzehnten weiter so regieren will wie bisher, und dass es ihn wenig interessiert, was danach kommt.

Meiner Meinung nach ist Putin ein rationaler Mensch, der sich darüber im Klaren ist, dass er nicht ewig an der Macht sein wird. Ich denke, dass er eine bestimmte Vision für Russland hat und es ihm nicht gleichgültig ist, was mit diesem Land nach seinem Abgang passiert. Wenn das stimmt, wäre sowohl Putin als auch Russland in einer günstigeren Lage, wenn ein System von republikanischen Institutionen geschaffen würde, statt die „Zarenpräsidentschaft“ aufrecht zu erhalten.

Wird Russland eine Republik?

Irgendwann ja, denn die Russen sind keine besondere Menschengattung, die sich von anderen unterscheiden. Aber es kann ein bisschen länger dauern. Es ist nicht ausgeschlossen, das sich ein übermäßiger Optimist bin, wenn ich sage, dass Putin Russland in die Richtung reformieren wird, die ich hier erläutert habe. Vielleicht wird erst Putins Nachfolger dazu gezwungen sein, schon allein weil er nicht über so große Macht verfügen und sich nicht solcher Beliebtheit erfreuen wird. Das System der „Zarenpräsidentschaft“ wird letztendlich zu einer Herrschaft des Rechts. Leider kann das noch eine Weile dauern.

Vieles hängt davon ab, ob dieser neue Kalte Krieg, mit dem wir das Gespräch begonnen haben, nicht zu einem heißen Krieg wird.

Das hoffe ich nicht, obwohl die Situation in der Ukraine weiterhin unsicher ist und ein offener Konflikt nicht ausgeschlossen ist. Er kann verhindert werden, aber dafür müssen alle die Verantwortung übernehmen – die Russen, die Amerikaner und die Europäer, insbesondere die Polen und natürlich die Ukrainer selbst.

Deutsch von Antje Ritter-Jasińska

Special Reports / Wladimir Putin – Herr des Ringes

Jalta bekommt eine neue, düstere Bedeutung

Mit Roman Kuźniar spricht Karolina Wigura · 1 April 2014
Der Westen hat, statt sich seiner Kraft bewusst zu werden, vollstes Verständnis für die angeblichen Demütigungen Russlands. Deshalb nehmen wir in Kauf, dass es die politische Ordnung Europas verletzt. Und das ist nicht das erste Mal – so Roman Kuźniar, Berater des Präsidenten der Republik Polen.

Karolina Wigura: Sind Sie von Obamas Auftritt auf dem Gipfeltreffen in Den Haag enttäuscht?

Roman Kuźniar: Ich bin sowohl enttäuscht von dem, was Obama gesagt hat, als auch von dem recht grotesken Verlauf der Debatte über die Krimfrage. Der diplomatische Marathon – die Zusammenkunft des Europarates und der G7 sowie der EU-USA-Gipfel – hat kaum Ergebnisse gebracht. Man kann getrost sagen, dass der Berg kreißte und eine Maus gebar. Ich will nicht ausschließen, dass diese Maus mit der Zeit wächst und in den kommenden Monaten bedrohlich wird. Jedoch befürchte ich eher, dass uns diese Maus abmagert – die jetzige Einstellung des Westens in Bezug auf Russlands Vorgehen wird schwächer werden.

Was steckt eigentlich hinter der Rede von der „Einheit des Westens“? Man hat oft den Eindruck, je energischer die Erklärungen von Politikern sind, desto weniger haben sie tatsächlich zu bieten.

Das Manifestieren von Einheit ist zum Ersatz für politische Aktivität geworden. Die Länder im Westen haben ihre Strategie, auf Zeit zu spielen und Aktivität vorzutäuschen, zur Perfektion getrieben. Wenn die führenden Staaten durchsetzungsfähiger wären, wenn ihre Regierungen wirklich Druck auf Russland ausüben würden, könnte sich die Situation in der Ukraine anders entwickeln.

Im Mittelpunkt der deutschen Medienaufmerksamkeit stand heute ein Interview mit dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. „Russia Today“ hat aus diesem Interview eine dem Kreml angenehme Stelle zitiert, in der Schmidt die Sanktionen gegen Russland kritisiert. Diese Strategie sei ein gefährliches Instrument, das ebenso gut dem Westen wie auch Russland schaden kann. Außerdem kritisiert Schmidt die Entscheidung, Russland aus den G8 auszuschließen, und ruft zum Dialog mit dem Kreml auf.

Tja, diese Worte kann man als traurige Bestätigung des Niedergangs eines Politikers nehmen, der seine gute Zeit in der Geschichte Deutschlands hatte. Schmidts Argumente sind vollkommen von der Realität losgelöst. Russland nimmt den Dialog nicht auf, weil es gar nicht reden will. Russland erwartet vom Westen, dass dieser sein Vorgehen akzeptiert. Ein Potenzial für einen Dialog hat es vielleicht zu Beginn der Krise gegeben, aber es hat sich schnell erschöpft. Mich persönlich hat es gewundert, dass man, trotz der harten Politik des Kremls, so lange versucht hat, mit ihm zu reden. Die russische Entschlossenheit hat in dieser Sache keine Zweifel gelassen. Die Sanktionen hingegen – in diesem nicht ernst zu nehmendem Ausmaß – verringern lediglich die Glaubwürdigkeit des Westens in den Augen Moskaus. Putin hat die EU und die USA herausgefordert, er hat die Ordnung der Zeit nach dem Kalten Krieg, die Russland schließlich mit geschaffen hat, gänzlich aufgebrochen. Jalta auf der Krim hat heute eine neue, düstere Bedeutung bekommen.

Obamas Auftritt hat den Eindruck hinterlassen, er fürchte sich, sich zur Krim-Frage direkt zu äußern.

Er hat das Thema überhaupt nicht aufgegriffen. Die diskrete Warnung vor weiteren Sanktionen kann man ebenso gut als stillschweigende Akzeptanz des Status quo verstehen. Schauen wir uns einmal die Unwirklichkeit dieser Rhetorik an: Indem für den Fall, dass Russland seine Aggression ausweitet, mit schmerzhaften Sanktionen gedroht wird, wurde das aktuelle Kräfteverhältnis auf der Krim strenggenommen bereits akzeptiert. In Obamas Rede fehlte mir die Erwägung von indirekten Sanktionen. Ratingagenturen, Währungskurse und die Verringerung von Investitionen sind zu schwache Instrumente, um wirklich etwas zu bewirken. Man sollte Russland gegenüber Sanktionen wie einst gegen das Apartheid-Regime von Südafrika anwenden.

Das Manifestieren von Einheit ist zum Ersatz für politische Aktivität geworden. Die Länder im Westen haben ihre Strategie, auf Zeit zu spielen und Aktivität vorzutäuschen, zur Perfektion getrieben

Roman Kuźniar

Aber ist es überhaupt möglich, erfolgreich ökonomischen Druck auf jemanden auszuüben, von dessen Rohstoffen wir abhängig sind? Ich denke hierbei natürlich an den Erdgas-Bedarf der EU.

Mit Sicherheit sind Geschäftslogik, wirtschaftliche Interessen und die Aufrechterhaltung des Wohlstandes Gründe für die unentschlossene Reaktion der EU auf Putins Schritt. Der Indolenz in Brüssel liegt ein recht ärgerlicher „Erklärungsmechanismus“ für das Vorgehen Russlands zugrunde. Es wird mit Russlands Komplexen erklärt, die mit dem Untergang der UdSSR und seiner Suche nach Entschädigungen für die „Demütigungen“ zusammenhängen, die das russische Volk erfahren haben soll. Das ist völliger Blödsinn! Ich habe den Eindruck, dass dahinter zumeist die Angst nicht nur vor dem Verlust der Energiesicherheit der EU steckt, sondern einfach vor der Abwanderung der russischen Klientel, deren finanzielle Operationen über das „to be or not to be” der Londoner City entscheiden.

Vielleicht sollte man Russland nicht mit weiteren diplomatischen Sanktionen belegen, sondern ihm lieber die Durchführung von Finanzoperationen auf dem EU-Gebiet erschweren?

Darauf werden sich die Britten nie einlassen. Außerdem erzeugt jede Intervention – ob im Energiesektor oder im Finanzsektor – ernste Konsequenzen auf beiden Seiten. Die Russen können uns beispielweise mit dem Erdgas erpressen, dann stellt die EU unter Schmerzen und Schwierigkeiten ihr System zur Versorgung mit Energierohstoffen um, was auf längere Sicht die Position Russlands schwächt. Aber dabei sollte man kein Risiko eingehen.

Welche anderen Institutionen in den internationalen Beziehungen könnten erfolgreich Einfluss auf die Entscheidungen des Kremls bezüglich der Ukraine nehmen? Der Europarat?

Der Europarat wird traditionell eine prorussische Haltung einnehmen, weil Russland zu ihm gehört. Die Bedeutung dieser Institution wird nach und nach geringer. Heute tritt in Straßburg niemand mehr so entschlossen auf, wie vor 75 Jahren in Genf, als Russland aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde. Die politische Kultur hat sich zusammen mit dem Kräfteverhältnis in Europa verändert. Die meisten Vorwürfe kann man der OSZE machen, weil sie in Bezug auf Russlands Vorgehen die größten Kompetenzen hat. Sie hätte blitzartig auf diese Situation reagieren müssen, aber das hat sie nicht getan.

Die Sanktionen gegen Russland in diesem nicht ernst zu nehmendem Ausmaß verringern lediglich die Glaubwürdigkeit des Westens in den Augen Moskaus.

Roman Kuźniar

Ich habe den Eindruck, dass die politische Kultur des Westens, die sich – zumindest offiziell – auf den Menschen- und Bürgerrechten begründet, uns selbst in gewissem Maße verführt hat. Viele Politiker in Brüssel glauben an die Möglichkeit einer allgemeinen Akzeptanz politischer Wahrheiten. Sie denken naiv nach folgendem Schema: „Wenn jemand einen internationalen Vertrag gebrochen hat, hat er das vielleicht aus Versehen getan, ist über das Ziel hinausgeschossen, und jetzt genügt es, Einheit und Ruhe zu demonstrieren, und alles renkt sich wieder ein.“

In Straßburg und in Brüssel herrscht der optimistische Glaube an den osmotischen Effekt der europäischen Idee. Das heißt, dass diese Werte zu Russland durchsickern und es verändern werden. Die Entwicklung der Vorfälle an der EU-Grenze weist jedoch darauf hin, dass diese Diffusion begrenzt ist. Die Realpolitik in Russland läuft nach anderen, logisch schlüssigen Kriterien und Kalkulationen.

Leszek Kołakowski schrieb, dass die Kraft des Westens in dem Bewusstsein über seine eigenen Schwächen und der Fähigkeit, aus ihnen Konsequenzen zu ziehen, besteht. Putin hingegen weiß, mit unseren Schuldgefühlen hinsichtlich unserer eigenen Vergangenheit zu spielen.

Das stimmt. Obama hat in Den Haag gesagt, dass Russlands Verhalten nicht aus seiner Kraft herrührt, sondern aus seiner Schwäche. Schließlich ist heute der Westen in jeder Hinsicht stärker als Russland, ausgenommen vielleicht die Sphäre der Mentalität, ausgenommen die außerordentliche Geistigkeit und das Talent zur Mobilisierung angesichts einer äußeren Bedrohung. Beunruhigend finde ich, dass wir im Bewusstsein über unsere Kraft, aber auch über unsere Sünden der Vergangenheit und voller Verständnis für die Demütigungen Russlands in Kauf nehmen, dass es die politische Ordnung Europas verletzt. Das ist nicht das erste Mal. Wir haben Georgien und Tschetschenien vergessen, und bald werden wir an Transnistrien denken müssen. Leider bleibt die EU bezüglich der Sicherheit ein Gebilde, das schwerfällig, formlos und unfähig ist, sich eindeutig zu verhalten und politische Schachzüge von Subjekten außerhalb seiner selbst vorauszusehen.

Der Abneigung der EU gegen entschlossene Schritte kann die Angst vor der Abwanderung der russischen Klientel zugrunde liegen, deren finanzielle Operationen über das „to be or not to be” der Londoner City entscheiden.

Roman Kuźniar

Polen betreibt aufgrund seiner Zugehörigkeit zum euroatlantischen Bündnis seine Ostpolitik im Einvernehmen mit Brüssel und Berlin. Worin sollte, im Hinblick auf das, was Sie vorhin über die Sicherheitspolitik gesagt haben, unsere Priorität in den Beziehungen zur Ukraine und zu Russland bestehen? Was würden Sie dem polnischen Präsidenten raten?

Die Festigung der Sicherheit in der EU sollte verbunden sein mit der Erweiterung der Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der strukturellen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten. Gemeint sind hier Staaten wie Polen, Deutschland, Frankreich, Holland oder Spanien, die bereit sind, in diese Richtung zu gehen. Die unbeholfenen Versuche, in der gesamten EU Entschlossenheit aufzubauen, bringen hier nichts. Die EU ist innenpolitisch ein dermaßen differenzierter Organismus, dass eine Einheit aller 28 Staaten schwer zu erreichen ist. Die letzten Ereignisse in der Ukraine zeigen, dass die EU als Ganzes sich der Verantwortung für die Sicherheit in ihrem Umkreis nicht entziehen kann. Beispielhaft war Polen, das sich in der Ukraine-Krise aus einer europäischen Position heraus engagiert hat, womit es gleichzeitig seine Rolle als wertvoller Partner für Brüssel und Berlin gestärkt hat.

Deutsch von Antje Ritter-Jasińska

Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Kultura Liberalna · 25 February 2014

[русская версия]

[wersja polska]

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Putins Inferno“, so nannte „The Economist“ letzte Woche freiheraus das Massaker auf dem Euromaidan [1]. Die britische Wochenzeitung bezeichnete den Präsidenten Russlands als den „Architekten“ der tragischen Ereignisse in Kiew. Gleichzeitig schrieb die Weltpresse allen Ernstes von der „Demütigung“ der russischen Seele durch das simple Ausscheiden der Eishockey-Männermannschaft bei Olympia [2]. Da möchte man doch gleich Nikolai Gogol zitieren: „Russland, wohin fliegst du? Gib Antwort! Es gibt keine Antwort. Wunderbar klingen die Schellen; es dröhnt die in Stücke gerissene Luft und wird zu Wind; alles auf Erden fliegt vorbei, und alle anderen Völker und Staaten treten zur Seite und weichen ihr aus.“ [3]

Der Klassiker der russischen Literatur (der selbst aus der Ukraine stammte) verglich das Imperium mit einer „troika“, dem im unwegsamen Russland seinerzeit beliebten Dreispänner. Vor zweihundert Jahren konnte es in einer poetischen Vision so scheinen, als würde Russland vorwärtsfliegen. Heute bleibt die Richtung, die der Nachbar im Osten einschlägt, ein Rätsel.

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Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Sotschi existiert nicht

Karolina Wigura und Michał Jędrzejek im Gespräch mit Lilija Schewzowa · 25 February 2014
Sotschi ist nichts weiter als ein Potemkinsches Dorf, das vorgibt das achte Weltwunder zu sein. Währenddessen dauert die demographische Katastrophe der Überalterung Russlands an. Es ist ein Märchen für Kinder und naive Auslandskorrespondenten, versichert die Expertin der Moskauer Denkfabrik „Carnegie Endowment for International Peace“.

Karolina Wigura, Michał Jędrzejek: Was sagen die Olympischen Spiele über Putins Russland aus? Wladimir Putin reiste persönlich zur Sitzung des IOK nach Guatemala, um für die Ausrichtung der Olympischen Spiele am Fuße des Kaukasus zu werben.

Lilija Schewzowa: Putins verzweifelter Versuch, die Spiele nach Russland zu holen, ist nichts Ungewöhnliches. Genauso haben sich auch andere Staaten verhalten, angefangen von Großbritannien bis zu China. Die Staatsführer setzen sich dem Vorwurf des Lobbyings aus, bekommen durch die Spiele aber weltweite Publicity. Putin ist sich dessen bestens bewusst. Bei autoritären Regimes, insbesondere bei Staaten wie Russland oder China, hat der Wunsch, Gastgeber der Spiele zu sein, jedoch einen anderen Charakter als in demokratischen Ländern. Die Olympiade in Sotschi erhält eine völlig andere Symbolik als die Spiele in London. Sotschi ist für Putin mehr als nur die Befriedigung seines Größenwahns. Es soll die Visitenkarte Russlands sein und für fehlende Erfolge in anderen Bereichen entschädigen. Sotschi ist das, was früher die Sputnik-Satelliten und die Flüge ins All waren. Man kann in die Rolle des Giganten schlüpfen und gleichzeitig von den wirklichen Problemen ablenken. Olympia dient dazu, die nationale Euphorie zu befeuern.

Sotschi ist für Putin mehr als nur die Befriedigung seines Größenwahns. Es soll die Visitenkarte Russlands sein und für fehlende Erfolge in anderen Bereichen entschädigen. Sotschi ist das, was früher die Sputnik-Satelliten und die Flüge ins All waren.

Lilija Schewzowa

Das heißt, Sie glauben nicht an den von den russischen Medien beschworenen „Modernisierungsimpuls für den Nordkaukasus“?

Ach woher, Sotschi ist höchstens eine exzellente Gelegenheit, etwas Geld zu stehlen. Diese Spiele entsprechen der Mentalität der russischen Oligarchen, ihrem Wunsch nach Größe, ihrem Bedürfnis, gesehen zu werden, und ihrer Schwäche für Protz und Prunk. Man hat eine – der Form nach interessante, dem Inhalt nach nicht überraschende – Eröffnungs- und Abschlusszeremonie vorbereitet, bei der man darauf geachtet hat, dass sie spektakulärer als im Westen ausfällt. Aber im Grunde ist Sotschi nichts weiter als ein Potemkinsches Dorf, das vorgibt das achte Weltwunder zu sein. Währenddessen dauert die demographische Katastrophe der Überalterung Russlands an. Es ist ein Märchen für Kinder und naive Auslandskorrespondenten. Sotschi existiert nicht.

Könnten die Spiele zu einer Art Wendepunkt für dieses Regime werden – da sie für den aufmerksamen Beobachter eher seine Schwächen als seine Stärken offenbaren?

Es ist schwer zu sagen, was Russlands Stärke und was seine Schwäche ist. Putins Stärke ist zweifelsohne, dass er in der Lage ist, das Land zu kontrollieren. Ein Unterdrückungsapparat steht bereit, tritt aber nicht offen in Erscheinung. Putin gelingt es auch ohne diesen, jeden Protest im Keim zu ersticken – wir dürfen nicht vergessen, dass ständig neue Kreml-Gegner im Gefängnis landen. Olympia hat daran nichts geändert. Die Geheimdienste spielen eine immer größere Rolle, die Kontrolle über das Internet wird ausgeweitet, unabhängige Fernsehsender geschlossen, Nichtregierungsorganisationen werden als „fremde“ Interessenvertretungen gebrandmarkt. Die Mitglieder von Pussy Riot wurden wenige Monate vor dem Ende ihrer Haftstrafen freigelassen. Ihre Freilassung war eine reine PR-Aktion. Putin zeigte sich nicht so sehr als gnädiger Herrscher, sondern vielmehr als jemand, der sich alles erlauben kann. Die erneute Verhaftung zweier Bandmitglieder bestätigt nur meine These.

Und die Schwächen des Kreml?

Putins Schwäche ist vor allem seine Eitelkeit. Er benimmt sich wie ein typischer russischer Staatsführer, von den Bedürfnissen der Gesellschaft vollkommen losgelöst. Das hat Putin mit Stalin, Chruschtschow und Breschnew gemein.

Russland soll nun den Westen zivilisieren, statt sich in eine „degenerierte, demoralisierte und gefährliche“ Kultur zu integrieren.

Lilija Schewzowa

Iwan Krastew und Stephen Holmes haben vor kurzem im „Journal of Democracy“ behauptet, dass autoritäre Regime wie Russland heute wesentlich innovativer sind, wenn es um Machtausübung oder politische PR geht, als die Demokratien, die ständig mit neuen Problemen zu kämpfen haben und sich in einer Dauerkrise befinden. Stimmen Sie mit dieser These überein?

Ich schätze beide Autoren sehr, aber in diesem Punkt stimme ich nicht mit ihnen überein. Putin errichtet ein „neues Regime“ – aber nur in dem Sinne, dass es sich von dem Regime unterscheidet, dass wir vor den Wahlen und den gesellschaftlichen Protesten 2011/2012 hatten. Die Mittel aber, die Putin einsetzt, sind keineswegs innovativ. Er weiß ganz genau, dass er angesichts fehlender innenpolitischer Erfolge andere, „neue“ Triumphe benötigt. Deshalb ist Putin außenpolitisch sehr aktiv. Sotschi ist eine ausgezeichnete Gelegenheit für diese Art Erfolgspropaganda – die nichts mit den wirklichen Problemen des Landes zu tun hat.

Ist das auch eine gute Gelegenheit, den schönen Schein zu entlarven?

In gewissem Sinne ja. Ich habe mir die Eröffnungszeremonie angeschaut. Tolstoi, Mussorgski, Tschaikowski – sämtliche entliehene Symbole haben Russland als ein Imperium der Kunst und der Hochkultur gezeigt. Das war die Umsetzung von Putins neuer Idee – nach der Russland nun den Westen zivilisieren soll, statt sich in eine „degenerierte, demoralisierte und gefährliche“ Kultur zu integrieren. In dieser Vision ist Russland das Zentrum einer neuen Euroasiatischen Union, und die Europäische Union kann sich bestenfalls um die Mitgliedschaft bewerben.

Deutsch von Andreas Volk

Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Russland, ein schwer verwundeter Grizzlybär

Karolina Wigura und Michał Jędrzejek im Gespräch mit Michael Stürmer · 25 February 2014
Wer mit zu großem Reichtum beschenkt wird, strengt sich nicht genügend an, ihn zu vermehren. Das gilt auch für Russland, das unter dem Fluch des Öls leidet. Deshalb besteht in Russland kein Zwang, den Gesellschaftsvertrag zwischen den Regierenden und den Bürgern ständig neu auszuhandeln, meint der deutsche Historiker Michael Stürmer.

Karolina Wigura, Michał Jędrzejek: Herr Stürmer, was sagt Sotschi über Putins Russland aus?

Michael Stürmer: Sotschi zeigt, dass der Zar Berge versetzen und Jahreszeiten außer Kraft setzen kann. Oder zumindest fast. Sotschi zeigt eine ungeheure Mobilisierungskraft, aber auch fürchterliche Korruption. Es zeigt sehr viel Wunschdenken. Es zeigt die Angst vor Terror, aber auch die Grenzen des Menschenmöglichen – denn es stellt sich heraus, dass die Pisten ständig im Nebel liegen oder es zu warm ist. Am besten wäre es gewesen, man hätte gesagt, wir verlegen die Spiele an einen Ort, wo es richtige Berge, Kälte und Schnee gibt, statt sie in einem halbtropischen Kurort auszutragen. Und Sotschi zeigt die Phantasie der Macht, aber auch deren Arroganz, und das Scheitern der Macht.

Als wir mit Lilija Schewzowa darüber sprachen, sagte sie: „Sotschi existiert nicht. Das ist nur ein Märchen“.

Doch, Sotschi existiert schon, wenngleich es nicht mehr das alte Sotschi ist, das Sotschi der zaristischen Paläste, der Sanatorien für die Nomenklatura. Es ist jetzt ein anderes Sotschi, ein völlig ahistorisches, künstliches Sotschi. Als ich die Eröffnungszeremonie der Spiele sah, dachte ich, in Russland gibt es eine Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Und gleichzeitig ist man stolz auf das untergegangene Sowjetimperium. Beides versuchte man in dieser Zeremonie miteinander zu verbinden, ohne auf den Stil, den guten Geschmack oder Kosten Rücksicht zu nehmen. Es tut mir leid für die Menschen, die dort leben. Viel von der herrlichen Landschaft wurde ein für allemal zerstört. Aber wo eine solche Olympia-Industrie am Werke ist, passiert das zwangsläufig. Man muss überlegen – nicht nur in Sotschi, sondern überhaupt –, wie man die Olympischen Spiele wieder auf ein vernünftiges Maß bringt.

Putins Russland muss eher an der Sowjetunion unter Stalin und Breschnew gemessen werden als an einem idealen demokratischen Rechtsstaat.

Michael Stürmer

Wir haben Frau Schewzowa auch gefragt, was die Festnahme und Freilassung der Bandmitglieder von Pussy Riot während der Olympiade zu bedeuten hat. Sie hat gesagt, Putin wolle damit seine Allmacht unter Beweis stellen. Gibt es ein solches Bild von Russland auch in Deutschland?

Ich stimme ihr da zu, gleichzeitig ist Sotschi aber auch ein Beweis der Ohnmacht. Putin hat die beiden jungen Frauen vor Weihnachten begnadigt. Er kann sich nicht alles erlauben. Es gäbe einen riesigen Aufschrei, wenn er sie jetzt wieder einsperren ließe. Das zeigt auch die Grenzen von Putins Macht. Putins Russland ist nicht dasselbe wie während der Zarenzeit, obwohl es natürlich dort seine Wurzeln hat. Es ist nicht die Sowjetunion unter Stalin oder Breschnew. Es ist ein Zwischending, in dem sehr viel russische Geschichte nachwirkt und das natürlich auch von den Wunden der Geschichte gezeichnet ist. Der amerikanische Politiker George Schultz hat gesagt, Russland sei wie ein schwer verwundeter Grizzlybär. Ich glaube, das ist ein zutreffendes Bild. Russland ist immer noch sehr mächtig. Der Grizzlybär liest keine juristischen Fachbücher, selbst wenn er studiert hat. Aber er ist leicht reizbar und hat ein enormes Potential. Putins Russland muss eher an der Sowjetunion unter Stalin und Breschnew gemessen werden als an einem idealen demokratischen Rechtsstaat. Damit müssen wir uns abfinden.

Müssen wir die Hoffnung auf eine Modernisierung Russlands begraben?

Wir können uns für Russland eine bessere Zukunft erhoffen, aber wir sollten mit dem Wünschen aufhören. Russland ist ein Land mit einer wunderbaren Kultur. Aber gleichzeitig ist es ein „Petrostaat“ mit einem sehr schwachen Modernisierungspotential. Wer mit zu großem Reichtum beschenkt wird, strengt sich nicht genügend an, ihn zu vermehren. Das gilt für Menschen wie für Staaten – und auch für Russland. Denken Sie an das berühmte Buch von Michael Ross, „The Oil Curse“, der Fluch des Öls. Deshalb gibt es in Russland keinen Modernisierungsdruck, es besteht kein Zwang, den Gesellschaftsvertrag zwischen den Regierenden und den Bürgern ständig neu auszuhandeln. Die Regierung kann sich selbst Geld beschaffen, sie braucht das Volk nicht dazu.

Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Mehr Brot, weniger Spiele

Alicja Curanović · 25 February 2014
Brot und Spiele! Im alten Rom waren Sportwettkämpfe ein Ventil für gesellschaftliche Spannungen. Die heutigen Olympischen Spiele sind vor allem ein Kampf um internationales Prestige. Aber kann man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Sieg sprechen?, fragt sich die Politologin Alicja Curanović.

Als Wladimir Putin 2007 beim Internationalen Olympischen Komitee dafür warb (er hielt seine Rede ausnahmsweise auf Englisch!), die Olympischen Winterspiele an Sotschi zu vergeben, betonte er, der Welt das neue, edlere Gesicht Russlands zeigen zu wollen. Man würde die Stereotype aus der Zeit des Kalten Krieges überwinden, wenn Millionen Zuschauer die russische Gastfreundschaft und Herzlichkeit erleben. Die Spiele in Russland, die erste internationale Veranstaltung dieser Größenordnung nach dem Zusammenbruch der UdSSR, sollte ein modernes und sicheres Russland zeigen. Einfach ein „normales“ Land.

Mit der Wahl des Ferien- und Kurortes Sotschi, eines der wärmsten Orte in Russland, als Austragungsort der Spiele, wollte man demonstrieren, dass es nichts gibt, was für die Russische Föderation unmöglich ist. Schon allein während der Wettkämpfe für ausreichende Mengen an Schnee zu sorgen, war eine Riesenherausforderung. Eine noch größere war es die Sicherheit einer Massenveranstaltung im instabilen Nordkaukasus zu garantieren. Diese Region, die von hoher Arbeitslosigkeit geplagt wird, bringt man in Russland vor allem mit Armut und Terroranschlägen in Verbindung. Olympia sollte zeigen, dass der Nordkaukasus sicher ist, und die Regierung wollte dort eine strategische Infrastruktur aufbauen, die Impulse für die weitere Entwicklung geben sollte. Putin riskierte einiges, frei nach der Maxime von Frank Sinatra If I can make it there, I will make it anywhere [Wenn ich es dort schaffe, werde ich es überall schaffen]. Je größer das Risiko desto süßer der Sieg. Aber kann man in diesem Zusammenhang überhaupt von einem Sieg sprechen?

Die Amtsträger auf Lebenszeit und die prominenten Abwesenden

Das neue, edlere Gesicht Russlands bekam die Weltöffentlichkeit während der Eröffnungszeremonie der Spiele zu sehen. Die von Konstantin Ernst inszenierte Show wartete mit dem Besten auf, was die russische Kultur zu bieten hat. Es gab das Dreigespann (trojka), das bei Gogol ein Symbol für Russland ist, ein Ballett nach Motiven aus Lew Tolstois „Krieg und Frieden“ und zum Schluss die Revolution von 1917, dargestellt in Kasimir Malewitschs Bildästhetik. Dieses subtile, betörende Bild der komplizierten russischen Vergangenheit hat viele positiv überrascht. Das Schauspiel folgte nicht dem normalen Schema großer Feierlichkeiten à la russe – es kam ohne ostentative Demonstration der Stärke, ohne Militärparade, ohne Panzer, Sputniks und Weltraumraketen aus. [Siehe auch den Text von Łukasz Jasina über die Eröffnungszeremonie der Spiele – HIER]

Die Schönheit der Form konnte jedoch nicht hinwegtäuschen über den mangelnden Inhalt, sprich die Probleme Russlands mit der eigenen Identität. Zweiundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR wissen die Russen immer noch nicht, was sie von der Sowjetvergangenheit halten und wie sie über sie sprechen sollen. Aber noch schwerer fällt es ihnen etwas zum Thema „Russische Föderation“ zu sagen. Wer die Eröffnungsfeier der 21. Winterspiele gesehen hat, dem ist nicht entgangen, dass die siebziger Jahre, die Breschnew-Ära, für Fortschritt und Modernität standen. Nicht eine Szene bezog sich dagegen auf die jüngste Vergangenheit, das postsowjetische Russland. „Was hätte man da den Gästen auch zeigen sollen, etwa den Beschuss des Weißen Hauses, den Tschetschenienkrieg, die Blutfehden der Mafia oder die Wirtschaftskrise von 1997?“, entgegnen die Russen, die man darauf anspricht.

Die getroffenen Sicherheitsmaßnahmen verwandelten Sotschi in eine Festung, aber sie haben die russischen Bürger nicht überzeugt, dass der Nordkaukasus sicher ist.

Alicja Curanović

Falls es das Ziel der Spiele in Sotschi gewesen sein sollte, für ein neues, positives Bild Russlands in der Welt zu werben, dann fehlte es an einer schlüssigen Botschaft, was Russland im 21. Jahrhundert ist und sein will. Zudem fehlten bei der Eröffnungsfeier viele der einflussreichsten Staatsoberhäupter – die wichtigsten Adressaten der Veranstaltung. Außer den Präsidenten Chinas und der Türkei waren vor allem die „auf Lebenszeit“ amtierenden Präsidenten der ehemaligen Sowjetrepubliken anwesend. Außenminister Sergei Lawrow deutete das in einen Erfolg um, Staatsführer aus „sage und schreibe“ 44 Ländern seien Wladimir Putins Einladung gefolgt. Aber die Abwesenheit von Staatsführern der EU sowie der USA sprach Bände.

Der Westen glaubt nicht an ein „neues“ Russland. Bereits vor Beginn der Spiele überschlugen sich die Medienberichte über Pfuschereien beim Bau der olympischen Infrastruktur. Man hörte von braunem Wasser, das aus den Wasserhähnen kommt, von kaputten Skilift-Kabinen, und das berühmte Bild von der Doppel-Toilette wurde zu einem Renner im Internet. Unter PR-Gesichtspunkten kann man, was die Olympiade in Sotschi betrifft, kaum von einer mission accomplished sprechen.

Der Ehrlichkeit halber muss jedoch gesagt werden, dass in der Flut an Informationen über Pfuschereien in Sotschi oft Kleinigkeiten aufgebauscht wurden, um die Gastgeber der Spiele zu blamieren. Das ist kein Wunder angesichts der angespannten Beziehungen Russlands zu den USA und der EU. Schwarze PR in den Medien ist ein durchaus übliches Instrument der Außenpolitik, auf das die russische Diplomatie besser hätte vorbereitet sein müssen. Auffallend sind vor allem die häufigen Vergleiche in der westlichen Presse zwischen den Wettkämpfen in Sotschi und der Olympiade in Moskau 1980 und zwischen Russland und der UdSSR – heute wie damals herrscht volkswirtschaftliche Stagnation, man ist im Konflikt mit dem Westen, und die Rüstungsausgaben sind zu hoch. Daraus wird gefolgert, dass Russland im 21. Jahrhundert immer noch kein moderner, sondern weiterhin ein postsowjetischer Staat ist. Olympia in Sotschi hat zwar das Bild Russlands im Ausland nicht verbessert, aber feiert „das russische Volk“ wenigstens entsprechend enthusiastisch die Spiele?

Infrastruktur, Sicherheit, Schmiergelder

Die Russen haben sich von Sotschi nicht blenden lassen. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada halten nur 23 % der Befragten die Spiele für wichtig, während 17 % Wladimir Putin und das politische Establishment als Hauptnutznießer der Olympiade sehen. Noch vor Beginn der Wettkämpfe gab es viele kritische Stimmen, die darauf verwiesen, dass die Kosten in Rekordhöhe von 51 Mrd. Dollar dreimal so hoch wie der russische Bildungsetat und zweimal so hoch wie der Haushalt für das Gesundheitswesen seien.

Solche Unsummen, die größtenteils aus Steuergeldern finanziert wurden, stoßen bei Teilen der Gesellschaft, die mit den Folgen einer deutlichen Verlangsamung der Wirtschaft zu kämpfen haben, auf Unverständnis. Die Kosten sind aber nicht der einzige Kritikpunkt im Zusammenhang mit Sotschi. Die Ökologen protestierten gegen die Zerstörung des regionalen Nationalparks; die tscherkessische Diaspora äußerte die Ansicht, die Wettkämpfe würden das Andenken an ihre durch die russische Armee ermordeten beziehungsweise vertriebenen Vorfahren beschmutzen; zahlreiche Arbeitsmigranten, die auf den Olympiabaustellen beschäftigt waren, klagten, um ihre Löhne betrogen worden zu sein; Bewohner Sotschis, die ihre Häuser beim Bau von Olympiaprojekten verloren, erhielten keine oder nur sehr verspätet Entschädigungen; für Unmut sorgten Korruptionsskandale (die Opposition schätzt, dass ein Drittel der Olympiaausgaben für Bestechungszahlungen aufgewandt wurden), die schlechte Qualität der neuen Infrastruktur und die empfindlichen Preiserhöhungen in Sotschi selbst.

Die Russen haben sich von Sotschi nicht blenden lassen. 23 % halten die Spiele für wichtig, während 17 % Wladimir Putin als Hauptnutznießer der Olympiade sehen.

Alicja Curanović

Die Sicherheitsmaßnahmen, die fast 10 Mrd. Dollar kosteten (so viel wie die gesamten Spiele in Vancouver) und Sotschi in eine Festung verwandelten, konnten die russischen Bürger nicht überzeugen, dass der Nordkaukasus sicher ist – nur wenige Wochen vor Beginn der Olympischen Spiele kam es zu Anschlägen in Pjatigorsk und Wolgograd, die erfolgreich neue Angst vor Terror schürten. 66 % der Russen glauben, dass es in ihrem Land zu weiteren Anschlägen kommen wird.

Die Spiele in Sotschi offenbaren die größte Schwäche des jetzigen Regimes: seine Ineffektivität. Weder das persönliche Engagement von Wladimir Putin noch die vom Präsidenten geschaffene wertikal wlasti, ein System des Mikromanagements, bei dem der Präsident selbst auf den untersten Entscheidungsebenen interveniert, sind in einem großen Staat langfristig aufrechtzuerhalten. Die allgemeine Korruption und schwache Selbstverwaltungen sind die Haupthindernisse für eine Modernisierung. Das politische Ziel der Spiele – das Bild Russlands zu verbessern – wurde nur unzulänglich erreicht, zieht man den enormen Aufwand, der betrieben wurde, in Betracht. Der Westen glaubt nicht an das neue, edlere Russland, und die russischen Bürger wissen es eh besser. Immer mehr Russen verlangen eine Dezentralisierung und verstärkte gesellschaftliche Kontrolle der Macht. Die wachsende Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Situation lässt sich am besten an Putins deutlich gesunkenen Popularitätswerten ablesen (in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts VCIOM sprechen 48 % dem jetzigen Präsidenten das Vertrauen aus, im Vergleich zu über 80 % während seiner beiden ersten Amtszeiten).

Mehr Brot, weniger Spiele! Das wünschen sich die Bewohner Russlands im Jahr 2014. Nur schade um die Ukrainer, sagen die Moskauer, denn sobald Olympia vorbei ist, wird der Kreml sich ihrer annehmen. Oje, und wie.

Deutsch von Andreas Volk

 

Special Reports / Zwischen „Putins Inferno“ und der Olympiade in Sotschi

Olympia an die Wand gedrückt

Błażej Popławski, Katarzyna Sarek · 25 February 2014
Ökonomen und Demographen haben keinen Zweifel: das Zentrum der Welt hat sich unmerklich verschoben. Auch die sportlichen Großveranstaltungen, die immer häufiger außerhalb der Alten Welt stattfinden, sind ein Indiz für eine Neuausrichtung der globalen Ordnung, schreiben die Autoren von „Kultura Liberalna“.

China richtete 2008 die Olympischen Sommerspiele aus, zwei Jahre später die Expo. In Südafrika fand 2010 die Fußball-WM statt. Brasilien wird sie dieses Jahr austragen, zwei Jahre später wird das Land Gastgeber der Sommerolympiade sein. Vier Jahre nach Sotschi wird Russland die Fußballweltmeisterschaft veranstalten. Die aufstrebenden Volkswirtschaften der BRICS-Staaten (die Abkürzung setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika zusammen; „brics“ bedeutet auf Englisch Backsteine. Über die BRICS-Staaten haben wir 2012 in der „Kultura Liberalna“ geschrieben.) organisieren sportliche Mega-Events, um dadurch ihren Großmachtanspruch zu untermauern. Was bedeutet jedoch die Demonstration der Stärke für die Bewohner dieser Länder?

Die olympische Last

Die BRICS-Staaten, die um das Austragungsrecht für sportliche Großveranstaltungen konkurrieren, verfolgen politische Partikulärinteressen. Dabei geht es vor allem darum, der Welt, aber auch der eigenen Gesellschaft, zu beweisen, dass man imstande ist, ein derart gigantisches Unternehmen organisatorisch, finanziell, aber auch mental zu meistern.

Den größten Erfolg auf diesem Gebiet erzielte die Volksrepublik China. An der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele nahmen 80 ausländische Staatsoberhäupter teil (Rekord!), China gewann 51 Goldmedaillen, die Fernsehübertragungen erreichten fast fünf Milliarden Menschen. Trotz der Unruhen in Tibet im Frühjahr 2008 und der zweifelhaften Rolle, die China im Darfur-Konflikt spielte, wagte es kaum jemand, das Land offen zu kritisieren. Nur einige wenige der Großen dieser Welt blieben als Zeichen der Missbilligung der spektakulären Eröffnungszeremonie im „Vogelnest“ fern. Eine bessere Gelegenheit, um als aufstrebende Regionalmacht in den Rang einer Weltmacht aufzusteigen, hätte sich Peking nicht erträumen können. Nicht Olympia hat China verändert, China hat Olympia verändert – die Spiele sind nicht mehr ein Fest des Sportes, das die Welt eint, sondern eine kostspielige Show, die dazu dient, den Status und die Macht des Gastgeberlandes zu bestätigen.

Südafrika und China zeigten der Welt, was sie ihr zeigen wollten – und verbargen, was sie verbergen wollten. Sie präsentierten sich als reiche, mächtige und moderne Staaten. China erbrachte den Beweis, dass die seit 1978 eingeleiteten Reformen spektakuläre Ergebnisse zeitigen und das chinesische Staatssystem sich bewährt. Südafrika bestätigte – wenngleich mit etwas geringerem Erfolg –, dass man nach dem Ende der Apartheid 1994 den Status einer Regionalmacht wiederherstellen konnte – afrikanisch der Inhalt, europäisch die Form.

Nobel geht die Welt zugrunde

Die Organisation einer Veranstaltung von der Größenordnung einer Fußballweltmeisterschaft beziehungsweise Olympiade ist eine riskante Investition. Kurzfristig generiert sie enorme Kosten, während der viel beschworene „Barcelona-Effekt“, die Steigerung der Attraktivität des Landes, sich meistens als ein Mythos, ein Element der Erfolgspropaganda der Veranstalter erweist. Die neu errichteten Bauten und Stadien werden – sobald sich der durch die Wettkämpfe aufgewirbelte Staub wieder legt und die ausländischen Journalisten abgereist sind – zu Zeugnissen eines allzu großen Investitionsoptimismus. Die Monumente der Eitelkeit stehen dann leer, und allein schon die Unterhaltungskosten reißen riesige Löcher in die Haushalte der Kommunen, die fälschlicherweise glaubten, die FIFA beziehungsweise das IOK würde den Fehlbetrag zwischen den Investitionskosten und den Einnahmen aus Werbung und Ticketverkauf übernehmen. Selbst die Investitionen in die Infrastruktur – die Verbesserung des Straßennetzes, der Ausbau von Bahnhöfen und Flughäfen – bringen nicht den erwarteten Nutzen. Die eilig gebauten Hauptverkehrslinien verfallen, und die finanziellen Aufwendungen, um diese Mängel zu beheben, nähern sich in schwindelerregendem Tempo den Baukosten an. Man sieht das sowohl in China als auch in Südafrika.

Nicht Olympia hat China verändert, China hat Olympia verändert – die Spiele sind nicht mehr ein Fest des Sportes, das die Welt eint, sondern eine kostspielige Show, die dazu dient, den Status und die Macht des Gastgeberlandes zu bestätigen.

Popławski / Sarek

Die Fahrkarten für den luxuriösen Gautrain, der Johannesburg und Pretoria verbindet, können sich heute die meisten Bewohner dieses Ballungsgebietes nicht leisten. Der Bau des Kapstadt-Stadions verschlang 600 Mio. Dollar, das Moses-Mabhida-Stadion und das Stadion „Soccer City“ kosteten jeweils fast eine halbe Milliarde Dollar. In der Republik Südafrika, einem Land, das unter chronischer Massenarbeitslosigkeit leidet, wurde das Vuvuzela-Getröte zu einer Art Sirenengesang, der die südafrikanische Gesellschaft betörte. Die angenehmen Erinnerungen, während der WM einen Gelegenheitsjob gefunden zu haben, wurden schnell getrübt durch die fehlende Perspektive einer längerfristigen Beschäftigung. Und die Wut, hat man einmal ein besseres Leben kennengelernt, ist immer gefährlich. Man sieht das zum Beispiel während der Streiks, zu denen es in Südafrika regelmäßig kommt – gefordert werden u. a. die Anhebung der Löhne mindestens auf das Lohnniveau während der WM.

Bei der Olympiade in Peking spielte die ökonomische Gewinn- und Verlustrechnung keine große Rolle. Weder belasteten die Spiele den Staatshaushalt übermäßig noch waren sie ein bedeutender Faktor für das Wirtschaftswachstum Chinas. Angesichts der Größe der chinesischen Volkswirtschaft entsprachen die Kosten in Höhe von 40 Mrd. Dollar – nach Sotschi die zweitteuersten Spiele der Geschichte – gerade einmal 0,3 Prozent des BIP des Landes (zum Vergleich: die Kosten der Fußball-WM in Südafrika verschlangen etwa 6 Prozent des Staatshaushaltes).

Brot oder Spiele?

Ein ganz anderes Problem, das von den Medien, die sich mehr für den Torschützenkönig des Turniers oder den Medaillenspiegel interessieren, völlig vernachlässigt wurde, sind die Folgen der „städtischen Revitalisierung“. Hinter diesem Schlagwort verbergen sich Maßnahmen wie der Bau Potemkinscher Dörfer, die Entfernung von Obdachlosen aus dem Stadtbild und die Zwangsumsiedlung von Menschen aus ärmeren Vierteln.

Für den Glanz und die Erneuerung der Städte bezahlen die Einwohner einen hohen Preis. Die NGO „Centre on Housing Rights and Evictions“ (COHRE) schreibt in einem Bericht, dass zwischen 2001 und 2008 schätzungsweise 1,5 Mio. Bewohner Pekings umgesiedelt wurden, meist in abgelegene Vorstädte, häufig ohne entsprechende Entschädigung. Widerspruch weckte auch die „Renovierung von Denkmälern“, die oftmals auf dem Abriss der alten Bauten und der Errichtung neuer beruhte. Zweifelsohne ist es Olympia zu verdanken, dass die Bewohner Pekings während der Spiele in den Genuss eines blauen Himmels kamen. Zwar hat die Luftqualität sich in der chinesischen Hauptstadt zwischenzeitlich wieder dramatisch verschlechtert, aber wenigstens darf dieses Problem jetzt offen angesprochen werden, und die Behörden haben den Kampf gegen die Umweltverschmutzung aufgenommen.

Die Väter des Erfolges und der Niederlage

Die Demonstration der Stärke, der Macht und die Zurschaustellung des Erfolges in China und Südafrika waren nicht nur nach außen, an die ausländischen Beobachter, sondern auch oder vor allem nach innen, an die eigene Gesellschaft gerichtet. Olympiade und WM dienten dazu, den Nationalstolz zu stärken und der Parteiherrschaft zusätzliche politische Legitimation zu verschaffen. Im Falle Chinas hatte der Westen insgeheim gehofft, die Spiele würden wie 1988 in Korea zu einer Öffnung des Landes beitragen und politische Reformen befördern. Es stellte sich jedoch heraus, dass die chinesischen Machthaber die Spiele lediglich als PR-Instrument betrachteten und statt der erwarteten Reformen und der Lockerung des Kontrollapparates das genaue Gegenteil eintrat. Unter dem Vorwand, die öffentliche Ordnung aufrechterhalten und Störungen derselben verhindern zu müssen, wurde vor, während und nach den Spielen eine strenge Medienüberwachung eingeführt, die Kontrolle des Internets verschärft und die Menschenrechte weiter eingeschränkt. Der bekannte Intellektuelle Sun Liping vertritt die Ansicht, die Pekinger Olympiade habe den gegenwärtigen Trend in der chinesischen Politik eingeleitet – Kontrolle und Bewahrung des sozialen Friedens als Instrument zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Statt Reformen weitete China die Kontrolle über seine Bürger aus, statt Fortschritt gibt es Rückschritt.

In der Republik Südafrika, einem Land, das unter chronischer Massenarbeitslosigkeit leidet, wurde das Vuvuzela-Getröte zu einer Art Sirenengesang, der die südafrikanische Gesellschaft betörte.

Popławski / Sarek

In Südafrika fiel die Bilanz der WM etwas anders aus. Nach einer genauen Aufstellung der Gewinne und Verluste verkündete die Regierung des Landes – entgegen früheren, anderslautenden Erklärungen –, dass sich Südafrika nicht um die Ausrichtung der Sommerolympiade 2020 bewerben werde. Zu Recht! Die Zahl der vor der WM verkauften Nationalflaggen und Leopard-Maskottchen (die wohlgemerkt in chinesischen, nicht in südafrikanischen Fabriken produziert wurden) war nicht Ausdruck eines wachsenden Wohlstandes. Immer häufiger hört man Ähnliches auch von Funktionären des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), der Partei, die das Land seit der Abschaffung der Apartheid regiert. Anfangs galt die Fußball-WM als Bestätigung ihres Erfolges – den Südafrika wie auch Afrika überhaupt so dringend benötigen. Je näher die Parlamentswahlen rücken, desto kritischer äußern sich südafrikanische Politiker über die zurückliegende Weltmeisterschaft. Plötzlich heißt es, die Veranstaltung sei „nicht ganz erfolgreich“ gewesen, das Wirtschaftswachstum habe sich verlangsamt. Die früheren WM-Befürworter wechseln ihren Standpunkt, oder sie werden zu „Sündenböcken“ gemacht, mit deren Verurteilung man auf Stimmenfang geht. Die Weltmeisterschaft wurde weniger zu einem Erfolgsindikator, sie spiegelte vielmehr die Probleme der Rainbow Nation wider.

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Die Organisation sportlicher Großveranstaltungen durch die BRICS-Staaten bedeutet, nach Meinung vieler Kommentatoren, das endgültige Aus der olympischen Idee. Diese wurde von einer „Backsteinmauer“ zerdrückt. Früher waren die Spiele in der kollektiven Vorstellung ein Symbol des Friedens und der Demokratie – heute sind sie zu einem Luxusgut geworden, das sich nur wenige leisten können. An die Stelle der Ideale, des Pazifismus und des ehrlichen Wettstreits, ist der Kommerz, die große Politik und der Zynismus getreten, während der Sport selbst sich in einen der nationalistisch-imperialen Diskurse verwandelt hat. Die Ereignisse in Sotschi bestätigen diese düstere, leider nur zu wahre Diagnose.

Deutsch von Andreas Volk

Politics

Die satten Polen schauen auf die Ukraine

Karolina Wigura, Kacper Szulecki, Łukasz Jasina · 18 February 2014
Die Polen sind so reich geworden, dass sie dabei glatt vergessen haben, wo sie vor 25 Jahren waren. Die Erinnerung an die eigene Misere ist bereits zu sehr verblasst, als dass wir mit den Ukrainern mitfühlen, obwohl es uns in Brüssel leicht fällt zu sagen, Polen lehrt seine europäischen Partner, in Kategorien gegenseitiger Solidarität zu denken.

Vorgestern noch verurteilte Donald Tusk beide Seiten des Konflikts in der Ukraine. Und Stefan Niesiołowski fügte hinzu: das ist ein innerer Konflikt der Ukraine, ich sehe keine Möglichkeit für eine polnische Initiative. Seit gestern reden Politiker – wie es scheint – in allen EU-Staaten Sanktionen das Wort, und Radosław Sikorski reist nach Kiew. Der Klang von Sanktionen ist jedoch häufig besser als ihre Wirkung. Die Aussage, Polen solle in der Europäischen Union die Rolle des Botschafters der Ukraine übernehmen, ist seit langem schon eine abgegriffene Redensart. Wie sollte also die polnische Politik der Ukraine gegenüber konkret aussehen?

Wie ein Echo ertönt immer wieder der Vorschlag, einen Runden Tisch zu organisieren. Das ist kein Zufall. Es ist ein wohlmeinender Vorschlag. Häufig zeugt er jedoch unbewusst von einem spezifischen Gedächtnisschwund, von postkolonialem Denken, wenn es um den Platz der Ukraine in der geopolitischen Ordnung geht, und von einer Unwissenheit, was die dortige Realität betrifft. 

Beginnen wir mit dem Gedächtnisschwund. Wir betonen in Polen gerne, wie außerordentlich wichtig für unser politisches Denken die mitteleuropäische Erfahrung ist. Zwei Totalitarismen, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, haben uns sowohl für ideologische Verblendungen wie auch für Menschenrechtsverletzungen sensibilisiert, heißt es. Unsere politischen Eliten entstammen größtenteils der demokratischen Opposition – den „Dissidentenbewegungen“. Ihre Vertreter heben das gerne hervor.

Angesichts der aktuellen Ereignisse in der Ukraine stellt sich leider heraus, dass Teile dieser Eliten, wenn es darum geht, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um die demokratische Revolution weiter nach Osten zu „exportieren“, erstaunlich passiv und ohne jegliche Vision sind. Die letzten Wochen in der Ukraine haben deutlich gezeigt: das Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und die Gewerkschaftsbewegung „Solidarność“ waren das eine, der Zusammenbruch des Kommunismus wurde aber erst durch Gorbatschow ermöglicht. Das ist eine bittere Pille für viele Politiker, aber eine bestens bekannte Tatsache unter Historikern (Andrzej Paczkowski bezeichnet das damalige Polen als einen „Spielplatz der Großmächte“).

Laut postkolonialem Denken ist die Ukraine so etwas wie unser jüngerer Bruder. Sie habe vielleicht auf der gesellschaftlichen Ebene demokratische Ambitionen, aber im Grunde genommen wisse sie nicht einmal, was Demokratie eigentlich heißt. Sie sei ein korruptes und demokratieunreifes Land, in dem es auf lange Sicht keine Chance für Rechtsstaatlichkeit und bürgerschaftliches Engagement gebe. Wenn die Ukrainer also nicht mündig genug sind, ihre Angelegenheiten mit Janukowitsch selbst zu regeln, kann es nicht unsere Aufgabe sein, ihnen bei der Demokratisierung des eigenen Landes zu helfen. Eine bequeme Ausflucht, denn sie schützt uns vor dem Vorwurf der Passivität und des Verrats unserer antitotalitären Werte.

Zudem wird oft argumentiert, die ukrainische Volkswirtschaft sei nicht überlebensfähig, werde sie von der Russischen Föderation abgetrennt. Bei dieser Rhetorik ist überraschenderweise nicht von einem Déjà-vu-Erlebnis die Rede, obwohl das gleiche Argument vor der Wende 1989 und direkt danach auch gegen uns eingesetzt wurde. Die Polen sind so reich geworden und in Gedanken fast nur noch bei den gigantischen EU-Zuschüssen, dass sie dabei glatt vergessen haben, wo sie vor 25 Jahren waren. Wir sind satt, und die Erinnerung an die eigene Misere ist bereits zu sehr verblasst, als dass wir mit den Ukrainern mitfühlen, obwohl es uns in Brüssel leicht fällt zu sagen, Polen lehrt seine europäischen Partner, in Kategorien gegenseitiger Solidarität zu denken.

Das dritte Element ist die völlige Unkenntnis, wie die ukrainische Realität aussieht. Jeder, der behauptet, man könne in Kiew die Erfolgsgeschichte des polnischen Runden Tischs wiederholen, übersieht einige grundsätzliche Dinge. Die Schüsse auf die Demonstranten sind nicht vor Jahren oder Monaten gefallen, sie fallen in diesem Augenblick. Konstruktive Gespräche sind in einer solchen Situation nur schwer vorstellbar – wenngleich natürlich der fehlende Dialog und der Wunsch, weiteres Blutvergießen zu verhindern, für einen Runden Tisch sprächen. Aber was die Teilnehmer einer solchen Gesprächsrunde betrifft, offenbart sich gleich die nächste Unkenntnis. Die Zusammensetzung der ukrainischen Opposition ist für viele polnische Beobachter zu kompliziert; sie behelfen sich daher mit Vereinfachungen und Verallgemeinerungen – sie sprechen einerseits von Euroenthusiasten und Freiheitskämpfern, andererseits von Faschisten und Hooligans. Entscheidend war beim polnischen Runden Tisch jedoch, dass die Parteireformer und die gemäßigte Opposition sich einigten – und dass letztere ein starkes gesellschaftliches Mandat hatten. Die Tendenz einer sich radikalisierenden ukrainischen Gesellschaft – was häufig mit einer Radikalisierung der politischen Gruppierungen verwechselt wird – geht in eine andere Richtung.

Was sollte die polnische Politik in dieser Situation tun? Als Liberale, die wir uns der Idee der bürgerlichen Freiheit verpflichtet fühlen, sind wir überzeugt, dass die bisherigen Bemühungen der polnischen Diplomatie, wiewohl sie der Politik der EU ähneln, nicht ausreichen. Als Mittdreißiger, die wir über zwei Drittel unseres Lebens in einem freien Polen verbracht haben, glauben wir fest daran, dass die Grundsätze, die laut der älteren Generation unserem demokratischen Staatswesen zugrunde gelegt wurden, nicht nur leere Phrasen sind. Wir können uns nicht vorstellen, dass diese Grundsätze uns mehr bedeuten als denjenigen, die sie durchgesetzt haben.

Wir sind nicht naiv. Wir wissen, dass Politik und Diplomatie auch die Kunst des bedachten und geduldigen Handelns sind. Wir wünschen uns jedoch, dass es nicht bei der Befürwortung von Sanktionen und Sikorskis Kiew-Besuch bleibt. Wir hoffen, dass Polen sich der Herausforderung stellt, in Brüssel (und den europäischen Hauptstädten) für eine veränderte Politik gegenüber Kiew und den anderen östlichen Nachbarländern – zum Beispiel Belarus – zu werben. Hinter der Schwäche der EU im Osten verbirgt sich ein ungeheurer Formalismus in Brüssel, wo die Demokratie tagtäglich gegen die Bürokratie und Technokratie verliert, sowie ein schwaches Anreizsystem für die östlichen Staaten, demokratische Reformen zu ergreifen.

Es fehlt jedoch vor allem an einem Staat, der die Verantwortung übernimmt, Fürsprecher der östlichen Staaten zu sein. Es gibt keinen Grund, wieso das von uns hochtrabend „Östliche Partnerschaft“ genannte Programm nicht zu einem echten europäischen Projekt werden sollte. Es gibt keinen Grund, wieso Polen im Verhältnis zur Ukraine nicht eine ähnliche Rolle spielen sollte, wie Deutschland gegenüber Polen bei der Aufnahme Warschaus in die EU. Und dabei geht es nicht um postkoloniales Denken, sondern um ein beharrliches Streben nach Partnerschaft.

Wir können jedoch nicht einfach historische Schemata in die Gegenwart übertragen. Es wird weder ein zweites 1989 noch ein zweites 2004 geben. Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Ukrainer wie Schüler zu behandeln, denen wir, die selbst ernannten Dozenten für Demokratie, erzählen, wie es damals bei uns war – zumal wir erst einmal vor unserer eigenen Tür kehren sollten. Überlegen wir uns lieber, wie wir die ukrainische Demokratie von unten stärken können, indem wir Lehren ziehen aus den Unzulänglichkeiten in den fünfundzwanzig Jahren unserer Transformation. Wir sollten auch nicht vergessen, dass unsere uns um die Jahrhundertwende ideal erscheinende EU heute in einer Wirtschafts- und Wertekrise steckt. Bevor wir also irgendjemanden mit hineinziehen, müssen wir uns die Frage stellen, was die EU konkret anzubieten hat. Denn trotz aller Probleme ist das immer noch einiges. Im grauen Alltag unserer Demokratie dürfen wir uns auf keinen Fall einreden lassen – wie einst Teile der westlichen Intellektuellen –, es gäbe keinen qualitativen Unterschied zwischen Demokratie und Autoritarismus. Wir können nicht gleichgültig zusehen, wie die Ukraine in den Autoritarismus abgleitet und wie ein Mantra wiederholen, das sei nicht unsere Angelegenheit und bei uns sei es auch nicht viel besser.

Es sei nur an die Worte Konstanty Geberts erinnert, der den westlichen Aktivisten einst sinngemäß ins Stammbuch schrieb: Euer Ausgangspunkt ist für uns das Ziel, von dem wir träumen. Es ist einfach, die Freiheit geringzuschätzen und sie für eine Selbstverständlichkeit zu halten, aber fragt einfach mal die Belarussen, die Russen und auch die Ukrainer, wie schwer es ist, ohne sie zu leben.

Deutsch von Andreas Volk

Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Die wichtigsten Wahlen in Europa

Karolina Wigura · 17 September 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

kann es sein, dass den Bundestagswahlen mehr Bedeutung beigemessen wird als den Wahlen zum Europaparlament? Da scheint viel Wahres dran zu sein, denn nur wenige Themen haben in den vergangenen Wochen derartige Aufregung bei den internationalen Kommentatoren erzeugt, wie das Ergebnis der am kommenden Sonntag bevorstehenden Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Kein Wunder, denn auf das Land, das vor noch genau einem Jahrzehnt Katinka Barysch vom Centre for European Reform als „kranken Menschen Europas“ bezeichnet hatte, und das – wie einer der bekanntesten Ökonomen vom Rhein, Hans-Werner Sinn, nahelegte – kaum zu retten sei, schaut man heute mit einer Mischung aus Bewunderung und Neid. Seit der Krise der Eurozone wird die deutsche Wirtschaft immer häufiger als Vorbild für Europa genannt, wobei empfohlen wird, Gerhard Schröders Reformen aus den Jahren 2003-2006 zu kopieren. Man denke nur an den bezeichnenden Titel der Studie von The Economist aus dem vergangenen Jahr: „Modell Deutschland über alles“.

Diese Atmosphäre begünstigt die großen Hoffnungen, die in Deutschland gesetzt werden. Dass – um mit den Worten Timothy Garton Ashs zu sprechen – das mächtigste Land Europas nicht nur zur Schaffung einer stabilen und für ausländische Märkte wettbewerbsfähigen Eurozone führt, sondern sich auch an die Spitze einer starken und glaubwürdigen Europäischen Union stellt. Derartige Erwartungen haben sogar polnische Politiker verlauten lassen, so zum Beispiel Radosław Sikorski in seiner Berliner Ansprache im Jahr 2011.

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Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Unwillige Führerin

Judy Dempsey · 17 September 2013
Angesichts der Krise in der Euro-Zone bestimmte Kanzlerin Angela Merkel die politische Richtung für Europa.

Es ist immer noch zu früh um festzustellen, ob die Sparpolitik, auf die die Kanzlerin beharrte, auch richtig war. Zumindest in diesem Bereich nahm sie die Führungsrolle auf sich. Eine Führung ist aber auch sehr begehrt im Bereich der Außenpolitik und Sicherheit. Europa braucht strategisches Denken und Handeln, um die Stabilisierung und Demokratisierung seiner östlichen und südlichen Regionen zu unterstützen. Dies betrifft auch den Aufbau von neuen Beziehungen mit der Übersee.

Unter der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel weigerte sich Deutschland bislang, die Führungsrolle in diesem Bereich zu übernehmen. Unter allen bundesdeutschen Kanzlern der letzten Jahre zeichnet sich Merkel aus durch ihr – sozusagen – verhältnismäßig geringstes Interesse für die Politik im Bereich Verteidigung und Sicherheit. Bekannt durch ihren großen Appetit auf den Inhalt von Dossiers zu allen anderen politischen Themen, bevorzugt sie, die militärischen Angelegenheiten den Fachleuten zu überlassen, und sie scheint damit zufrieden zu sein. Es ist möglich, dass fehlendes Interesse für diese Problematik mit ihrer ostdeutschen Erziehung verbunden ist oder mit dem Umstand, dass Frau Merkels Vater Pastor war. Oder aber mit dem wissenschaftlichen Profil ihrer Ausbildung. Wie dem auch sei, seit der Amtsübernahme im Jahr 2005 schreibt Angela Merkel keine besondere Bedeutung den Problemen der Verteidigungspolitik und Sicherheit zu.

 Demobilisierung als Sicherheitsstrategie

Ein Thema, das Merkel bislang besonders vermied, ist das Problem der Drohnen – die sowohl bei Kampfeinsätzen als auch zur Überwachung und Aufklärung eingesetzt werden. Dass sie sich weigert, dieses Thema aufzunehmen, wurde diesen Sommer besonders klar, als die oppositionellen Sozialdemokraten das Problem der Drohnen in der Wahlkampagne aufgegriffen hatten. Und zwar konzentrierten sie sich auf die Affäre um „Euro-Hawk”. Etwas früher nämlich wurde bekannt, dass die deutschen Regierungen insgesamt über eine halbe Milliarde Euro ausgegeben hatten für die Entwicklung von unbemannten Luftfahrzeugen, in denen die amerikanische Technologie nicht eingesetzt werden konnte und die keine Zulassung für den Einsatz im europäischen Luftraum erhielten.

Thomas de Maizière, Verteidigungsminister und treuster Assistent von Frau Merkel, erklärte letztendlich den Abbruch  des „Euro-Hawk”-Programms, gleichzeitig aber gab er bekannt, dass ein neues Projekt zur Anschaffung von bewaffneten Drohen in Gang gesetzt wird. Die Sozialdemokraten versprachen dagegen ihren Wählern, dass sie die Entwicklung oder Anschaffung von solchen Fluggeräten nicht zulassen. Dies war eine höchst populistische Erklärung. Die Deutschen sind entschieden gegen den Einsatz von Kampfdrohnen. Sie sind empört, wie die Administration von Präsident Obama diese Waffe zum ferngesteuerten Töten von Menschen, die des Terrorismus verdächtig werden, einsetzt. Gleichzeitig aber bemerken sie nicht, dass die Drohnen ein Bestandteil der technologischen Revolution in der Rüstungstechnik weltweit bedeuten.

Verantwortlich für diesen Tatbestand sind sowohl die Regierung als auch die Opposition: die Auseinandersetzungen um „Euro-Hawk” wurden nicht dazu genutzt, eine richtige Debatte über die künftigen Rüstungsbedürfnisse der Bundesrepublik aufzunehmen. Diese Gelegenheit wurde auch nicht genutzt, um den NATO und die EU aufzufordern, internationale Rechtsrahmen für den Einsatz von Drohnen auszuarbeiten. Der Grund dafür ist, dass eine Diskussion zu dem einen oder dem anderen Thema bewirken würde, dass es zu einer Reflexion über zwei in der politischen Debatte dieses Landes besonders abwesende Themen kommen müsste, das heißt die sog. hard power und Strategie. Trotz des Engagements in eine Reihe von internationalen militärischen Missionen bleibt die deutsche Sicherheit abgeschottet in einer strategischen Leere und die Bundeswehr ohne klare Richtungsweisungen.

Dies hat Rückwirkungen auf den Rest von Europa. Ohne eine eigene Strategie im Bereich Sicherheit schaffte es die Bundesrepublik, die EU-Außenministerin Catherine Ashton von der Idee abzubringen, eine neue Strategie für Europa in diesem Bereich auszuarbeiten. Ungeachtet der Tatsache, dass die EU zum ersten und bisher letzten Mal die Arbeit an einer solchen Strategie im Jahre 2003 zu beginnen versuchte! Die im Jahr 2007 aufgenommenen Bemühungen zu deren Aktualisierung sind auch nicht weit gekommen.

Es stimmt, dass eine fehlende Sicherheitsdoktrin es Europa erschwert, in außergewöhnlichen Situationen im Nahen Osten, im süd-östlichen Asien oder – selbstverständlich auch – in den USA entsprechend zu reagieren. Aber die fehlende Sicherheitsdoktrin hemmt auch alle Bemühungen innerhalb des NATO oder der EU, gemeinsame Ressourcen zu schaffen und gemeinsam diese einzusetzen, was dem ständig wachsenden finanziellen Druck standhalten könnte. Solange die europäischen Alliierten sich nicht einig werden, wann der gemeinsame Einsatz der Streitkräfte begründet wäre, ist ein Verzicht auf die zentralen oder nationalen Rüstungsressourcen nicht möglich. Eine solche Einigkeit ist aber angesichts der fehlenden strategischen Debatte schwer zu erreichen. Die Bundesrepublik sollte ihre Führungsrolle mit größerer Entschlossenheit ausüben, um diesen Problemen die Stirn bieten zu können.

Deutsches Dilemma

Dabei ist die Führung, oder das Führen, kein Lieblingsthema der deutschen Politiker. Die Gründe dafür sind nicht nur die schreckliche Geschichte Deutschlands, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Teilung Europas in zwei ideologische Lager. Die Führung ist mit Verantwortung und Verpflichtungen verbunden, die deutsche Staatsführer nicht unbedingt auf sich nehmen wollen. Wie leicht die Bundesrepublik zum Ziel für die populistischen Bewegungen in anderen EU-Ländern werden kann oder das bei Demonstrationen in Griechenland und auf Zypern gezeigte Bild von Kanzlerin Merkel in Naziuniform waren schockierend. Nicht zum ersten Mal hat Deutschland mit diesem Dilemma zu tun: übernimmt dieses Land die Führungsrolle, wird es wegen Vorherrschaft kritisiert. Weigert es sich, diese Rolle zu übernehmen, wird es der Selbstgefälligkeit und des Egozentrismus beschuldigt. Kann die eventuelle dritte Amtszeit von Kanzlerin Merkel (oder, angenommen, eines anderen Staatsoberhauptes) diese Situation ändern?

Hätte Merkel Angst vor der Führungsrolle, wäre sie nichtaufihrem heutigen Posten. In der ersten Amtszeit (2005-2009) zeichnete sie sich durch ein echtes Gefühl für Sinn und Ziel aus. Sie verbesserte die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und zu Osteuropa. Sie zeigte auch einen gewissen Idealismus, indem sie in ihrer Außenpolitik das Problem der Menschenrechte als erstrangig einstufte, besonders in Bezug auf Russland und China. Bedingt durch die Notwendigkeit, zum Klimawandel auch Stellung zu nehmen, scheute sie nicht davor, die Amerikaner zum Engagement auch in diesem Bereich zu überzeugen. Ungeachtet aller Hindernisse modernisierte sie ihre konservative Partei – die Christlich-Demokratische Union (CDU). Ein großer Teil ihrer Begeisterung ist aber verdunstet.

Je länger Deutschland dem Problem seiner Führungsrolle ausweicht, besonders in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik, desto länger bleibt Europa eine schwache Weltmacht, die nicht im Stande ist, seinen Bürgern die Sicherheit zu gewährleisten – geschweige denn, sich um seine eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Weltzu kümmern. Dies ist eins von vielen Problemen, mit denen der künftige Bundeskanzler zu kämpfen hat.

Bei seinem Besuch in Berlin im Juni dieses Jahres sagte Präsident Barack Obama, der Geschichte zu gedenken bedeute nicht, mit der Geschichte die Rechnung beglichen zu haben. „Ich komme heute hierher, Berlin, um zu sagen, dass Selbstgefälligkeit nicht das Wesen großer Nationen ist.“ Die am Anfang ihrer Wahlkampagne stehende Kanzlerin Merkel hätte von ihm keine deutlichere Botschaft erhalten können.

 

Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Der Präsentismus der Politik von Angela Merkel ist lähmend

Claus Leggewie · 17 September 2013
Mit Claus Leggewie spricht Jakub Stańczyk über den Zustand des Bewusstseins der deutschen Gesellschaft vor den Bundestagswahlen, über die amtierende Kanzlerin und die europäische Energiepolitik.

Jakub Stańczyk: Das endgültige Ergebnis der Bundestagswahl wird zweifellos von dem Zustand des Bewusstseins der deutschen Gesellschaft abhängen. Wie bewerten Sie diesen Zustand?

Claus Leggewie: Deutschland fühlt sich wie eine Insel der Glücksseligkeit in einem Meer von Krisen. Viele Deutsche bleiben gedanklich in der Gegenwart und versuchen, sich gegen eventuelle Risiken der Zukunft durch die Bestätigung eines vermeintlich bewährten Teams abzusichern. Sie werden am Sonntag die Partei wählen, die ihnen verspricht, diese Illusion der Glückseligkeit aufrechtzuerhalten. Sie schlagen einen ausgetretenen Weg ein, was uns und Europa künftig in noch größere Schwierigkeiten bringen könnte.

Die Situation in Deutschland wird allseits als gut beurteilt. Erst kürzlich war noch in aller Munde, dass die Wirtschaft der Bundesrepublik nach der Krise mit Volldampf losgelegt hat. Der Erfolg wird sowohl dem langfristigen Einfluss der Hartz-Reformen, als auch der stabilen Politik von Kanzlerin Merkel zugeschrieben …

Weder waren die Hartz-Reformen so erfolgreich, wie behauptet wird (weil sie die soziale Ungleichheit verschärft haben), noch kann man diese Reformen Merkel zurechnen. Und derzeit fehlt es an Reformen, die die Zukunft Europas sichern würden. Wirklich neu wäre, wenn Kanzlerin Merkel ein konsequentes Energiewendeprogramm vorlegen würde, das gesamteuropäisch abgesprochen ist und vor allem in Südeuropa Entwicklungsimpulse setzt. Wir belasten die Schultern künftiger Generationen mit gewaltigen Schulden und vor allem auch mit Treibhausgasemissionen, als gäbe es kein Morgen. Der Präsentismus dieser Politik ist lähmend.

Aber wer, wenn nicht Angela Merkel? Gibt es Parteien, die keine Illusionen schaffen, sondern ein Programm und eine Vision für das künftige Deutschlands haben?

Visionen zu haben, ist vielleicht zu viel verlangt. Rot-Grün-Rot würde eventuell die Revision und Erneuerung des Wohlfahrtsstaates betreiben, Schwarz-Grün könnte die Energiewende zur zentralen Achse der Politik machen. Energiepolitik ist heute keine Randbedingung der Entwicklung, eine Umstellung auf erneuerbare Energien erlaubt ein ganz anderes und besseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, das stärker auf die Selbstorganisation lokaler Gemeinschaften setzt und einen alternativen und besseren Lebensstil in den Bereichen Mobilität, Ernährung und Raumplanung gestattet. Diese Themen sind zwar in Angela Merkels Rhetorik präsent, aber nicht in ihrer Politik, die durch die Gesetzgebung, Technologieentwicklung und durch ökonomische Anreizen gemacht wird. Das könnte eine schwarz-grüne Koalition am ehesten leisten, aber genau diese Option gefällt den Deutschen laut Umfragen am wenigsten.

Sie haben gesagt, dass die Energiepolitik Südeuropa helfen könnte. Welche Bedeutung hat die deutsche Energiewende für die Zukunft der europäischen Integration?

Die meisten Europäer warten darauf, dass Deutschland die Energiewende vermasselt, und dann alle weiter machen wie bisher. Dafür ist die Bundesregierung mit verantwortlich, weil sie die Energiewende nicht von Beginn an gesamteuropäisch koordiniert hat. Deutschland ist nicht das „Modell“, dem alle folgen sollen, sondern die Modifizierung der europäischen Industrie-, Energie- und Infrastrukturpolitik erfordert weit mehr supranationale Kooperation als bisher. Ein europäisches Stromnetz ließe eine enorme Autonomie der jeweiligen nationalen Strategien zu, aber dazu muss es erst einmal entstehen und zeigen, dass es funktioniert. Leider zerfällt Europa, nicht zuletzt wegen der konservativen, aus meiner Sicht verstockt-nationalistischen Obstruktion aus London und Warschau.

Erstens kann der Regierung von Donald Tusk wohl kaum Nationalismus vorgeworfen werden. Zweitens pflegt der polnische Ministerpräsident freundliche Beziehungen zur deutschen Regierung. Es ist deswegen schwer, Ihnen bezüglich Warschau zustimmen.

Am Willen zur Zusammenarbeit und der Ausrichtung auf Berlin habe ich bei Donald Tusk keinen Zweifel, wohl aber bei der polnischen Rechten, die Tusk stürzen möchte, und vor allem im Hinblick auf die Energie-, Klima- und Umweltpolitik, wo es einen anti-grünen Konsens gibt. Was tut Polens Regierung konkret für den Erfolg der COP in diesem Herbst? Inwieweit ist Polen bereit, seine Kohle- und Atompolitik auf den Prüfstand zu stellen? Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich bin ein Fan der deutsch-polnischen Kooperation und ein Kritiker der Rechten (und der Kommunisten), wo immer sie gegen Europa mobilisieren. Aber in der Umwelt- und Energiepolitik blockiert Polen leider – auch entgegen seinen eigenen Interessen.

Wir haben vieles über die Energiepolitik gesagt. Welche Fragen sind Ihrer Meinung nach im laufenden Wahlkampf noch wichtig? In ihrem Text zur heutigen Ausgabe von Kultura Liberalna meint Judy Dempsey, dass der diesjährige Wahlkampf so langweilig sei, weil die meisten besprochenen Themen demographische und mit der Integration von Migranten verbundene Fragen betreffen. Ihrer Meinung nach wäre es interessanter gewesen, die Fragen der Sicherheitspolitik und des Militärwesens in Betracht zu ziehen und beispielsweise über die europäischen Drohnen zu diskutieren.

Europa beginnt wieder, sich abzuschotten, statt proaktiv Flüchtlinge und Arbeitsmigranten aufzunehmen und eine neue Willkommenskultur zu schaffen. Aber eine Wahl ist eine Wahl, und da wird die Machtfrage gestellt. Die Opposition stellt sie nicht, sie beharrt auf einer rot-grünen Koalition, obwohl diese rechnerisch keine Chance hat, statt die Alternativen zur konservativ-liberalen Stagnation klar zu machen: Entweder die Wiederherstellung des deutschen Sozialstaates in der Koalition unter Einschluss der Postkommunisten, oder – was mir persönlich lieber wäre – eine „schwarz-grüne Koalition“, die auf erneuerbare Energien setzt und die ökologischen Fragen ins Zentrum rückt. Das sind keine Nischenthemen mehr, sondern Zentralachsen einer Wiederherstellung des europäischen Einflusses in der ganzen Welt. Einwanderungspolitik funktioniert umso besser, je mehr nachhaltige und zukunftsfeste Arbeitsplätze ein Kontinent anbieten kann. Die dauerhafte Beruhigung der Konfliktzone an der südlichen Peripherie Europas ist auch nur durch eine gemeinsame Entwicklung zu gewährleisten. Der Vorschlag Polens und Österreichs, die C-Waffen-Lager in Syrien unter europäische Kontrolle zu stellen, war da ein guter Anstoß für eine gesamteuropäische Friedens- und Entwicklungspolitik.

Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Wie weiter nach der Merkel-Ära?

Piotr Buras · 17 September 2013
Der beinahe sichere Erfolg von Angela Merkel bei den Bundestagswahlen am 22. September wird die außergewöhnliche Symbiose bestätigen, die die seit acht Jahren regierende Kanzlerin mit der deutschen Gesellschaft eingegangen ist. Vermutlich hatte seit Willy Brandt kein deutscher Kanzler so viel Feingefühl für gesellschaftliche Stimmungen und keiner hat so gut den Zeitgeist seiner politischen Epoche symbolisiert.

Es ist in Deutschland üblich geworden, die Regierungszeit einzelner Kanzler als Ära zu bezeichnen, unabhängig von dem Rang ihrer tatsächlichen Errungenschaften. Die Soziologen sind sich heute darüber einig, dass es in Deutschland keine Wechselstimmung gibt. Das bedeutet, die Bürger wollen, dass die „Merkel-Ära“ weitergeht. Zweifelsohne gibt es viele Gründe, für die dieser Wunsch verständlich ist. Aber vieles deutet auch darauf hin, dass das Faustsche Begehren „oh, Augenblick verweile doch, du bist so schön“ auf der im hohen Maße falschen Überzeugung beruht, die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes sei die beste Garantie für eine rosige Zukunft. Schließlich kann sich die „Merkel-Ära“, die vor allem in den vergangenen vier Jahren ein Synonym für Gelassenheit und prosperity an Rhein und Spree war, lediglich als einen Übergangszeitraum zwischen dem Jahrzehnt der Turbulenzen und des Verzichtes nach der Wiedervereinigung und der Deutschland erst bevorstehenden Notwendigkeit, die Weichen in mehreren bedeutsamen Bereichen der Politik umzulegen, entpuppen. Als einen Zeitraum, der eher viele offene Fragen und unerledigte Angelegenheiten zu bieten hat, als dass er eine Zäsur setzt, die den Weg zu einer neuen Etappe in der Geschichte der Bundesrepublik bereiten würde.

Die Teflon-Kanzlerin

Merkel gilt allgemein als postpolitische Teflon-Politikerin, die keine entschiedenen Ansichten und klaren Visionen hat. Hier ist kein Raum für Überlegungen darüber, ob diese Bewertung gerecht ist. Es ist jedoch kein Zufall, dass jemand mit genau diesem Profil alle Beliebtheitsrekorde bricht und sich gesellschaftlichen Vertrauens erfreut. Man könnte im Grunde argumentieren, dass dies der europäische Standard ist und mit ähnlichen Worten viele aktuelle Staatsmänner und -frauen beschreiben, auch in Polen. Aber in Deutschland haben die Postpolitik und Postideologie des vergangenen Jahrzehnts einen doppelten Boden, der mit der Besonderheit des Landes zusammenhängt, das sich nach dem Jahr 1990 unter zahlreichen Gesichtspunkten neu definieren musste. Viele gesellschaftliche und politische Konflikte, die beispielsweise die Frage der nationalen Identität betreffen, die Rolle Deutschlands in der internationalen Politik oder das Verhältnis zwischen dem Osten und dem Westen des Landes, entstammen dem Gefrierschrank des Kalten Krieges. Andere, wie die Frage der Atomenergie, der Ökologie, des Umgangs mit Homosexualität, mit Multikulturalität, haben sich mit dem späten Generationswechsel in der Politik angehäuft – durch den Abgang der „langen Generation“ Helmut Kohls und die Übernahme des Ruders durch die machthungrige Generation der 68er mit der Regierungsbildung durch Gerhard Schröder 1998.

Angela Merkel ist 2005 an die Macht gekommen, als die Mehrheit dieser Konflikte gelöst war. Schröders Reformen (Änderung der Prinzipien für die Staatsbürgerschaft, Rückzug aus der Atomenergie, Gleichstellung von homosexuellen Ehen) waren eine politische Genugtuung für die Liberalisierung der deutschen Gesellschaft in den vorangegangenen Jahrzehnten. Die Reformen des Arbeitsmarktes und des Sozialsystems (Agenda 2010) waren eine notwendige, wenn auch schmerzhafte, Anpassung des deutschen Wirtschaftsmodells an die neue Realität der globalisierten Ökonomie. Die hitzigen Debatten über die Teilnahme deutscher Soldaten an den Einsätzen im Kosovo, im Irak und in Afghanistan brachen so manches Tabu und bereiteten den Weg zu einem neuen, aber labilen Konsens in der Frage des internationalen Engagements Berlins. Fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands war die Teilung in Ost und West innerhalb Deutschlands in der deutschen politischen Wirklichkeit noch immer ein wichtiges Thema, aber nicht mehr vordergründig. So gesehen übernahm Merkel die Regierung über eine Gesellschaft, die so miteinander im Einklang war, wie wohl nie zuvor, und die nach der Zeit der heftigen Umbrüche Stabilisierung erwartete. Zweifelsohne war es der Verdienst der Bundeskanzlerin (und das Geheimnis ihres Erfolgs), dass sie perfekt auf diesen Bedarf reagieren konnte. Und auch, dass sie trotz parteiinterner Widerstände die konservative CDU zur Modernisierung geführt hat, und damit aus ihr einen Pfeiler des neuen gesellschaftlichen Konsensus gemacht hat (die Änderungen der Einstellung in Fragen zur Rolle der Frau, der Energiepolitik und der Familienpolitik).

Merkel war in den vergangenen Jahren nicht etwa Autorin bahnbrechender Reformen, abgesehen von der Aufhebung der Wehrdienstpflicht sowie der Kehrtwende in der Energiepolitik (die gegen vorherige Entscheidungen und unter dem Druck gesellschaftlicher Stimmungen vollzogen wurde) [mehr über die Energiewende auf: kulturaliberalna.pl/2013/05/28/kemfert-jakobik-wisniewski-patocka-freiheit-klima-elektrizitat/]. Noch in der großen Koalition mit der SPD (2005-2009) hatte sie geschickt – mithilfe der Konjunkturpakete und der Einführung von Kurzarbeit – einem langwierigen Kollaps in der deutschen Gesellschaft in Krisenzeiten vorgebeugt. Deutschland ist unter ihrer Regierung und dadurch, dass es günstige Konstellationen nutzt (geringe Verzinsung von Anleihen und Wettbewerbsvorteile) in der europäischen Krise regelrecht aufgeblüht. In der Europapolitik hat Merkel auf den gesellschaftlichen Bedarf reagiert, indem sie in der EU erzwungen hat, sich an die deutschen Prinzipien (Sparsamkeit, Reformen) zu halten, bei gleichzeitiger schrittweiser und für die Bürger kaum wahrnehmbarer Abkehr von ihnen – im Interesse der EU und Deutschlands. Diese „merkiavellistische“ (Ulrich Beck) Politik macht sich bezahlt, denn dank der Haltung ihrer Regierung in der Krise bricht Merkel in Deutschland Beliebtheitsrekorde, und das Vertrauen in den Euro und in die EU ist in den vergangenen Monaten wieder gewachsen.

Die Zukunft ist nicht so rosig

Betrachtet man die gesellschaftlichen Erwartungen und den Zeitgeist, hat sich Merkel als ideale Politikerin erwiesen. Doch ihr lavierender politischer Stil, der Konflikte und weitreichende Pläne vermeidet, kann sich als belastende Hypothek für die Zukunft entpuppen. Im Grunde genommen nämlich nährt sich die Merkel-Ära der Gelassenheit und Selbstzufriedenheit, an der sich die Deutschen gern laben, aus zahlreichen Täuschungen. Deutschland hört gerne Lob auf sein Wirtschaftsmodell, und vergisst dabei die Defizite, die es in der nahen Zukunft viel kosten können: schlechte Bildung, zu geringe Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und ein Defizit an qualifizierten Arbeitskräften.

Der heutige gesellschaftliche Frieden beruht auf bisher guten wirtschaftlichen Ergebnissen, deren Fortsetzung aus genannten Gründen gar nicht sicher ist. Und an gesellschaftlichen Spannungen fehlt es nicht: materielle Ungleichheit und blockierte Aufstiegschancen für einen Großteil der Gesellschaft sind wohl die deutlichsten Merkmale des einstigen rhein’schen Kapitalismusmodells. Merkel hat die Deutschen beruhigt, indem sie sie davon überzeugt hat, dass eine Rückkehr der D-Mark keine gute Lösung wäre, aber sie hat sie nicht auf die Kosten für die Rettung der gemeinsamen Währung vorbereitet, die in Kürze das deutsche Konto belasten werden (der neue Rettungsschirm für Griechenland, und vielleicht sogar die Reduktion der Schulden der Südstaaten Europas). In Merkels Zeiten ist die Debatte über internationale Einsätze Deutschlands zurückgegangen – dabei geht es nicht nur um die Abneigung gegen bewaffnete Auslandseinsätze, sondern vor allem um fehlende strategische Überlegungen zur Rolle Deutschlands in der Welt in einer Situation, in der gerade im vergangenen Jahrzehnt die Erwartungen an Berlin, besonders in Europa, dramatisch gestiegen sind.

Entgegen allem Anschein besteht Deutschland eine Zeit der nicht leichten Entscheidungen bevor – unabhängig davon, wer ab dem 22. September regieren wird. Die Oppositionsparteien, die SPD und die Grünen, haben es gewagt, in diesem Wahlkampf ein Tabu zu brechen und im Namen öffentlicher Investitionen und Nivellierung von Ungleichheit, Steueranhebungen für die Reichsten gefordert. Es gibt noch mehr Themen, über die man sich streiten könnte. Doch die Parteien der gegenwärtigen Koalitionen (CDU/CSU und FDP) bevorzugen eine Politik der Beruhigung („Deutschland ist stark. Und soll es bleiben.“), die Opposition aber hat nicht genügend Kraft, die Bürger davon zu überzeugen, dass eine Alternative zur gegenwärtigen Politik nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist. Wenn Angela Merkel ausreichend Entschlossenheit und Glück hat, geht die Rettung des Euro in die Geschichte als Markenzeichen ihrer Ära ein. Das wäre nicht wenig. Aber im Interesse ganz Europas liegt ein Deutschland, das nach dem beruhigenden Jahrzehnt des „zweiten Wirtschaftswunders“ neue Kraft schöpft und sich den Herausforderungen stellt, die über seine Kondition in 10 bis 15 Jahren entscheiden.

Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Die Krisenpädagogik

Marek Prawda · 17 September 2013
Die heutigen widersprüchlichen Erwartungen an Deutschland und die extremen Bewertungen Deutschlands bestätigen seinen besonderen Status in Europa.

Die Bundeskanzlerin beteuert ihre pro-europäischen Instinkte, aber auch die entschiedene Verteidigung deutscher Interessen. Das wichtigste Ergebnis der deutschen Wahlen wird sein, dass der Grund zur Aufschiebung einer Entscheidung über die Umgestaltung der Eurozone wegfällt und die rege Diskussion über weitere Hilfspakete wieder aufgenommen werden kann.

Aus der Sicht Brüssels haben die Septemberwahlen im größten Land der Europäischen Union eine Art mythische Bedeutung angenommen. Alle legen ihre Hoffnungen in diese Wahlen – die einen hoffen auf die Freigabe der Reformen und die Beschleunigung der Integration, die anderen auf den Verzicht auf allzu ehrgeizige Projekte. Die einen: auf die Abkehr von der Politik des übermäßigen Sparens zugunsten des Wachstums, die anderen: auf eine tiefergehende Konsolidierung. Es gibt keine Chance, dass nach den Wahlen alle in Europa glücklich sein könnten. Das hat zur Folge, dass der Wahlkampf in der Bundesrepublik Deutschland uns mehr über uns selbst und unsere Zwiespalte in der EU sagt, als über Deutschland. Dort herrscht relative Entspanntheit und EU-Themen sind erst in der letzten Wahlkampfphase zur Sprache gekommen.

Eine Debatte unter dem Diktat der Nervosität

Wir sind im deutschen Wahljahr der Versuchung erlegen, alles, was Berlin tut oder nicht tut mit „Wahltaktik“ zu erklären. Viel Zeit wurde damit verbracht, doppelte Bedeutungen und wahre Intentionen aufzudecken, und mit Spekulationen darüber, was nach dem 22. September geschehen wird. Deutschland hat dies dementiert, aber keiner hat es geglaubt. Die erste positive Auswirkung der Wahlen wird also die Beendigung dieses fruchtlosen Streits sein, so dass man sich wieder dem Kern der europäischen Debatte widmen kann.
Diese Debatte findet unter Krisenbedingungen und in Begleitung allgemein üblicher Klagen über das „deutsche Diktat“ statt. Viel enttäuschter aber sind wir, wenn Deutschland sich aus der „Führungsrolle“ in der EU zurückzieht: Wenn es schon die meisten Instrumente hat, sollte es diese doch im Kampf gegen die Krise stärker einsetzen. Derartig gegensätzliche Erwartungen und die extremen Bewertungen bestätigen im Grunde den besonderen Status, den Deutschland heute in Europa hat. Staaten, die mit solchen Reaktionen konfrontiert sind, erfahren dadurch, dass sie als Großmacht behandelt werden – ob sie es wollen oder nicht. Die Bundeskanzlerin beteuert ihre pro-europäischen Instinkte, aber auch die entschlossene Verteidigung deutscher Interessen. Dieser zweite Aspekt wird sicherlich stärker betont als das ihr christdemokratischer Vorgänger Helmuth Kohl getan hatte, weil sich die Erwartungen der Wähler geändert haben. Im Zuge der Krise hat sich auch die Atmosphäre der Gespräche über die Zusammenarbeit in der EU geändert. Es ist gelungen, feste Instrumente zur Vorbeugung von Problemen in der Zukunft zu schaffen, wir müssen uns nicht mehr nur auf die Brandlöschung beschränken: nie hatten wir so viel „Europa“. Dennoch sind wir noch immer nicht guter Dinge. Zwar ist das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals und gegenseitiger Abhängigkeit gewachsen, also im Grunde genommen das Gefühl für Nähe. Nur ist das die kühle Nähe von Europäern, die mehr Groll gegeneinander hegen als Vertrauen und die die Krise unterschiedlich verstehen. „Mehr Europa“ bedeutet für die einen mehr Geld im Rahmen von Hilfspaketen, für die anderen: mehr Kontrolle und finanzielle Disziplin. Es wächst die Versuchung, in kleineren Kreisen Lösungen zu finden, ohne sich auf die gesamte EU zu verlassen. Es wird geteilt in Nehmer und Geber, Norden und Süden, in die Eurozone und die Nicht-Eurozone. Die nationalen Interessen werden mit – sagen wir einmal – mehr Direktheit ausgedrückt. Das mag verständlich sein, aber ohne tiefere Verwurzelung in dem Gemeinschaftsgefühl können sich die Teilungen in der EU leicht zuspitzen und sogar toxisch werden. Die Diskussion über ein Rezept für die Krise wird zu einer Jagd auf das Recht zur ausschließlichen Interpretation der Ursachen und zur Denunzierung der Schuldigen. In der Sprache der Politiker, die von Natur aus um eine differenzierte Wählerschaft werben müssen, können diese Interpretationen zu vereinfachten Motti führen. Und weil es den Menschen schwer fällt, sich in der objektiv komplexen Materie zurechtzufinden, und die EU aufgehört hat, ein automatisch akzeptierter positiver Bezugspunkt zu sein, kann das zu einer Art „geistiger Heimatlosigkeit“ führen. Es kommt zu Situationen wie der, dass beispielsweise die Boulevardpresse in einem Land im Norden den Finanzminister eines Landes im Süden mit der Titelzeile begrüßt: „Willkommen in einem Land, in dem die Menschen jeden Tag um sechs Uhr aufstehen, um hart zu arbeiten und zwar bis zu ihrem 67. Lebensjahr“. Als Reaktion kommen Anschuldigungen, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen. Das ganze schaukelt sich hoch und es ist kein Ende in Sicht.

Das Wahlrätsel

Was erfahren wir bei diesen Wahlen über die Stimmungen in der deutschen Gesellschaft? Es scheint, dass diese Gesellschaft den wahren Ausdauertest erst wesentlich später durchlaufen wird, wenn Berlin gezwungen sein wird, eine eventuelle Restrukturierung der Schulden der Länder vorzunehmen, die unter die Hilfsprogramme fallen, das bedeutet: reale Ausgaben, und nicht nur Kredite. Jetzt hören die Wähler, dass Deutschland von der Krise profitiert hat, denn als sicherer Zufluchtsort für die Investoren zahlt es für seine Schulden außergewöhnlich niedrige Zinsen. Zwar werden populistische Stimmungen gemeldet, aber selbst wenn diese stärker sind als das mit bloßem Auge sichtbar ist, spielen die extremistischen Parteien bei diesen Wahlen keine wesentliche Rolle.

Aus der Sicht Brüssels sind die Folgen der Evolution der „Krisenpädagogik“ für Deutschland – von einer liberalen zu einer sozialen – wesentlich interessanter. Gemäß der ersten, die Berlin näher ist, ist allein der Druck des Marktes in der Lage, Politiker zu Reformen zu zwingen, und ohne strukturelle Reformen vertrauen ihnen die Märkte nicht. Seit einigen Monaten jedoch verstärkt sich in Europa die Kritik an der Kürzungspolitik und an der Reduktion der Schulden als ein Hauptkriterium. Mehr Verständnis hat man für Maßnahmen, die das Wachstum anregen. Obwohl das eher ein kommunikativer als realer Streit ist (jede Politik muss beide Elemente integrieren), hat er die Diskussion über ein europäisches Sozialmodell belebt, das immer schon populistische Bewegungen eingedämmt hat, und auch eine wichtige Quelle der demokratischen Legitimität ist. Die europäischen Staatsoberhäupter unterliegen heute den EU-Sanktionen der Sparpolitik und fühlen sich plötzlich ihrer eigenen Instrumente für diese Eindämmung und für die Stabilisierung der Demokratie entledigt. Bei dieser Gelegenheit werfen sie Deutschland vor, das Sozialmodell in Europa zu unterhöhlen, indem es ein niedriges Lohnniveau aufrecht erhält und Europa mit Billigwaren überschwemmt. Berlin aber wundert sich, weil es seine Reformen und das kooperative Modell des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als historischen Erfolg betrachtet.

Trotz der spektakulären Streitigkeiten aufgrund unterschiedlicher Schwerpunktverteilung in der Wirtschaftspolitik verbindet die politischen Hauptkräfte in Deutschland mehr als sie trennt. Unabhängig davon, ob der Koalitionspartner der Christdemokraten die Liberalen oder die Sozialdemokraten sein werden – das sind die beiden wahrscheinlichsten Varianten – wird Bundeskanzlerin Merkel nicht stark von ihrem bisherigen Konsolidierungskurs abweichen. Das wichtigste Ergebnis der deutschen Wahlen wird sein, dass der Grund zur Aufschiebung einer Entscheidung über die Umgestaltung der Eurozone wegfällt und die rege Diskussion über weitere Hilfspakete wieder aufgenommen werden kann.

Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Über den Zusammenhang zwischen Finanz- und Erinnerungspolitik

Jarosław Kuisz · 17 September 2013
Als die Finanzkrise aus den USA auf Europa überschwappte, zeigte sich, dass Berlin am besten mit ihr zurechtkommt und nach und nach in der EU die Initiative übernimmt. Die wachsende Dominanz Deutschlands weckte jedoch Assoziationen mit der Vergangenheit. Nichts überzeugt mehr davon, dass Wirtschaftspolitik von einer wirkungsvolleren Erinnerungspolitik begleitet sein muss, als die gegenwärtige Krise.

Als vor der Abreise zum G-20-Gipfel nach Petersburg die Staatsoberhäupter der Welt die letzten Details vorbereiteten, schlugen Joachim Gauck und François Hollande für einen Moment die entgegengesetzte Richtung ein. Die Präsidenten trafen sich in Oradour-sur-Glane, einer Ortschaft, die außerhalb von Frankreich nicht weiter bekannt ist. Im Jahr 1944 hatte die deutsche Armee mit Methoden, die eher an der Ostfront verbreitet waren, fast alle Bewohner ermordet. Nach dem Krieg hatte General Charles De Gaulle entschieden, zum Gedenken an die Opfer des Massakers (642 Menschen) das zerstörte Oradour-sur-Glane nicht wieder aufzubauen. Bis heute stehen auf den Straßen die Überreste verbrannter Autos aus den 30er Jahren; aus der Vogelperspektive kann man in das Innere der ausgebrannten Häuser schauen.

Gegen Probleme hilft Deutschland

Als die Finanzkrise aus den USA auf Europa überschwappte und sich herausstellte, dass Berlin am besten mit ihr zurechtkommt, mehr noch, dass es aus diesem Grund nach und nach die Initiative in der EU übernimmt, machten sich in fast ganz Europa verschiedenste antideutsche Ressentiments stärker bemerkbar. Wie zum Trotze des allgemein verbreiteten Gejammers über das zurückgehende Niveau des Schulwissens bezüglich Geschichte und des Übermaßes an Gesten der politischen Versöhnung, zwingt uns die ökonomische Krise dazu, dieses Problem aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Erstens ist Deutschland zu einem Zerrspiegel für die Misserfolge der Reformen in vielen EU-Ländern geworden. Fast in der gesamten EU erinnern sich die Ökonomen an die Reformen der Regierung Schröder und zerlegen bis heute das Hartz-Konzept und seine Umsetzung in Einzelteile. Die Flexibilisierung der Anstellungsformen in Verbindung mit Steuersenkungen für die Reichsten – in den Kommentaren zum Thema Deutschland war ein neuer Ton der Faszination für das „deutsche Wirtschaftswunder“ zu vernehmen. Worauf aber sind die Ergebnisse der Experten zurückzuführen? Charakteristisch scheint hier die Radiosendung von BBC Analysis zu sein, in der nach allseitiger Analyse der deutschen Arbeitskultur festgestellt wurde, dass sich diese auf Großbritannien nicht direkt anwenden lässt. Zum Trost wurde hinzugefügt, die Situation auf den Inseln sei gar nicht so schlecht. Oxford und Cambridge stehen in den Rankings weiterhin vor den deutschen Hochschulen. Soweit die lehrreiche Schlussfolgerung.

 Der Populismus und der Geist der Vergangenheit

Zweitens hat die wachsende Dominanz Deutschlands Assoziationen mit der Vergangenheit geweckt. Manchmal möchte man meinen, dass alle Versöhnungsgesten zwischen den Völkern Europas für einen Teil der EU-Bevölkerung an Bedeutung verlieren. Aus verständlichen Gründen wird in ganz Europa die aktuelle Krise mit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre und der damals herrschenden Atmosphäre verglichen. Dennoch hat mit der Krise der Eurozone und den finanziellen Schwierigkeiten einzelner Staaten eine Welle antideutscher Ressentiments von sich hören gemacht. Das Überangebot an Karikaturen im Internet und an Memen kann man ignorieren, da sie im Grunde keine größere Bedeutung haben. Auch die fremdenfeindlichen Sprüche während der Straßenproteste im Süden Europas könnte man als bedauernswerte Episoden in Stile des unrühmlichen an Martin Schulz gerichteten Auftrittes von Silvio Berlusconi im Europaparlament verbuchen. Anders jedoch stellen sich die Dinge dar, wenn sich heute Politiker der Hauptströmung der politischen Szene in ähnlichen Erwägungen versteigen, die zu Elemente der Debatten über europäische Angelegenheiten werden. Beispielsweise hat der prominente linke Politiker und Minister der amtierenden französischen Regierung Arnaud Montebourg offiziell die Politik Angela Merkels mit der Politik Bismarcks verglichen, der eine dominierende Position in Europa anstrebte (Montebourgs Statement vom 1. Dezember 2011). In Osteuropa lassen sich in den vergangenen Monaten unschwer ähnliche Beispiele finden. Während der letzten Präsidentschaftswahlen in Tschechien hat man sich gefragt, ob Karel Schwarzenberg nicht allzu deutsch sei, um sein Land repräsentieren zu können. Es ist also nicht verwunderlich, dass kürzlich The Economist auf seinem Cover den deutschen Adler platziert hat, wie er schamvoll seinen Schnabel mit dem Flügel verdeckt. Der Titel des Sonderberichts „Der unwillige Hegemon“ ist im Prinzip selbstredend.

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All das geschieht in einem Moment, da die deutsche Politik von Personen repräsentiert wird, die die Erfahrung gemacht haben, im Kommunismus zu leben. Es ist paradox, dass das Odium auf Personen fällt, die diese Geschichte am eigenen Leibe erfahren haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat fast 35 Jahre lang in der DDR gelebt; ihre Biografen schreiben, dass für sie das Jahr 1968 mit dem Prager Frühling verbunden ist, und nicht mit den Barrikaden in Paris. Joachim Gauck hingegen ist zum Symbol des anständigen Abschlusses der Abrechnung mit dem Kommunismus geworden. Ihre Erfahrungen sind den Erfahrungen derjenigen näher, die sich an die Staaten der Volksdemokratie mit ihrer fehlenden Meinungsfreiheit, an die Geheimdienste und an die Verwaltung des Mangels erinnern. Erst kürzlich wies Timothy Garton Ash darauf hin, dass an diesem Ort noch immer die Quellen des großen Enthusiasmus für das Projekt Europa sprudeln – eines Enthusiasmus, nach dem man in Westeuropa regelrecht suchen muss (ein lehrreiches Beispiel ist Großbritannien).

Es ist also kein Zufall, dass Menschen wie Gauck die Bedeutung der Vergangenheit für die heutige Politik zu schätzen wissen und zu Gesten wie der in Oradour-sur-Glane fähig sind. Nichts überzeugt mehr davon, dass Wirtschaftspolitik von einer wirkungsvolleren Erinnerungspolitik begleitet sein muss, als die gegenwärtige Krise. Mit der historischen Ignoranz kommender Generationen der Europäer braucht man nicht zu rechnen.

Special Reports / Die wichtigsten Wahlen in Europa

Wortgefechte vor den Wahlen

Małgorzata Ławrowska · 17 September 2013
Inwieweit sagt uns der diesjährige Wahlkampf etwas über die politischen Klasse und über die Gesellschaft in unserem Nachbarland?

Die Zielgerade des Wahlkampfes leitete das Fernsehduell zwischen der amtierenden Kanzlerin Angela Merkel und ihrem sozialdemokratischen Gegenkandidaten Peer Steinbrück ein. Das Duell, das an einem Sonntag zur Primetime auf vier deutschen Fernsehsendern live übertragen wurde, sollte eine Chance sein für die oppositionelle Sozialdemokratische Partei Deutschland und sich in den Prognosen niederschlagen. Mit der Art der Moderation und der Auswahl der moderierenden Journalisten sollte an das lebendige und aggressive amerikanische Vorbild angeknüpft werden. Doch die auftretenden Politiker waren dagegen immun und so war es „wie immer“: ernsthaft und kompetent, ohne Charisma und ohne Schwung. Streitfragen wie der NSA-Affäre oder der Intervention in Syrien wurde nur wenig Zeit gewidmet.

Vielleicht ist deshalb zum unbestrittenen Sieger des Sonntagabends die Halskette der Bundeskanzlerin in den deutschen Nationalfarben geworden, die von den Kameras 90 Minuten lang angemessen präsentiert wurde. Sogleich entstand für die Kette ein eigener Twitter-Account, und die Zahl der Follower überschritt schnell die Zehntausend. Man zog in Erwägung, ob die Kanzlerin nicht heimlich die belgische Option repräsentiere, schließlich seien das die gleichen Nationalfarben.

Die Fernsehdebatten in Deutschland haben keine lange Tradition. Weit entfernt sind sie von den großen amerikanischen Medienereignissen, wie beispielsweise dem berühmten Streit der Giganten im Jahr 1960: Richard Nixon gegen den Senator John F. Kennedy. Das Fernsehduell Merkel-Steinbrück ist das vierte in der Geschichte der deutschen Demokratie. Im Jahr 2002 „forderte“ der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber zum ersten Mal den amtierenden Kanzler Gerhard Schröder zu einem Duell vor der Kamera heraus. In den darauffolgenden Wahlkampfphasen erhitzten die Debatten Schröder-Merkel und Merkel–Steinmeier die Wählergemüter. Man kann die Kanzlerin also als eine Veteranin dieser Medienform bezeichnen.

In der öffentlichen Meinung hat das diesjährige Fernsehduell keiner Seite das eindeutige Übergewicht verschafft, die Atmosphäre war eher lauwarm. Wenige Tage nach der Debatte bestätigte das PolitBarometer im ZDF, dass dieses Ereignis die Vorlieben der Wähler nicht beeinflusst hat. In den Prognosen ist die CDU bei 41 Prozent und die SPD bei 26 Prozent der Wählerstimmen geblieben.

Die Politik feiertags und im Alltag

Die Kommentatoren der Debatte sind sich einig: vielleicht hat sie keiner der beiden Seiten etwas gebracht, aber sie war zweifelsohne ein Dienst an der Demokratie und der Bürgergesellschaft, denn fast 18 Millionen Zuschauer sahen sich die Übertragung an, hinzu kommt die ungeheure Aktivität der Internetuser. Die deutschen Medien, die öffentlichen Institutionen und die NGOs nutzen die letzten Wochen vor den Wahlen zur Mobilisierung der unentschlossenen und jungen Erstwähler. Erst kürzlich hatten Studien gezeigt, dass es dazu kommen könnte, dass fast ein Drittel der wahlberechtigten Bürger Deutschlands von ihrem Wahlrecht am 22. September keinen Gebrauch macht. In den Privatsendern SAT 1 und PRO7 gab es eine Kampagne unter dem Motto: „Geh wählen!“. Das öffentliche Fernsehen zeigt eine Reihe publizistischer Sendungen und Quiz zum Thema Demokratie, die mit ihrer attraktiven und intelligenten Form junge Zuschauer ansprechen. In diesem Jahr ist der Wahlkampf auf Billboards zurückgegangen – möglicherweise haben die Spin-Doctors die Überdrüssigkeit der Gesellschaft zur Kenntnis genommen, die seit der Krise in der Eurozone von allen Seiten mit widersprüchlichen und aggressiven Kommunikaten überschüttet wird. Daher rührt vielleicht – entgegen aller Erwartung – das nur marginale Interesse für die Alternative für Deutschland. In diesem Wahlkampf wird das Thema „Euro“ offensichtlich nicht zu radikalen Wahlentscheidungen führen.

Im Alltag bleibt der Bundestag die Plattform der politischen Streitigkeiten. Dies hat die heftige Debatte – oder eher die wahre Schlacht – am 3. September während der letzten Bundestagssitzung vor den Wahlen bestätigt. Bundeskanzlerin Merkel musste sich dem Vorwurf stellen, das Land unter seinen Möglichkeiten zu regieren. Das war der Tag der Abrechnung der Opposition mit der Regierung und des intensiven Streits, der die eigene Wählerschaft mobilisieren sollte. Bis zu den Wahlen kann die Hitze der Gefechte noch stärker werden.

Der Raum für gefahrlosen Streit

Neben den typischen Institutionen der Politik – den traditionellen und den modernen – bildet einen wichtigen Raum für den Meinungsaustausch und den Streit in Deutschland auch der Kulturbereich. Da ließen sich allein schon die documenta in Kassel und die Berliner Biennale nennen. Letztere hat – im Jahr 2012 von Artur Żmijewski kuratiert – im deutschen Publikum einen Heißhunger auf alles, was kontrovers, politisch und engagiert ist, ausgelöst, aber mit dem gleichzeitigen Bedürfnis, das jeweilige Thema zu vertiefen und nicht etwa an der Oberfläche zu bleiben und damit gleichzeitig banal zu werden. Die Berlinale ist berühmt für ihre Schwäche für den engagierten Film. Hier haben kleinere Produktionen die größten Chancen wahrgenommen und gewürdigt zu werden. Wenn nicht von der Jury, dann von dem anspruchsvollen Publikum. Die Kultur in Deutschland hat keinen elitären Charakter, sie hat sich auch nicht kommerzialisieren lassen wie in vielen anderen EU-Ländern. Die Kulturinstitutionen arbeiten nicht nur in großen Stadtzentren, sondern auch in kleinen Städten.

Natürlich wäre ein alleiniger Umgang mit Kunst und Literatur, die sich „Engagement auf die Fahne schreibt“ (zitiert nach Jacek Dehnel), kaum erträglich, aber sie schafft auf natürliche Weise Raum für die Vielfalt der Ansichten, für ihre Artikulierung und ihre Rationalisierung. Es gibt also durchaus Verhaltensformen und Instrumente für die offene und sichere Interaktion mit den Menschen.

Kein geringerer als Josef Beuys hatte im Jahr 1980 die Wahlplakate für die Grünen entworfen. Im diesjährigen Wahlkampf erweisen sich die ästhetischen Standards als „etwas“ weniger anspruchsvoll. Sowohl die NPD als auch die FDP haben für ihre Werbespots das gleiche Motiv im Internet gekauft, das im Übrigen zuvor erfolgreich für eine finnische Joghurtkampagne eingesetzt worden war …

Der Wert der deutschen Institutionen besteht nicht nur darin, dass sie existieren, sondern auch darin, dass sie flexibel sind und die Fähigkeit zur Selbstverifizierung haben. Könnte eine Gesellschaft, der der Staat solche Möglichkeiten bietet, diesen stürzen wollen? Ich glaube, nein. Obwohl das nicht bedeutet, dass sie kein Recht auf mehr Emanzipation hat, dass sie von der politischen Klasse nicht fordern kann, mit eingefahrenen Schemata zu brechen, dass sie nicht eigene attraktive und gleichzeitig überzeugende Rezepte für die Zukunft anmelden könnte. Ein Publizist hat kürzlich gesagt, die heutigen deutschen Wähler seien so unvorhersehbar wie das Aprilwetter. So ist auch die Wirklichkeit, in der wir leben. Man kann kaum von ihrer Unfehlbarkeit sprechen, es ist gefährlich, unumstößliche Wahrheiten zu verkünden. Dieser permanenten Variable und der Aufgewühltheit sind sich Politiker und Wähler bewusst. Was bleibt also? Ist es Zeit, noch einmal die Reifeprüfung zu bestehen?

Special Reports / Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Karolina Wigura · 13 August 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Vielleicht hat Hitler nicht genug von ihnen umgebracht” – das sind Worte, die soeben erst in Frankreich zu hören waren, aus dem Munde des Bürgermeisters eines kleinen Städtchens in dem bezaubernden Land an der Loire. Gemeint war das sogenannte „fahrende Volk” („Gens du voyage”, wie in Frankreich eine offizielle Bezeichnung u.a. für die Roma lautet). In den Medien kochten die Emotionen hoch, dem Politiker schlug aus den eigenen Reihen schärfste Kritik entgegen. In Ungarn wurden vergangene Woche Rechtsextreme wegen des Mordes an einigen Vertretern der Roma-Minderheit von einem Gericht zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Für Aufruhr in Österreich sorgte die vor wenigen Tagen gefallene Entscheidung zur Abschiebung von Flüchtlingen, vor allem pakistanischer und afghanischer Nationalität, die seit einigen Monaten in Wien friedlich gegen das strikte Asylrecht protestieren…

Das sind nur die Meldungen der letzten Tage und es ließen sich noch viele weitere Beispiele finden, obwohl es zahlreiche Bestimmungen gibt, die gegen Diskriminierung schützen sollen. Vor nur wenigen Jahren rief Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, in dem der Autor die These beweisen wollte, die deutschen Türken besäßen einen niedrigeren Intelligenzquotienten als die Deutschen selbst, einen Riesenskandal hervor. Erbarmungslos kritisiert wurden belgische Parlamentarier, die im Jahr 2010 unzählige Stunden darauf verwendeten, ein Kopftuchverbot für Musliminnen zu erstellen – später wurde nachgezählt, dass es tatsächlich um eine Gruppe von rund hundert Frauen ging. Doch der Kontext ist um einiges umfassender als diese paar Fälle, die, einzeln betrachtet, beinahe als bedauerliche Zwischenfälle erscheinen könnten.

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Special Reports / Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Die Politik der Zugehörigkeit

Saskia Sassen · 13 August 2013
Die wachsenden Stimmungen gegen die Einwanderung in Europa führen dazu, dass die Politik der Zugehörigkeit wieder nationalisiert wird. Diese erneute Nationalisierung ist stark ideologisch und gleichzeitig institutionell zunehmend schwächer, in dem Maße, in dem die Europäische Union institutionell stärker wird.

Obwohl die Kompetenzen der EU noch immer unvergleichlich geringer sind als die der einzelnen Nationalstaaten, hat diese Tendenz bereits das Wesen der Beziehungen zwischen Nationalstaat und Staatsbürgerschaft verändert. Die institutionelle Entwicklung der Europäischen Union und die wachsende Bedeutung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte führen dazu, dass das, was aus historischer Sicht als durch und durch national entstanden ist, Schritt für Schritt entnationalisiert wird. Interessanterweise wird diese „Entnationalisierung“ katalysiert von der Entstehung zahlreicher Akteure, Gruppen und Gemeinschaften, die eine umfassender verstandene politische Zugehörigkeit postulieren. Sie lehnen die automatische Identifizierung mit dem Nationalstaat ab, selbst wenn sie seine rechtmäßigen Bürger sind. Das bedeutet weder, dass sie den Nationalstaat ablehnen, noch dass sie die EU voll und ganz annehmen. Das ist ein komplexerer Prozess, in dem sich der Bürger vom Staat distanziert, zu dem manche EU-Institutionen, die Menschenrechtsbestimmungen und die wachsende Bedeutung der internationalen Bürgergesellschaft beitragen. Dieser sowohl institutionelle als auch subjektive Wandel in der Europäischen Union prallen zusammen mit einem anderen starken Trend – der erneuten Nationalisierung des Zugehörigkeitsgefühls.

Historisch betrachtet wurde die Staatsbürgerschaft paradoxerweise von Postulaten und Forderungen von Ausgeschlossenen gestaltet, sowohl von Minderheiten, als auch von Einwanderern. Mehr noch, die Entwicklung der formalen Staatsbürgerrechte von den Nachkriegsjahren an bis in die neunziger Jahre hinein führte dazu, dass die Nationalstaaten zur Schaffung von Bedingungen beitrugen, in denen das Konzept der Unionsbürgerschaft entstehen konnte. Zur gleichen Zeit hat im Zuge der Dominanz des neoliberalen Gedankens während der vergangenen zwei Jahrzehnte der Staat als solcher einen Wandel durchgemacht. Ein Element dieses Wandels ist die Reduktion sozialer Verpflichtungen des Staates dem Bürger gegenüber, die im Namen der Schaffung eines neoliberalen „konkurrenzfähigen Staates“ vorgenommen wurde. Aus diesem Grund ist es derzeit unwahrscheinlich, dass die Mitgliedsstaaten in der Lage sein werden, im Bereich Legislative und Judikative eine ähnliche Anstrengung aufzubringen, die einst zu erweiterten Bürgerrechten geführt hat. Das aber kann – und das ist das zweite Paradoxon – dazu führen, dass das Zugehörigkeitsgefühl der Bürger zu ihren eigenen Nationalstaaten schwächer wird. Immer öfter werden Ansprüche auch bei anderen Institutionen als dem Staat angemeldet werden, beispielsweise beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Europa und seine Migrationen

Ehemalige Einwanderergruppen funktionieren innerhalb europäischer Gesellschaften gut, wenn auch auf unterschiedliche Weisen. Aus diesen ehemaligen Einwanderergruppen, die vor drei oder vier Generationen (oder noch früher) nach Europa gekommen sind, sind zahlreiche heutige Staatsbürger hervorgegangen. Sie sind also nicht Gegenstand der derzeitigen Diskussionen, obwohl es zu Zeiten ihrer Einwanderung um sie ähnliche Streitigkeiten gegeben hatte.

Derzeit konzentriert sich die Mehrheit der Argumente gegen die Einwanderung auf Fragen der Rasse, der Religion und der Kultur, und benennt meistenteils kulturelle und religiöse Unterschiede als Hauptgrund für die Schwierigkeiten im gemeinschaftlichen Leben. Diese Argumente könnte man als rational bezeichnen, schaut man sich jedoch ihren historischen Kontext genauer an, sieht man darin lediglich ein neues Kleid für alte Leidenschaften: die Reduktion von „Andersartigkeit“ auf die Frage der Rasse. Heute wird der Stereotyp des „Anderen“ aufgebaut, indem man sich auf die Unterschiede in Rasse, Religion und Kultur beruft. Ähnliche Argumente wurden laut, wenn Einwanderer aus Gruppen stammten, die bezüglich dieser Kriterien ähnlich waren. Dann argumentierte man, sie würden zu der Gesellschaft, in die sie gekommen waren, nicht passen, da sie schlechte Gewohnheiten und zweifelhafte Moral hätten und ihre Religion regelwidrig praktizieren würden. Migration findet immer zwischen zwei Welten statt, selbst wenn sich diese Welten in der gleichen Region oder im gleichen Staat befinden, so wie beispielsweise im Falle von Bürgern der ehemaligen DDR, die, wenn sie nach Westdeutschland übersiedelten als eine separate ethnische Gruppe mit unerwünschten Eigenschaften wahrgenommen wurden.

Es gibt Hinweise auf den zyklischen Charakter der Anti-Einwanderungspolitik und der Ballung von Fragen, die damit einhergehen. Jahrhunderte hindurch haben die größten europäischen Wirtschaftsmächte heftige Zyklen der enormen Nachfrage nach der Arbeitskraft von Migranten durchgemacht, wonach rücksichtslose Aussiedlung eintrat, um dann ein paar Jahrzehnte später wieder Defizite bei den Arbeitskräften zu haben. Ein Beispiel aus der neusten Geschichte ist Frankreich, das während des Ersten Weltkrieges verzweifelt Arbeitskräfte brauchte (es wurden sogar algerische Einwanderer in die Armee einberufen), und während des Wiederaufbaus des Landes in den zwanziger Jahren, ein Jahrzehnt später machte es eine Epoche der aggressiven Anti-Einwanderungspolitik durch, um dann in den vierziger Jahren wieder eine dringende Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften zu entwickeln, und so weiter. Die Beispiele aus der Vergangenheit und die derzeitige, oben beschriebene Situation weisen meiner Meinung nach darauf hin, dass das Phänomen der Zyklizität weiterhin auftreten kann. Im Hinblick auf den wachsenden Bedarf nach billigen Arbeitskräften und den rapiden Rückgang der Bevölkerungszahlen in der heutigen EU, lässt sich leicht voraussagen, dass innerhalb eines Jahrzehnts, wenn nicht eher, eine Phase des größeren Bedarfs an ausländischen Arbeitskräften eintreten wird.

Die beste Strategie für die reichen EU-Ländern, die so besorgt sind wegen des massenhaften Zuflusses von Billiglohnarbeitern und schlecht ausgebildeten Arbeitnehmern aus den neuen EU-Mitgliederstaaten, ist, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, um diesen Arbeitnehmern eine möglichst umfassende Entwicklung zu gewährleisten.

Migration als ein eingebetteter Prozess

Für die Entwicklung der Politik der Zugehörigkeit ist es maßgeblich zu klären, ob die Arbeitsmigration ein integraler Bestandteil des Funktionierens und der Entwicklung von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systemen ist. Mein Argument ist einfach: Wenn die Ursache für die Einwanderung in der Suche nach einem besseren Leben gesehen wird, wird sie von dem jeweiligen Gastland als ein Prozess verstanden werden, der von Bedingungen gestaltet wird, die von ihm unabhängig sind. Dem Zuwanderungsland wird aufgebürdet, die Einwanderer aufzunehmen. So gesehen können wir, wenn die Armut und die Überbevölkerung in anderen Teilen der Welt wachsen, mit einem Anwachsen der Einwanderung konfrontiert sein, zumindest potenziell. Das Zuwanderungsland gerät hierbei in die Rolle eines „passiven Zuschauers“, der keinen Einfluss auf die Prozesse hat, die sich außerhalb seines Macht- und Kontrollbereiches vollziehen. Dadurch hat es nicht viele andere Optionen, um die „Invasion“ zu verhindern, außer der Festigung seiner Grenzen.

Die Politik der Zugehörigkeit wird davon beeinflusst, dass die Zuwanderungsländer de facto zur Entstehung von innerer Migration beitragen. Daraus folgt unter anderem das Recht von Einwanderern darauf, nicht als Verbrecher oder „Illegaler“ wahrgenommen zu werden. Eine weitere Folge ist, dass die europäischen Arbeiterklassen, die innerhalb der vergangenen zwanzig Jahre enorme Verluste zu verzeichnen hatten, ihre Wut auf die zentralen wirtschaftlichen und politischen Gruppen richten sollten, die die Programme entworfen haben, die sich ihrer Meinung nach zerstörerisch auf die Gesellschaft auswirken.

Die Geschichte der innereuropäischen Migration zeigt, dass aus verfolgten Einwanderern im Laufe der Zeit Eltern und Großeltern europäischer Bürger geworden sind. Am bedeutsamsten ist vielleicht, dass diese Geschichte zeigt, dass die Mühe, die sich mit der Integration von Ausländern gemacht wird, auch zur Erweiterung der Bürgerrechte beigetragen und aus Europa eine offene Gesellschaft gemacht hat. Dennoch hat jede Generation ihre Konflikte und Feindschaften gegen eine jede neue Nationalität durchgemacht, die in Europa aufgenommen wurde. In den siebziger Jahren waren das die Italiener, Spanier und Portugiesen. Jetzt scheint das unvorstellbar, aber diese Feindschaften sind noch immer vorhanden, und richten sich gegen eine ganze Generation an fremden Nationalitäten und Kulturen. Die Herausforderung, Europa als eine offene Gesellschaft zu erhalten, wird zum wiederholten Mal erfordern, Mechanismen einzuführen, die die Zugehörigkeit erweitern. Nur sie sind in der Lage, die Bürgerrechte und die Offenheit zu stärken.

Special Reports / Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Das ist eine Debatte über das Wesen der europäischen Freiheit

Necla Kelek · 13 August 2013
Dank der Debattenkultur in Deutschland konnte auch über ein Buch, wie Sarrazin es geschrieben hat, diskutiert werden, die Demokratie hat in diesem Falle gesiegt. Über Sarrazin redet niemand mehr. Aber über Integration schon.

Über 16 Millionen Bürger nichtdeutscher Herkunft leben in diesem Land. 80 Prozent dieser Einwanderer haben keine Probleme, können sich hier eine Zukunft aufbauen und dabei ihre Identität wahren und haben das Land bereichert und weitergebracht. Niemand verlangt von einem Einwanderer, dass er seine Tradition verleugnet oder aufgibt. Diese Traditionen sind aber meist mit den Werten unserer Gesellschaft kompatibel und die meisten haben keine Probleme damit, einen Platz, eine Nische für sich und ihre Gruppe zu finden. Einerseits ist also die Geschichte der Zuwanderung eine deutsche Erfolgsgeschichte.

Andererseits ist die Integration gescheitert. Probleme haben diejenigen, die Kultur nicht als Konsens, sondern als Differenz leben wollen. Diese Gruppe ist fast ausschließlich im Umfeld der in konservativen Islamverbänden organisierten Scharia-Muslime zu finden. Wir reden bei diesen sich selbst ausgrenzenden Migranten über eine Gruppe von weniger als 1,5 bis 2 Millionen Bürgern. Bei dieser Gruppe kapituliert die Politik, indem sie auf das Konzept der Emanzipation verzichtet, das Europas Kern ausmacht, nämlich dass für die Zivilgesellschaft freie und gleiche Bürger gebraucht werden. Offenbar lehnen viele Migrationsforscher, Integrationsbeauftragte und die von ihnen beratenen Politiker es ab, eine europäische Wertegemeinschaft anzustreben. Für sie ist die Gesellschaft divers, vielfältig, indifferent. Eine konstruktive Integration aller Migranten ist von ihnen nicht vorgesehen. Diese Diversität wird aber ausschließlich von konservativen Muslimen und ihren Freunden, aber weder von Polen, Vietnamesen oder Spaniern verlangt. Man könnte fragen, warum.

Ich persönlich hoffe, dass die Europäer erkennen, dass Modernisierung nicht identisch ist mit Demokratisierung, siehe Saudi-Arabien und die Emirate. Es ist an der Zeit, klare Forderungen nach demokratischen Verhältnisse auch innerhalb der Migranten-Gruppen zu stellen. Wir müssen sehen, dass die Türkei in zwei Lager gespalten ist, wie auch die drei Millionen Türkischstämmigen in Deutschland zwei Lager bilden. Die anatolisch und religiös Geprägten wollen die Islamisierung mit Hilfe der AKP auch in Europa. Die Anderen wollen Europa so wie es ist. Die Debatte über den politischen Islam muss kritisch und konsequent weitergeführt werden, weil es um den Kern unserer Freiheit geht. Dies gilt auch für Sinti- und Roma-Familien, die oft patriarchalisch strukturiert sind. Ohne die Hilfe des Sozialstaates und einer aktiven Integrationspolitik kann ihre Integration nicht gelingen.

Special Reports / Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Mittel- und Osteuropa: Abbildung von Minderheiten und Beispielen für Diskriminierung

András L. Pap · 13 August 2013
Das gesellschaftspolitische Klima und die Umstände haben eine fundamentale Bedeutung für die Wahrnehmung von Minderheiten und die Einführung bestimmter politisch-rechtlicher Lösungen. Die Struktur der systematischen und institutionellen Diskriminierung hingegen – dieser spezifische Fall von gesellschaftlicher Krankheit – liefert außergewöhnlich viele Informationen über eine Gesellschaft.

Welche Gruppen als Minderheiten angesehen werden, durch welche Kriterien ihre Mitglieder definiert und auf welche Weise diese geschützt werden, hängt von den Eigenschaften einer Gesellschaft ab. Daher kann der Schutz von Minderheiten – seien es rassische, ethnische oder nationale – viele unterschiedliche Ziele haben, vom Einsatz für gesellschaftsökonomische Gleichheit über die Sicherstellung von Religionsfreiheit bis hin zum Schutz von potenziellen Opfern brutaler ethnischer Auseinandersetzungen. Aus diesem Grund können auch die Gesetze zum Schutz von Minderheiten verschiedene Formen annehmen: von der affirmative action (positiven Diskriminierung) und der Sicherstellung religiöser und politischer Freiheit der gegebenen Gruppen über die Festlegung kultureller oder politischer Autonomie bis hin zur Überwachung extremistischer Gruppen.

Die Besonderheit Mittel- und Osteuropas beim Umgang mit Minderheiten ist auf mehrere Faktoren zurückzuführen. Erstens konzentriert sich der Schutz gewöhnlich auf die traditionellen (nationalen) Minderheiten, besonders in Staaten, die selbst eine große Diaspora in ihren Nachbarländern haben. Zweitens erweisen sich die von der Europäischen Union erlassenen Antidiskriminierungsvorgaben in vielen Fällen als inadäquat oder schlecht konstruiert und bieten keine Handhabe gegen die fest verankerten, für den jeweiligen Staat charakteristischen Formen der institutionellen Diskriminierung. Und drittens sind – da es sich weder um eine wohlhabende noch gesellschaftlich oder kulturell besonders inklusive Region handelt – die neuen, nach dem Fall des Kommunismus hinzugekommenen Immigrantengruppen eher klein und haben die ebenfalls eher geringe Fähigkeit, politischen Druck auszuüben.

Die „traditionellen” und die neuen Fremden

Nehmen wir zum Beispiel Ungarn, ein Land, das – auch wenn die Länder Mittel- und Osteuropas noch weit entfernt sind von einer Homogenität der Institutionen, Gesetze und Einwanderungspolitik – viel über die Region als solche aussagt. Das Minderheitenschutzgesetz wurde in Ungarn sehr früh eingeführt: 1993, fast sofort nach dem Fall des Kommunismus. Es wurde darin die weit gefasste kulturelle und politische Autonomie von 13 „traditionellen“ Minderheitengruppen festgestellt: 11 nationalen sowie 2 ethnischen (einer winzigen, aus ca. 3000 Personen bestehenden ruthenischen und einer großen Roma-Minderheit, die offiziellen Daten zufolge etwa 3% der Gesellschaft bildet, in Wirklichkeit aber über dreimal so zahlreich sein könnte).

Eine große kulturelle Autonomie, die den Erhalt der Sprache, staatlich geförderten Unterricht in der Sprache der Minderheiten und sogar eine Minderheitenselbstverwaltung umfasst (hier ist die ungarische Lösung einzigartig und wird von vielen als möglicherweise international übertragbar angesehen), befriedigt gut die Bedürfnisse folgender klassischer Minderheiten: der deutschen, kroatischen, slowakischen, rumänischen oder polnischen. Hier muss allerdings hervorgehoben werden, dass viele Vertreter dieser Gruppen aufgrund der komplizierten Geschichte des 20. Jahrhunderts das ungarische Territorium verlassen oder aber sich assimiliert bzw. eine doppelte nationale Identität herausgebildet haben.

So sehr die den Minderheiten zugestandenen Rechte eine hervorragende diplomatische Verhandlungsgrundlage mit anderen Ländern darstellen, in denen eine ungarische Minderheit Anerkennung fordert, so wenig beziehen sie die Roma-Gesellschaft mit ein. Und damit sind die tatsächlichen Probleme der größten Minderheit nicht gelöst, denn deren Bedürfnisse gehen infolge der gesellschaftlichen Ausgrenzung weit über Fragen der Kultur hinaus.

Wenn Segregation von staatlichen Institutionen gerechtfertigt wird

Die institutionelle Diskriminierung tritt nicht nur in den traditionellen Formen auf, sondern kann auch für einen bestimmten Staat ungewöhnliche Formen annehmen, die nicht nur entsprechend angepasste Lösungen erforderlich machen, sondern auch viel über den jeweiligen Staat aussagen. Um institutionelle Diskriminierung handelt es sich dann, wenn rechtliche Entscheidungen, die einzelne Individuen betreffen – wie zum Beispiel die Zuteilung von Kindern in Schulklassen „mit besonderem Förderbedarf“ oder auch polizeiliche Stichprobenkontrollen von Personen – sich überproportional auf eine gesellschaftliche Gruppe konzentrieren.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrmals befunden, die tschechische, die slowakische und die ungarische Regierung betrieben im öffentlichen Bildungssystem eine unrechtmäßige, diskriminierende Segregation. In Ungarn wird manchmal sogar das Bildungssystem für die Roma, das ursprünglich zum Schutz ihrer Kultur eingeführt wurde, dazu benutzt, um Segregation zu verdecken und zu rechtfertigen. Des Lesens und Schreibens unkundige Roma werden von Schuldirektoren dazu gebracht, Anträge für einen besonderen Roma-Schulunterricht für ihre Kinder zu unterzeichnen. Als Resultat wird diesen Kindern einmal wöchentlich qualitativ minderwertiger Volkskunde-Unterricht erteilt, und den Rest der Zeit sitzen sie in separaten Klassen, wo die Lernbedingungen um einiges schlechter sind.

Der Kampf gegen Vorurteile bei der Polizei ist ebenso schwierig – nicht nur, weil die Polizei laut Datenschutzgesetz keine Angaben zur ethnischen Abstammung der Kontrollierten machen darf, sondern auch, weil in einer so tief von Vorurteilen geprägten Gesellschaft wie der ungarischen selbst der Hinweis auf die niedrige Effektivität von Stichprobenkontrollen nicht als überzeugendes Argument angesehen würde. Leider weckt in Ungarn eine menschenrechtsorientierte Sprache nur Verachtung und ist politischer Selbstmord. In einem Land, in dem der Begriff der „Roma-Kriminalität“ (der kriminelles Verhalten mit Ethnizität verknüpft) das Mantra nicht nur der radikalen Rechten, sondern auch Teil des alltäglichen politischen Diskurses ist, werden die Steuerzahler diskriminierende Handlungen der Polizei immer für nutzbringend und effektiv halten.

Special Reports / Diskriminiert, unerwünscht, unsichtbar?

Einwanderung in Polen: Ein Thema, das nicht zur Sprache kommt.

Katarzyna Kubin · 13 August 2013
Wer ist der Fremde in Polen? Das Thema der Einwanderung und der Integration von Einwanderern ist in Polen noch nicht politisiert worden, das heißt, es wurde noch nicht als wichtiges Element in das politische Programm irgendeiner Partei aufgenommen.

Das unterscheidet Polen von seinen westlichen Nachbarn: dort sind – nicht selten überaus hitzige – Diskussionen über die Geschichte der Einwanderung, über die Konsequenzen des Kolonialismus und der Masseneinwanderung (beispielsweise in Deutschland der Masseneinwanderung von Gastarbeitern in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts) und über die Einwanderungs- und Integrationspolitik des Staates an der Tagesordnung. Die Wähler in diesen Ländern berücksichtigen die Haltung politischer Lokalparteien in diesen Fragen, wenn sie alle paar Jahre ihre Stimme abgeben.

Sie kommen in eine Leere

Einwanderungspolitik bedeutet mehr als Vorschriften für die Vergabe von Visa, für die Bedingungen und Möglichkeiten der Aufnahme zum Beispiel eines Studiums oder einer Arbeit in Polen, für eventuelle Privilegien, die aus einer Eheschließung mit einem Staatsbürger oder einer Staatsbürgerin Polens resultieren, usw. Diese grundlegenden Fragen werden in erster Linie von dem Ausländergesetz und der es begleitenden Verordnung geregelt. Es fehlt jedoch an einer Strategie bezüglich der Einwanderung, an einer umfassenden Vision für die Prioritäten und Erwartungen, die der polnische Staat bezüglich nach Polen einreisender Ausländern hat, und für die Bedingungen, die er an den Prozesses der Integration von Einwanderern in die Gesellschaft stellt.

Im Jahr 2012 wurde ein von der Ressortübergreifenden Arbeitsgruppe für Einwanderung im Außenministerium erarbeitetes Dokument veröffentlicht, in dem erstmals eine Vision für die Einwanderungs- und Integrationspolitik in der Republik Polen vorgestellt wurde: „Die Einwanderungspolitik Polens – aktueller Stand und erforderliche Maßnahmen“ (einsehbar in polnischer Sprache auf: [Link]). Für die Erarbeitung dieses Dokumentes haben sich NGOs engagiert, die sich seit Jahren für die Einwanderer, die nach Polen einreisen, einsetzen. Das Dokument wurde öffentlich konsultiert, derzeit warten wir auf die Ergebnisse der Konsultation.

Als besonders bittere Konsequenz der in Polen fehlenden Einwanderungs- und Integrationspolitik ist für den Integrationsprozess von Einwanderern in der polnischen Gesellschaft keine staatliche Unterstützung vorgesehen. Das Ausländergesetz und die es begleitende Verordnung definieren nicht umfassend Fragen wie Hilfs- oder Bildungsprogramme, die es den Menschen erleichtern sollen, sich persönlich zu entwickeln, sich in Polen einzuleben, Arbeit zu finden und sich aktiv in das gesellschaftliche und ökonomische Leben in Polen einzubringen.

Es fehlt auch an einem System, aus dem beispielsweise diejenigen Vorteile ziehen könnten, die berufliche Qualifikationen mitbringen, die auf dem Arbeitsmarkt in Polen gefragt sind, oder diejenigen, die aktiv ihre polnischen Sprachkenntnisse ausbauen. In Polen existiert lediglich das sogenannte „individuelle Integrationsprogramm“ für diejenigen, denen die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutzstatus zuerkannt wurde. Die Zahl dieser Personen ist jedoch im Verhältnis zu allen Einwanderern in Polen äußerst gering. So hatten beispielsweise laut statistischer Angaben der Ausländerbehörde im Jahr 2012 von 111.971, die eine gültige Aufenthaltserlaubnis besaßen, etwa 3.000 das Recht, vom „Individuellen Integrationsprogramm“ zu profitieren (die Daten sind einsehbar auf: [Link]).

Obwohl sich NGOs darum bemühen, die Einwanderer, die nach Polen kommen, beim Integrationsprozess zu unterstützen, bedeutet das Fehlen einer Einwanderungs- und Integrationspolitik, dass die Arbeit dieser Organisationen nicht koordiniert wird. Selbst wenn die Vertreter und Vertreterinnen solcher Organisationen gut zusammenarbeiten, wird ihre Arbeit als Organisation von öffentlichen Geldern finanziert, deren Verteilungsstrategie sich nicht nach einer schlüssigen Vision richtet, weder bezüglich der Bedürfnisse der Einwanderer noch des polnischen Staates.

Polen als Transitland?

Es heißt, die Einwanderung in Polen habe Transitcharakter. Das entspricht jedoch nicht ganz der Realität, denn diese Überzeugung kommt daher, dass in erster Linie das Verhalten der Flüchtlinge betrachtet wird. Die große Mehrheit der Personen, die sich um den Flüchtlingsstatus in Polen bemühen, ist tschetschenischer Nationalität, viele von ihnen haben Familie und Verwandte in anderen Ländern Europas, in deren Nähe sie sein wollen. Doch die Personen, die sich um den Flüchtlingsstatus bemühen, haben in der Regel keinen Einfluss darauf, welcher Staat der Europäischen Union ihren Asylantrag prüft. Das bedeutet, dass die Personen, deren Asylantrag in Polen geprüft wird, wegen illegaler Grenzüberschreitung festgehalten werden, indessen werden derartige Vorkommnisse publik gemacht und dominieren das Bild der Einwanderung in Polen.

Anders sieht die Situation bezüglich Arbeitsmigration aus. Bevor Polen der Europäischen Union beigetreten ist, galten für die Bürger und Bürgerinnen mancher Länder, unter anderem der Ukraine, Sonderbedingungen bezüglich der Einreise nach Polen und des Aufenthalts in Polen. Im Zuge von Polens EU-Beitritt am 1. Mai 2004 wurden Polens Grenzen zu den östlichen Nachbarn, die nicht EU-Mitglieder, sind verstärkt. Man schätzt, dass die größte Immigrantengruppe in Polen heute noch immer Personen bilden, die aus der Ukraine stammen, wobei es sich nicht nur um Personen handelt, deren eigentliches Ziel der Westen ist. Solche Einwanderer gibt es viele und sie sind in Polen nicht nur auf der Durchreise, sondern sie überschreiten regelmäßig die Grenzen Polens, um ihre Familie in dem Land, aus dem sie stammen, zu besuchen, und dann wieder nach Polen zurückzukehren, wo sie leben und arbeiten oder studieren.

Die Überzeugung, dass die Einwanderung in Polen Transitcharakter hat, kann dazu führen, dass die Notwendigkeit einer schlüssigen Strategie für die Einwanderungs- und Integrationspolitik nicht als dringend betrachtet wird. Dabei würde eine solche Strategie bedeuten, dass eine bedeutende Einwanderergruppe, die in Polen lebt, arbeitet, studiert und sich entwickeln will, in manchen Bereichen mit der Verbesserung ihrer Situation in Polen rechnen könnte. Für viele Polinnen und Polen wäre das im Übrigen ein Grund, stolz zu sein darauf, dass Polen immer vielfältiger wird.

Special Reports / Freiheit, Klima, Elektrizität!

Freiheit, Klima, Elektrizität!

Kacper Szulecki · 28 May 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

über die europäische Integration, die auf Ökonomie und Politik basiert, über die Revolution der Bürger Europas, das gemeinsame kulturelle Gedächtnis, das auf der kritischen Herangehensweise an beide Totalitarismen basiert – über all das wurde schon viel geschrieben. Aber Integration auf der Grundlage von Energie? Das hat es noch nicht gegeben.

Wir sind Zeugen der Geburt dieser neuen Epoche. In Europa wird allgemein von einer unausweichlichen Erschöpfung der Kohle- und Erdölvorräte gesprochen, auf denen die Industrieära und die moderne Weltwirtschaft aufgebaut ist. Wissenschaftler unterstreichen die Rolle des Menschen im fortschreitenden Klimawandel.

Nehmen wir einmal Deutschland: Noch unter der Regierungskoalition von SPD und Grünen (1998-2005) sind dort Entscheidungen über die schrittweise Wende im Energiesektor, über „den Atomausstieg“ und die Vergrößerung der Anteile erneuerbarer Energien an der Gesamtstromerzeugung getroffen worden. Die Katastrophe in Fukushima hat diesen Prozess beschleunigt. Nach über einem Jahrzehnt seit dem Beginn dieses Programms und fast zwei Jahre, nachdem der fünfte Gang eingelegt wurde, scheint die deutsche Energiewende nicht nur durchführbar, sondern vor allem ist sie für alle ungewöhnlich inspirierend. Das Projekt, von dem man hätte meinen können, dass es weit in der Zukunft liegende Technologie betrifft, ist heute Thema in Medien, Cafés und Privatwohnungen von Köln bis Konstanz. Deutschland hat aus dem Energiewandel ein Projekt gemacht, das der Bedeutung des ersten Menschen auf dem Mond entspricht.

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Special Reports / Freiheit, Klima, Elektrizität!

Die deutsche Energiewende – der Kampf um Strom

Claudia Kemfert · 28 May 2013
Mit Claudia Kemfert spricht Kacper Szulecki über die deutsche Energiewende

Kacper Szulecki: Sie haben kürzlich ein neues Buch veröffentlicht, das den ausdrucksstarken Titel „Kampf um Strom“ trägt. Bereits im ersten Kapitel behaupten Sie, dass es unwahrscheinlich ist, die Energiewende bis 2022 zu realisieren. Dieses Datum hat Angela Merkel als Ende für die Atomenergie in Deutschland angesetzt. Ist das wirklich ein so ambitionierter Plan?

Claudia Kemfert: Die Energiewende ist mehr als nur der Ausstieg aus der Atomenergie. Uns stehen vier Jahrzehnte radikaler Veränderungen in der Energiepolitik bevor, aber die Richtung dieses Wandels muss bereits heute festgelegt werden. Die Gegner der Energiewende sagen, sie sei in diesem relativ kurzen Zeitraum nicht durchführbar, dass der Verzicht auf die Atomenergie zu Unterbrechungen in der Stromlieferung führen werde. Dabei steht fest, dass wenn im Jahr 2022 die letzten sieben deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet werden, es ausreichend Energie aus erneuerbaren Energiequellen und Gas und Kohle geben wird, um diese zu ersetzen. Niemand erwartet, dass wir vollständig zu erneuerbaren Energien übergehen. Dafür haben wir Zeit bis 2050.

Was denkt die deutsche Gesellschaft darüber?

Die Deutschen wollen den Ausstieg aus der Atomenergie und die Erhöhung des Zubaus erneuerbarer Energiequellen, dennoch schwindet die Unterstützung in der Gesellschaft zunehmend. Skepsis und Angst wachsen und werden durch verschiedene Mythen angestachelt: beispielsweise dass die Energiewende allzu kostspielig sei, dass sie sich nachteilig auf die deutsche Wirtschaft auswirke. Diese Mythen speisen sich aus den Ängsten der Menschen vor Neuem und vor der Störung der ihnen vertrauten Ordnung. Nehmen wir zum Beispiel den oft wiederholten Satz, dass die Energiepreise in Deutschland durch die Energiewende steigen und dass diese ungewöhnlich kostspielig sei. In Wirklichkeit haben auf den Anstieg der Preise viele Faktoren Einfluss, die Energiewende-Gegner machen jedoch ausschließlich das Erneuerbare-Energien-Gesetz dafür verantwortlich.

Es ist also nicht wahr, dass die Energiewende kostspielig ist?

Energie ist überhaupt teuer. Skeptiker weisen darauf hin, dass 100 Milliarden Euro für die Förderung der erneuerbaren Energien ausgegeben werden – und das klingt natürlich nach einer riesigen Summe. Aber man darf auch nicht vergessen, dass Deutschland alljährlich fossile Energien im Wert von 90 Milliarden Euro importiert. Das stellt die Energiewende in ein realistisches Licht. Die Kosten für die Förderung erneuerbarer Energien sind für die Haushalte relativ gering, es ist etwa 1 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsbudgets. Die Stromkosten hingegen betragen zwischen 3 und 5 Prozent. Das ist wesentlich weniger als das, was wir für Benzin und Heizung ausgeben. Gleichzeitig führen die erneuerbaren Energien dazu, dass die Großhandelspreise für Strom sinken. Davon profitiert die Großindustrie, die immer preiswertere Energie auf dem Großmarkt kauft. Die Preise für fossile Bennstoffe steigen stetig, und sie werden weiter steigen. Auf längere Sicht sind die erneuerbaren Energien preiswerter als fossile Brennstoffe. Deutschland investiert also sinnvoll in die Zukunft.

Was ist mit den Vorwürfen, dass dies eine Investition ist, die über die Köpfe derjenigen hinweg gemacht wird, die am meisten daran interessiert sind – die Bürger?

Die These, dass die Energiewende ein Beispiel für die Planwirtschaft ist und die Kräfte des freien Marktes verhindert, ist ein weiterer Mythos, der auf Unklarheiten beruht. Als wäre der bisherige Energiemarkt frei! Die Atomenergie und die fossilen Brennstoffe wurden lange Zeit hindurch subventioniert, doch die Konsumenten haben diese Subventionen nie auf ihren Stromrechnungen aufgeführt bekommen, so wie das jetzt mit den erneuerbaren Energien gehandhabt wird. Dieser Mythos und andere Mythen sind einfach unwahr. Dahinter stehen konkrete wirtschaftliche Interessen verschiedener Organisationen, einer Gruppe, die aus Energiekonzernen besteht, oder aber Besitzer von Kohlekraftwerke, und energieintensiver Industrien, die die Investitionen in die Energieeffizienz fürchten, aber auch aus konservativen Ideologen, die der Meinung sind, alles, was „grün“ ist, ist schlecht, weil es einen negativen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft haben wird.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach das Resultat der Energiewende auf die Zukunft Deutschlands auswirken?

Potenziell sind zahlreiche positive wirtschaftliche Folgen messbar, denn die „Green Economy“ besteht in Investitionen in innovative Technologien. Die fossilen Brennstoffe sind endlich, ihre Preise werden steigen und alle Staaten werden damit konfrontiert sein. Natürlich, je geringer der Energieverbrauch sein wird, umso geringer die Kosten, deshalb ist die Energieeffizienz einer innovativen Ökonomie ein ausgesprochen wichtiges Element in Bezug auf die Konkurrenzfähigkeit. Außerdem sind in Deutschland etwa 400.000 neue Arbeitsplätze in dem sich dynamisch entwickelnden Sektor für erneuerbare Energien entstanden, bis Ende 2011 waren es in ganz Europa 1.200.000 Arbeitsplätze. Das kann die Antwort auf die europäische Krise sein.

Die Energiewende hat auch eine ausgesprochen wichtige ökologische Dimension. Ursprünglich sollte sie der deutsche Beitrag zur Politik gegen den Klimawandel sein. Allerdings ist die CO2-Emmission der Bundesrepublik im Verhältnis zum vergangenen Jahr gestiegen.

Sie ist zeitweise gestiegen, weil mit dem Abschalten eines Teils der Atomkraftwerke der Anteil von Kohlekraftwerken am Energiemarkt gestiegen ist. Außerdem sind die Transport- und Gebäudeenergieemissionen nicht in dem Maße gesunken, dass sie diesen Anstieg im Energiesektor hätten neutralisieren können.

Hätte man eine solche negative Auswirkung nicht voraussehen können?

Statt Kohlkraftwerken werden Gaskraftwerke gebraucht, Kraftwerke mit geringen Emissionen, die man  gut volatilen erneuerbaren Energien kombinieren kann, da sie flexible einsetzbar sind. Außerdem benötigen wir Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen (die gleichzeitig Elektrizität und Wärmeenergie erzeugen – Amn. d. Red.), weil sie effient sind und sich ebenso gut mit erneuerbaren Energien kombinieren lassen. Sie sollten die Kohlekraftwerke ersetzen. Das Problem besteht jedoch darin, dass sie sich derzeit nicht rechnen. Der Gaspreis in Deutschland ist zu hoch, die Preise für die Emissionsrechte im Emissionshandelssystem (Emissions Trading Scheme – ETS – Anm. d. Red.) sind zu niedrig. Es gibt zu viele Emissionsrechte, weil bei der Entstehung des Systems allzu viele Zertifikate kostenlos ausgegeben wurden. Das Angebot ist zusätzlich vergrößert worden durch die internationalen Mechanismen im globalen UN-System. Wenn die europäischen Staaten es nicht schaffen, das Emissionshandelssystem zu reanimieren, indem sie zeitweilig einen Großteil der Rechte vom Markt nehmen, sogenanntesbackloading, wird das ETS weiter zugrunde gehen.

In Polen klingt das wie Ketzerei. Backloading wird hier beinahe einstimmig kritisiert. Ein Teil der polnischen Experten sieht darin ein Aspirin für einen Sterbenden. Für die große Mehrheit ist die Kalkulation einfacher: höhere Preise für Emissionsrechte bedeuten höhere Energiepreise. Das wiederum bedeutet den Verlust der Konkurrenzfähigkeit der Industrie. Muss die Erhöhung der CO2-Preise einen Anstieg der Energiepreise und die Abwanderung der Industrie aus Europa bedeuten?

Nein. Es hängt davon ab, wie hoch der Preis für Emissionsrechte ist und in welchem Maße er auf den Energiepreis umgelegt wird. Auf einem freien Energiemarkt führt ein höherer Preis für Emissionsrechte zu Investitionen in Technologien mit geringer Kohlenstoffintensität. Zur Abwanderung der Industrie, das sogenannte carbon leakage, könnte es kommen, wenn der Preis für Emissionsrechte auf über 60 Euro steigen würde- und es keine ausnahmen für betroffene unternehmen geben würde. Davon sind wir weit entfernt. Selbst wenn das backloading durchgeführt wird, würden die Preise für Emissionsrechte um wenige Euro steigen (im Mai 2013 betrugen sie zwischen 3 und 4 Euro – Anm. d. Red.). Preislich hätte das geringe Auswirkungen, weil die Emissionsrechte nur zeitweise vom Markt genommen werden. Wenn die Emissionspreise so niedrig bleiben wie bisher, sollten Deutschland und andere EU-Länder über die Einführung einer Emissionssteuer nachdenken, um die entsprechenden ökonomischen Impulse für die Energiewende zu geben. Großbritannien hat einen minimalen Preis für Emissionsrechte eingeführt. Das ist nicht die beste Lösung, aber es kann passieren, dass andere Länder den gleichen Weg einschlagen.

Welchen Schwierigkeiten wird sich die deutsche Energiepolitik in naher Zukunft stellen müssen?

Strom-Angebots-Wende – das ist eine bessere Bezeichnung für die bisherige Entwicklung. Das Angebot an erneuerbaren Energien Strom steigt beeindruckend stark an, aber wir benötigen mehr als das. Beispielsweise sind die Investitionen in neue und bessere Netze, oder die Fortschritte im Bereich der Speicherung von Energie noch immer unzureichend. Komplett ignoriert werden die Energienachfrage und die Energieeffizienz in der Industrie, im Transport- und im Bauwesen. Die Energiewende hatte einen guten Start, aber jetzt wankt sie und es besteht das Risiko, dass sie zum Stillstand kommt. Der Boom der erneuerbaren Energien ist durchaus ein Erfolg, aber er hat auch seine Mängel. Wir sehen weitere Investitionen in Kohlekraftwerke, was in keinem Verhältnis steht zum langfristigen Plan einer stabilen Energiewende. Wenn wir weiter in diese Richtung gehen und die CO2-Preise nicht korrigieren, werden wir am Ende die Atomenergie gegen Kohleenergie ersetzen. Das wäre schädlich für das Klima und würde die Bemühungen um die Reduzierung der Treibhausgasemission untergraben, einem Sektor, mit dem Deutschland derzeit offensichtlich nicht zurechtkommt.

Ist Polen für die deutsche Energiepolitik wichtig? Insbesondere weil es in den vergangenen Jahren einen beinahe entgegengesetzten Weg gegangen ist.

Polen ist wichtig, damit die europäischen Ziele erreicht werden können, beispielsweise die die Erhöhung der der Anteile von erneuerbaren Energien. Deutschland steigert ähnlich wie Polen seinen Anteil an Kohlekraftwerken an der Energiewirtschaft, was auf lange Sicht nicht vereinbar ist mit der Entwicklung erneuerbarer Energien. Wenn Deutschland es jedoch schafft zu zeigen, dass ein ausgeglichenes Energiesystem in einem Industrieland möglich ist und wenn die Kosten für die erneuerbaren Energien weiter sinken, werden andere Länder diesem Beispiel folgen. Polen wird früher oder später auch seine Anteile an erneuerbaren Energien und Gasturbinenkraftwerken vergrößern. Sobald die Kosten für die erneuerbaren Energien sinken, wird auch Polen mehr Anlagen zubauen. Die europäischen Staaten haben sich dazu verpflichtet, die EU-Roadmap umzusetzen und die Anteile erneuerbarer Energien bis 2050 zu vergrößern. Wichtig ist, dass alle EU-Länder einen gemeinsamen Kurs finden, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Doch die Energiepolitik ist und bleibt in der Zukunft national. Jedes Land muss für sich selbst einen Weg finden, diese Ziele zu erreichen. In der Zukunft brauchen wir dafür einen vereinigten europäischen Energiemarkt, besonders einen besser integrierten Strommarkt.

 

Special Reports / Freiheit, Klima, Elektrizität!

Der Energiewende-Verbraucher ist ein Sklave

Wojciech Jakóbik · 28 May 2013
Ursprünglich, zu Beginn der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts, war es das Ziel der Energiewende, die deutschen Konsumenten zu Prosumenten zu erziehen. Unabhängige Energieproduzenten sollten ihre eigene Energie herstellen und den Überfluss in das gemeinsame Netz einspeisen. Deutschland betonte das Bedürfnis nach Unabhängigkeit von den zur Neige gehenden und immer teurer werdenden fossilen Brennstoffen und nach Selbstbestimmung im Bereich Energie.

Derzeit sind diese Ideale in Deutschland vollkommen degeneriert. Heute wird die Energiewende von oben und mithilfe eines zentral geplanten Subventionssystems durchgeführt, unabhängig von dem Willen der deutschen Energieverbraucher, die gleich nach den Dänen die höchsten Energiepreise in Europa zahlen. Der Bundesumweltminister Peter Altmeier hat durchgerechnet, dass die Kosten für die Energiewende bis 2040 an eine Billion Euro heranreichen werden. Ökokreise wie die Initiative Agora Energiewende suchen nach Lösungen, die die Kosten der Energierevolution senken. Doch immer öfter denkt man auch über Großprojekte wie DESERTEC in der Sahara nach.

Fremde Reaktoren, bezahlt von den Bürgern

Auch der EU-Kommissar für Energie Günther Oettinger kritisiert den Energiewendeplan. Er ist der Meinung, das endgültige Abschalten der Atomenergie, das für 2022 geplant ist, wird dazu führen, dass Deutschland zwar weiterhin Atomenergie nutzen wird, aber fremde Atomenergie, die in Reaktoren außerhalb der Grenzen der Bundesrepublik hergestellt wird. Seitdem im Jahr 2000 das Gesetz für den Vorrang erneuerbarer Energien (EEG) verabschiedet wurde, steigen die Stromrechnungen schneller als die Inflation. Darüber hinaus ist seit der Bekanntgabe dieses Planes der Kohleverbrauch in Deutschland um 4,9 Prozent gestiegen, denn mit dem Abschalten der Atomkraftwerke entscheidet sich Deutschland neben erneuerbaren Energiequellen auch für die billige Kohle. Hinzu kommt, dass – wie die Deutsche Energie-Agentur einschätzt – in der Bundesrepublik mehrere Dutzend Kohle- und Gaskraftwerke entstehen müssen, damit die geplanten Ziele der Energiewende erreicht werden können. Kraftwerke, die fossile Brennstoffe verarbeiten, sollen eine Alternative im Falle von Unterbrechungen in der Versorgung mit erneuerbaren Energien sein, die beispielsweise bei abruptem Wetterwechsel eintreten können. Eine andere Alternative ist der Import von elektrischer Energie.

Kritiker der Energiewende betonen, dass diese sich durch die Zuschüsse vor allem in den Portemonnaies des Ottonormalverbrauchers bemerkbar mache. Die Prosument-Ideen bleiben unverwirklicht, im Gegensatz zu den Interessen mancher Lobbys, wie beispielsweise der Verkäufer von Solarzellen und Windrädern. Die Energiewende wird auch von der Europäischen Kommission befürwortet, die eine Intervention auf dem CO2-Emissionsrechte-Markt unterstützt (Emission Trading Scheme – ETS), backloadinggenannt. Die Beamten in Brüssel sind der Meinung, diese Zertifikate seien allzu preiswert, wodurch sie unzureichend dazu anregen, sich von den „schmutzigen“ fossilen Brennstoffen abzuwenden. Deshalb wollen sie die Preise für die CO2-Emissionsrechte künstlich anheben, indem sie eine Zeitlang einen Teil der Rechte vom Markt zurückziehen. Ziel dieser durch und durch marktungünstigen Strategie ist die Anhebung der Kosten für Investitionen in konventionelle Energie solange, bis die Investitionen in erneuerbare Energien konkurrenzfähiger werden. Die Eurokraten stehen vor einer schwierigen Aufgabe, denn gegen backloading haben sich bereits die Lobby der energieintensiven Industrie, Polen und die Mehrheit der Abgeordneten im Europäischen Parlament ausgesprochen. Deutschland war in dieser Frage uneinig. Das Thema soll auf der Agenda der Europäischen Kommission bleiben.

Polityk---diabe?-energetyczny

Die zentrale Steuerung der Energiewende steht in keinem Verhältnis zur ursprünglichen Idee der dezentralen Stromerzeugung, die auf erneuerbarer Energie beruhen sollte, die „von unten“ durch freiwillige Prosumenten hergestellt wird. Heute sind die Endverbraucher in Wirklichkeit Sklaven der Energiewende. Solche dermaßen kostspieligen Programme wie die deutsche Energiewende senkt die Konkurrenzfähigkeit Europas im Verhältnis zu wachsenden Großmächten wie beispielsweise China. Damit hängt das sogenannte carbon leakage-Phänomen zusammen – die Abwanderung der Schwerindustrie außerhalb der Grenzen des überregulierten Alten Kontinents. Vorbote dieses Wandels ist vielleicht der Handelskrieg zwischen der EU und dem Reich der Mitte, dessen billige Solarzellen eine ernste Herausforderung für den deutschen Sektor für erneuerbare Energie ist, der seinen Absatzmarkt auf dem Alten Kontinent verteidigen muss. Möglicherweise machen die billigen Anlagen aus China den Europäern eine selbstständige Energiewende in ihren eigenen Häusern möglich.

Der polnische Kampf um Unabhängigkeit im Bereich Energie

Der derzeitige Umweltminister Marcin Korolec hat weitreichende Bemühungen unternommen, um eine rationale Antwort auf die Klimapolitik der EU zu finden. Dank seiner Initiative wird die UN-Klimakonferenz im November in Warschau stattfinden. Dies gestattet den Polen ein Heimspiel um die Zukunft der Klimapolitik.

Korolec ist skeptisch bezüglich der Absicht, die Klimaziele noch höher zu setzen. Derzeit bemüht sich Polen, die aktuellen Ziele zu erfüllen, drei mal 20 Prozent bis 2020. Die EU hatte beschlossen, bis zu diesem Zeitpunkt die CO2-Emission um 20 Prozent zu senken, den Anteil erneuerbarer Energien am Energiemix um 20 Prozent zu steigern und die Energieeffizienz um 20 Prozent zu erhöhen. Polen hat auf diesem Weg große Fortschritte gemacht. Wir haben innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte das Bruttoinlandsprodukt verdoppelt und gleichzeitig die Emission von Treibhausgas um fast 30 Prozent reduziert. Korolec warnt davor, voreilig sogenannte Meilenschritte zu machen, mit denen die Europäische Kommission noch ehrgeizigere langjährige Pläne auferlegt. Er würde sich wünschen, die Europäische Union hielte sich mit der Entscheidung bis zum Abschluss der globalen Klimaverhandlungen, der für 2015 vorgesehen ist, zurück. Womöglich rechnet er damit, dass im Laufe dieser Verhandlungen die ökonomische Kalkulation die Oberhand über die Ideologie gewinnt und es kein „neues Kyoto“ geben wird.

Polen muss in der Energiewirtschaft auf Innovation setzen. Wir sollten unsere Wissenschaftler bei der Suche nach innovativen Lösungen unterstützen. Es wäre gut, wenn die Entwicklung des Sektors für erneuerbare Energien einer schrittweisen Deregulierung unterläge und die Grundsätze so einfach wie möglich wären. Polen kann sich ein weiteres Sozialprogramm wie die deutsche Energiewende nicht leisten, ebenso kein strengeres Regime in der Klimapolitik. Wenn die Ökologen die hohen Zuzahlungen für den Bergbau kritisieren, ist es Zeit, dass sie sich für die Argumente von Kritikern der Subventionierung erneuerbarer Energiequellen öffnen. Die erneuerbaren Energien sollten sich von unten her entwickeln, so wie es in den Prosument-Ideen angelegt war. Umso mehr wird die Antwort auf die Frage nach der Richtigkeit der Klimapolitik und der etatistischen Steuerung der Energiepolitik in den kommenden Jahren zentrale Bedeutung für die Konkurrenzfähigkeit der Industrie in Polen und Europa haben.

 

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Energierevolution und Energiekonterrevolution

Grzegorz Wiśniewski · 28 May 2013
In der Energiepolitik sucht Polen nicht nach Verständnis und Dialog mit Deutschland, es will nicht von den Erfahrungen profitieren, es sucht nicht nach Kompromissen.

Deutschland verfolgt seit zwei Jahrzehnten konsequent einen Wandel der Wirtschaftsparadigmen, indem es eine Energiewirtschaft anstrebt, in der zwischen Umwelt und Technik Balance besteht. Polen entwickelt seinen Energiesektor immer stärker in Opposition zu Deutschland, indem es ein immer anachronistischeres Modell festigt, das für das 19. Jahrhundert typisch war und auf einem zentralen Kohlekraftwerk beruhte, bzw. seinen Nachfolger, ein Energiewirtschafts-Modell aus der Mitte des 20. Jahrhunderts: das Atomkraftwerk. Dies führt zu immer stärkeren Missklängen in den generell guten Beziehungen zwischen Polen und Deutschland.

Die Opposition der Polen gegenüber der deutschen Energiepolitik wird seit 2008 stärker, als nach der politischen Akzeptanz des EU-Klimaschutzpakets „3×20” die EU über die Gestalt der Direktiven bezüglich des Emissionsrechtehandelssystems, der Technologie der „sauberen Kohle“, der erneuerbaren Energien und über Mittel zur Umsetzung der Ziele bezüglich der Energieeffizienz entschieden hat. Zur gleichen Zeit setzte die deutsche Regierung bereits eine neue Strategie aus dem Jahr 2006 in die Praxis um, gemäß derer bis zum Jahr 2022 die Atomkraftwerke abgeschafft und durch die Überschussproduktion aus erneuerbaren Energiequellen ersetzt werden sollen. In den schwierigen Verhandlungen Ende 2008, die der endgültigen Form der EU-Richtlinien bezüglich Energie und Klima gewidmet waren, suchte Polen nicht etwa bei seinem westlichen Nachbarn Unterstützung, sondern in den neuen EU-Ländern und in Frankreich, was die Kohleenergie gestärkt hat und Impuls wurde zu einer voreiligen Entscheidung der Regierung für den Bau eines Atomkraftwerkes. Das führte auch dazu, dass trotz der starken Förderung von erneuerbaren Energien durch die EU, die Einführung von Förderungsrichtlinien dafür ganz am Ende auf der Prioritätenliste der polnischen Regierung landete. Dieses Denken ging dann 2009 in die „Energiepolitik Polens bis 2013“ ein und zementierte die Widersprüche zwischen Polen und Deutschland.

Die Deutschen romantisch – die Polen pragmatisch?

Die Katastrophe in Fukushima bestätigte die Richtung der Energiepolitik in Deutschland, vertiefte aber auch diese Unterschiede. Die endgültige Entscheidung der deutschen Regierungskoalition über den vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahr 2022 wurde in Polen als ein Ergebnis irrationaler Emotionen nach dem Tsunami dargestellt, auf deren Grundlage die „Grünen die (romantischen?) Deutschen gegen die Atomenergie aufgewiegelt haben“ (so sieht das beispielsweise der EU-Abgeordnete Konrad Szymański). Wie zum Spotte werden vor diesem Hintergrund weiterhin Aussagen polnischer Energiefirmen als pragmatisch bewertet, dass, obwohl der deutsche Durchbruch ein von den wirtschaftlichen Realien losgelöstes Konzept ist, er gut für Polen sei, weil er den Weg zum Energieexport aus polnischen Kohlekraftwerken nach Deutschland öffne.

Niemand will sehen, dass hier etwas ganz anderes vor sich geht: Deutschland produziert einen Energieüberschuss, den es exportiert. So wie eine Reihe anderer EU-Länder (z.B. Großbritannien) führt es im Zuge der Umsetzung des Klimapakets ein breit angelegtes Investitionsprogramm ein, das auf erneuerbare Energien ausgerichtet ist. Die EU baut jährlich etwa 25-30 GW an neuen Anlagen auf und das sind in der entschiedenen Mehrheit Leistungen aus erneuerbaren Energiequellen. Die Preise für Energie aus diesen Quellen sind inzwischen niedriger als für Energie aus fossilen Brennstoffen, und dieser Prozess lässt sich weder aufhalten noch rückgängig machen. Unterdessen hat die opportunistische Herangehensweise an das Klimapaket in Polen dazu geführt, dass keine neuen Anlagen entstehen, nicht einmal Installationen, die in der Lage wären, die abgeschalteten alten Kohleblöcke zu ersetzen. Polen droht bereits in den Jahren 2015-2016 ein Energiedefizit. Leider werden die grundlegende Skepsis gegenüber der Energiewende, darunter die Unterschätzung des Potenzials für die inländischen erneuerbaren Energien, dazu führen, dass Energie importiert werden muss, unter anderem aus Deutschland, was wieder zu Nährboden für neue „Verschwörungstheorien“ werden und irrationale Entscheidungen in der neuen Energiepolitik hervorrufen kann.

Energielobby statt Staat

Die fehlende Wahrnehmung und Bagatellisierung der Rolle von erneuerbaren Energien, oder die Blockierung ihrer Einführung, wofür die beinahe dreijährige Verspätung bei der Einführung der EU-Richtlinien ein Beispiel ist, öffnet eine Pforte für die Atomenergie und bisher nicht geprüfte Optionen in der Energiewirtschaft wie das Schiefergas oder CCS (Carbon Capture and Storage – Reduzierung von CO2-Emissionen in die Atmosphäre durch die technische Abspaltung am Kraftwerk und Einlagerung in unterirdische Lagerstätten – Anm. d. Red.). Angesichts dessen haben es in Polen die sogenannten unabhängigen Produzenten von grüner Energie und ausländische Energiefirmen schwer, die außerhalb Polens in einer inzwischen komplett anderen Wirklichkeit tätig sind. Polnische Konzerne können ohne ein klares Signal seitens der Regierung zu Veränderungen den technologischen und strukturellen Abstand zur EU nicht aufholen.

Andererseits werden angesichts des Mangels an anderen bedeutenden Marktteilnehmer die inländischen Konzerne zum wichtigsten Adressaten der Energiepolitik, zum illusorischen Garant der Energiesicherheit im Land. Einflussreiche Kreise, die mit Energiekorporationen vernetzt sind, verzahnen sich mit der staatlichen Verwaltung, entfernen Polen immer weiter von der Wende in der Energiepolitik und erschweren sogar den evolutionären Wandel, indem sie über Jahre hinweg Einfluss auf die Form der Politik und die Regulierungen nehmen. Es entsteht der Eindruck, dass nicht die Konzerne die Energiepolitik des Staates umsetzen, sondern andersherum – der Staat setzt die Ziele der Konzerne um.

Polen und Deutschland am Energiescheideweg

Im Ergebnis unterscheiden sich die Politik und die Energiesysteme in Polen und Deutschland immer stärker, insbesondere bezüglich erneuerbarer Energien. Die installierte Leistung erneuerbarer Energien in Deutschland ist mehr als doppelt so hoch als die gesamte installierte Leistung des Energiesektors in Polen, und der Anteil an Leistungen aus erneuerbaren Energien im deutschen System (über 41 Prozent) ist beinahe fünf mal höher als an der Weichsel. Trotz allem kommen die deutschen Anbieter ausgezeichnet zurecht mit dem Ausgleich umfangreicher Leistungen aus instabilen Quellen (wie Wind- und Solarenergiewerke), während die polnischen Anbieter die Regierung von der angeblichen Bedrohung der Energiesicherheit selbst bei einem sehr geringen Anteil an Solar- und Windenergie überzeugt haben.

Noch größere Unterschiede treten in der Struktur der Eigentumsverhältnisse von erneuerbaren Energien auf, insbesondere im derzeit dynamischsten Segment, nämlich in der „ProSumer-Energiewirtschaft“. In Deutschland waren bereits im Jahr 2010 über vier Millionen Produzenten von Strom aus erneuerbaren Energiequellen tätig. Die Mehrheit dieser Produzenten besaß kleine Anlagen (durchschnittliche Leistung etwas 20kW). In der Übersicht wird die Struktur der deutschen Investoren in der gesamten Branche für erneuerbare Energien dargestellt und, als Beispiel, die Photovoltaik (stellt Strom aus Sonnenenergie her, Anm. d. Red.).

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Abb. 1 Struktur der Investoren in erneuerbare Energien (über 4 Millionen Anlagen) sowie in Photovoltaik (PV) in Deutschland im Jahr 2010. Quelle: Unendlich-viel-Energie, Ausarbeitung des IEO.

Wie man sieht, sind etwa 11 Prozent aller Investoren in erneuerbare Energien (Anteil an der gesamten installierten Leistung) Landwirte, im Photovoltaiksektor beträgt ihr Anteil 22 Prozent. Landwirte allein haben in den PV-Sektor über 14 Milliarden Euro investiert. Physische Personen (Haushalte) in Deutschland investieren hauptsächlich in erneuerbare Energien (etwa 40 Prozent des Anteils an der installierten Leistung), während traditionelle Energiekonzerne 13 Prozent und im PV-Segment gerade einmal 3 Prozent der installierten Leistung besitzen.

Im Vergleich zu westlichen Ländern sieht in Polen im Bereich Kleinanlagen die Situation vollkommen anders aus. Im Jahr 2010 gab es 1.043 Energieproduzenten im Segment Kleinanlagen bis 5 MW. Sie gehörten meistenteils zu unabhängigen Energieproduzenten. Der Anteil dieses Segments an der Energieproduktion aus erneuerbaren Energien beträgt jedoch lediglich etwa 15 Prozent. Zwanzig der größten Produzenten von Energie aus regenerativen Quellen stammen von vier inländischen Energiekorporationen und liefern über 70 Prozent der Gesamtproduktion grüner Energie, was den inländischen Markt für regenerative Energiewirtschaft deutlich unterscheidet von den höher entwickelten Märkten anderer Länder. Im Kleinstanlagensegment – unter 50 kW – war nur eine verschwindend geringe Anzahl (257) an das Energienetz angeschlossen.

Ohne Prosumenten keine Revolution

Die deutsche Energiepolitik genießt die Unterstützung von Bürgern, die grüne Energie produzieren oder für die grüne Industrie tätig sind. Die politische und regulative Blockade der Entwicklung von erneuerbaren Energien, insbesondere von Kleinanlagen, verhindert die Entstehung eines Prosumentensektors, und dieser Mangel erschwert die Durchführung notwendiger Veränderungen in der polnischen Energiepolitik und führt zur Festigung ihrer archaischen Strukturen. Die fehlende Perspektive für den inländischen Markt für erneuerbare Energien erschwert auch die Entwicklung der Industrie, die Anlagen für erneuerbare Energien herstellt, wodurch Polen eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der sogenannten grünen Energie verliert.

Polen, das in der Energiewirtschaft zu Recht auf Sicherheit und Konkurrenzfähigkeit setzt (obwohl es unnötigerweise die Klimaziele negiert), verschlechtert in der Praxis ohne eine auf Masse ausgerichtete und dezentrale regenerative Energiewirtschaft seine Situation in beiden Bereichen. Das beinahe programmatische Auseinandergehen der polnischen Energiepolitik mit der deutschen ist nicht gut für Polen, und es hilft Deutschland nicht bei der Umsetzung der schwierigen aber notwendigen Energiewende.

 

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Energierevolution auf Schwejk’sche Art

Jakub Patočka · 28 May 2013
Lasst euch nichts vormachen, es ist nicht Deutschland, das uns mit seiner solaren Hexenkunst irre machen will. Wen es interessiert, wer dafür verantwortlich ist, der schaue in den Himmel.

Bezüglich der Politik für erneuerbarere Energien gibt es in Europa zwei Herangehensweisen. Einerseits sind das die Länder, die den Wunsch haben, oder denen es sogar ein Anliegen ist, die Energiewende zu fördern. Deutschland ist es gelungen, aus der Energiewende das größte intellektuelle und ökonomische Abenteuer der Gegenwart zu machen. Für das nationale Projekt, das den Beginn der „grünen Ära“ bedeutet, hat das etwa den gleichen Stellenwert als hätte Deutschland den ersten Menschen auf den Mond geschickt.

Die zweite Gruppe sind Länder, die offen skeptisch oder der Energiewende abgeneigt sind. Schaut man sich die Europakarte an, die die Trends in der Entwicklung erneuerbarer Energiequellen im Verhältnis zur inländischen Energiewirtschaft abbildet, fällt auf, dass in diesem Bereich der Eiserne Vorhang noch immer unangetastet ist. Als wäre die Einstellung zu erneuerbaren Energien Abbild des allgemeinen Zustandes der politischen Kultur.

Das Solar-Eldorado der Korruption

Nichts bestätigt diesen Verdacht besser als das Beispiel der Tschechischen Republik. Die hiesigen Politik- und Wirtschaftseliten haben ein recht subtiles und wahrhaft teuflisches Kunststück vollbracht. Einerseits wurde die vom Staat geförderte Werbekampagne als „Förderung der erneuerbaren Energien im deutschen Stil“ gekonnt manipuliert, und zwar so, dass absurdal hohe Geldsummen in den Händen von Vertretern der Politik- und Wirtschaftseliten gelandet sind, die privilegierten Zugriff auf die Subventionen hatten.

Andererseits wurde das Scheitern dieser ganzen Kampagne geschickt politisch ausgenutzt, obwohl dieses Scheitern aus der Frustration der Gesellschaft angesichts rapide anwachsender Korruptionsvermögen resultierte, die durch die vom Staat garantierten Preise für Strom aus erneuerbaren Energiequellen möglich geworden waren. Im Ergebnis sieht die Gesellschaft in der regenerativen Energiewirtschaft, insbesondere in der Solarenergie, den Grund für alle Verluste und Unwirtschaftlichkeiten, ohne die Rolle der politischen und ökonomischen Struktur zu bemerken, die zu dieser Unwirtschaftlichkeit und zur Veruntreuung beigetragen haben. Es wird betont, dass die gesamte Gesellschaft mit ihren individuellen Stromrechnungen für das Regierungsprogramm zahlen muss. Obwohl es sich nachweisen lässt, dass nur ein geringer Teil des Stroms, für den die Energiekonzerne Preiserhöhungen vorgenommen haben, aus erneuerbaren Energiequellen stammt, ist es gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, die Schuld für die gesamte Situation bei der Sonne zu suchen.

Das war vermutlich nicht beabsichtigt. Aber als die satten, korrupten tschechischen Eliten die Chance sahen, zusätzliche Gelder aus dem öffentlichen Budget zu schlagen, konnten sie der Versuchung nicht widerstehen. Als dann klar wurde, dass der Ansturm auf die Gelder allzu offensichtlich gewesen war, und als die öffentliche Meinung tobte, musste ein Sündenbock gefunden werden. Und weil diejenigen, die den größten Nutzen aus dem Solar-Eldorado ziehen gar nicht an einem ökologischen Programm interessiert sind – meistenteils sogar dagegen sind – wurde dieses Programm zum idealen Sündenbock.

Ein Schritt vorwärts, zwei zurück

Und so haben wir eine Energiewende auf Schwejk’sche Art. Fragen Sie einen durchschnittlichen tschechischen Bürger, wer sich die Gelder angeeignet hat, die der Entwicklung regenerativer Energiequellen dienen sollten, lächelt er gutherzig und zeigt mit dem Finger auf die Sonne.

Doch das war erst die erste Etappe. Die tschechische Version der Energiewende hat auch eine zweite Etappe vorzuweisen. Wenn die öffentliche Meinung mit erheblicher Unterstützung unermesslich inkompetenter tschechischer Medien davon überzeugt wurde, dass die regenerativen Energiequellen für uns nicht die Zukunft sind, was kann dann die Zukunft sein?

Sie haben es erraten. Als wollte sie ihrer Empörung über die Tatsache, dass die Gelder aus dem Fördersystem für erneuerbare Energien ausgegeben sind, Luft machen, zieht die Regierung allen Ernstes einen Beschluss zum Bau eines dritten und vierten Blocks im Atomkraftwerk in Temelín in Erwägung. Das würde 20 Milliarden Euro kosten und wäre die mit Abstand größte Investition in der tschechischen Geschichte.

Mehr noch, denn unter technischen Gesichtspunkten soll diese Lösung den erneuerbaren Energiequellen ähneln. Während für die Solarenergie für fünfzehn Jahre feste Preise garantiert waren, soll die Atomenergie für den bisher unvergleichlichen Zeitraum von 40 Jahren gefördert werden, was eine buchstäbliche Einbetonierung der Energiepolitik für die Zeit von zwei Generationen bedeuten würde. Darf man fragen, warum jemand etwas so Verrücktes tun sollte? Tja, zehn Jahre der beinahe unangefochtenen Atompropaganda haben in der Mehrheit der tschechischen Gesellschaft eine Art Nationalstolz auf den Atomstrom entstehen lassen. Das ist einer der besten Beweise dafür, wie irrational nationale Selbstzufriedenheit sein kann.

Natürlich ist das Ziel des Projektes, ein neues riesiges Loch zu schaffen, das die tschechische politische Korruption versorgen soll. In jedem Falle kann sich die aktuell regierende Koalition der rechten tschechischen Parteien mit diesem Projekt ernähren, was bei weitem nicht bedeutet, dass die linke Opposition nicht von Korruption infiziert ist.

Ein Atomprojekt nach unseren Möglichkeiten

All das soll in einer Situation stattfinden, da die internationale Debatte um die Zukunft der Atomenergie im Grunde bereits erschöpft ist. Es besteht keine Notwendigkeit, über Sicherheit, Atommüll und Ethik zu diskutieren, wenn klar geworden ist, dass die gesamte Technologie anachronistisch und unbeholfen ist. Die Atomenergie scheint heute das zu sein, was die Dampfmotoren zu Beginn der Dieselepoche waren. Doch die Tschechen haben Erfahrungen mit einer solchen Politik. Schließlich hatte zu Beginn der LCD-Fernseher-Ära der Staat dem Konzern Philipps hohe Gelder zur Verfügung gestellt, um in Tschechien Fabriken für traditionelle Fernsehbildröhren zu bauen.

Wenn die Atomenergie als Tool für die Förderung der nationalen Souveränität beworben wird, sollte es niemanden wundern, dass im Zentrum der Debatte die Frage steht, ob dieses Großprojekt von den Amerikanern oder den Russen durchgeführt werden soll. Lasst euch nichts vormachen, es ist nicht Deutschland, das uns mit seiner solaren Hexenkunst irre machen will. Wen es interessiert, wer dafür verantwortlich ist, der schaue in den Himmel.

Special Reports / Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Jarosław Kuisz · 5 March 2013

Sehr geehrte Damen und Herren,

Wenn der sozialdemokratische Finanzminister eines großen EU-Landes erklärt, der Sozialstaat werde nicht abgeschafft, sehr wohl aber müsse der Sozialstaat auf Schulden abgeschafft werden, dann klingt das wie ein eristisches Kabinettstück – und gibt Anlass zu Besorgnis.

Die beiden Experten Jørgen Goul Andersen und Knut Halvorsen attestieren den europäischen Politikern in ihrem Buch zur Geschichte des europäischen Wohlfahrtsstaates eine weitreichende Amnesie: Sie hätten die einfache Wahrheit vergessen, dass dem Wohlfahrtsstaat ursprünglich die Idee zugrunde lag, durch die finanzielle Unterstützung einzelner Bürger könne man ihnen zu größerer individueller Freiheit und zu einer aktiveren Teilhabe an der Gesellschaft verhelfen. Heute ist nur noch die Rede von astronomischen Schulden, nicht konkurrenzfähiger Wirtschaften im Euroraum und unzufriedenen Bürgern. Bisweilen kann man sogar den Eindruck gewinnen, als fühlten sich alle irgendwie betrogen. Vielleicht sollte man also dem Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln für seine Offenheit danken, wenn er konstatiert, der Wohlfahrtsstaat sei Geschichte.

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Special Reports / Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

In der Krise verliert die Demokratie immer mehr an Bedeutung

Wolfgang Streeck · 5 March 2013
Wolfgang Streeck im Gespräch mit Karolina Wigura

Karolina Wigura: Herr Streeck, wie ist es um die gegenwärtige Verfassung des europäischen Wohlfahrtsstaats bestellt?

Wolfgang Streeck: Wir sehen ganz deutlich, dass im Mittelmeerraum, einschließlich Portugal, Italien und Griechenland, 50 Prozent der jungen Menschen arbeitslos sind, die Renten ständig gekürzt werden, die Gesundheitssysteme an ihre Grenzen stoßen und zum Teil bereits zusammen gebrochen sind. Diese seit den 1930er Jahren längste Krise – sie ist ja schon fast fünf Jahre alt- ist der Anlaß dafür, dass in diesen Ländern alles was man mit dem Wohlfahrtstaat, Versicherungen, Arbeitsmarktpolitik usw., mit dem ganzen demokratischen Kapitalismus verbindet, sozusagen radikal abgeräumt wird. Aufgrund seiner Wirtschaftsstruktur ist Deutschland in einer ganz anderen Situation. Wir sind nicht so auf Finanzen und Banken konzentriert wie zum Beispiel Großbritannien. Und wir können diese wunderschöne Audis und Mercedes und Volkswagen in die Welt exportieren… Man kann aber selbst in Deutschland einen Prozess des Staatsabbaus, des Rückbaus des Staates, beobachten. Überall ist auch die Liberalisierung der sozialen Sicherheitssysteme zu beobachten. Großbritannien ist ein klassischer Fall, aber auch die skandinavischen Länder befinden sich in einem Prozess der systematischen Beschränkung staatlicher Aufgaben im Bereich der sozialen Sicherung.

Was sind die Ursachen dieses Prozesses?

Die Wohlfahrtstaaten sind heute in hohem Masse verschuldet. Und diese Schuldenpyramide hat zur Folge, dass die Kreditgeber – also die Geldmärkte – immer stärkere Beweise dafür verlangen, dass diese Schulden in Zukunft bedient werden können. Das ist eher ein Kampf der Rentiers gegen die Rentner. Verstehen Sie, die Rentiers sind die, die Zinsen bekommen und die Rentner sind die, die Renten bekommen… Wer hat als erster Anspruch auf die Konkursmasse des Wohlfahrtstaats? Die Rentiers sind natürlich der Absicht, es muss durchgesetzt werden, dass sie die ersten sind. Historisch waren aber Staaten immer in erster Linie dem Bürger verpflichtet, und nicht den Finanzmärkten. Es gibt aber keine Möglichkeit im internationalen Recht, womit die Staaten völlig einseitig erklären könnten, dass sie ihre Schulden nicht mehr bezahlen können. Deshalb wird dieses Problem zur Zeit gelöst, indem die Staaten unter Druck gesetzt werden, in erster Linieund zur Not auf Kosten ihrer Bürger ihre Schulden zu bezahlen.

Wenn wir über die wichtigsten Quellen der Legitimität für das europäische Projekts nachdenken, finden wir meiner Meinung nach zwei. Erstens, die Angst von der totalitären Vergangenheit. Zweitens, das Versprechen von Wohlfahrt, das für Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Europäischen Sozialstaat verbunden wurde. Wir sind aber in der Mitte eines Prozesses des Vergessens: Für die neuen Generationen der Europäer ist das Motto „Nie weniger“ immer weniger klar. Mit der Krise des Wohlfahrtstaates ist auch die zweite Quelle der Legitimität hinfällig… Finden Sie diese Situation für die Europäische Union gefährlich? Wo können wir nach neuen Legitimitätsquellen suchen?

Ich bin nicht sicher, ob man das so sagen kann. Was dem ersten Teil betrifft, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Nach dem Krieg ging es darum, den westlichen Teil Deutschlands so anzubinden, dass von Deutschland keine Gefahr mehr ausgehen konnte. Das war zum Teil gesichert durch die deutsche Teilung, und zum Teil dadurch, dass man den Deutschen eine Möglichkeit eröffnet hat, in Europa friedlich zu leben. Und dieses Leben bestand darin, dass die Deutschen, die immer eine starke Industrieproduktion hatten, die gesicherte Möglichkeit bekamen, ihre Waren innerhalb Europas zu verkaufen. Die Sicherung der Absatzmärkte, die für Deutschland immer ein zentrales Problem war, wurde auf diese Weise sichergestellt.

Und was den Wohlstand betrifft?

Der entstand so, dass man die Märkte erweiterte, und dies hatte eine im klassisch liberalen Sinne Herstellung von Wohlstand durch Freihandel zur Folge. Eine notwendige Korrektur der Marktwirtschaft auf nationaler Ebene in Gestalt desWohlfahrtstaats hat stattgefunden. Märkte wurden eingerichtet, man musste diese aber gleichzeitig korrigieren, soziale Sicherheiten einbauen, Streikrechte gewährleisten usw. Diese Korrekturen fanden auf nationaler Ebene statt. Und dies ging bis in die 1990er Jahre gut, als die Liberalisierung der Ökonomie in Westeuropa einen Punkt erreicht hatte, wo sie auch die nationalen – nennen wir sie mal – „Marktbremsungsregime“ anfing, anzugreifen. . Seitdem ist die EU eher zu einer Kraft des Neoliberalismus und weniger des Wohlfahrtstaats geworden. Wir haben heute eine Situation, in der die alten Formen des Schutzes vor Märkten in den westlichen Ländern ständig durch die Europäische Kommission aus Brüssel angegriffen und dominiert werden. Insofern kann man nicht mehr sagen, dass die Legitimität der europäischen Integration heute auf der Korrektur des Marktes basiert, sondern sie basiert auf der Durchsetzung des Marktes.

In ihren Büchern schreiben Sie, dass die Meinung, dass Demokratie und Kapitalismus integriert werden können, in Wirklichkeit eine Illusion war. Denken Sie, dass hier der Fehler gemacht wurde? Ich muss sagen, ihre Diagnose ist aus der polnischen Perspektive nur schwer zu akzeptieren, da in Polen die marktwirtschaftliche Reformen schnell den demokratischen Durchbruch zur Folge hatten…

In Wirklichkeit haben bis 1945 nur wenige Leute geglaubt, dass eine Gesellschaft sowohl kapitalistisch als auch demokratisch sein kann. Es gab immer Angst vor dem Konflikt zwischen den alten feudalen Eliten und der Arbeiterbewegung. Das genau gab es in Deutschland zwischen den Kriegen. Erst nach 1945 – in dieser historisch einmaligen Situation, in der der Westen mit dem Osten konfrontiert wurde – erst da ist es für eine längere Zeit gelungen, diese beide Ordnungen – die kapitalistische Wirtschaftsordnung mit der demokratischen politischen Ordnung in einem Land zu vereinigen. Das hatte aber eine ganze Reihe von Voraussetzungen. Dazu gehörte z. B, dass die Demokratie den Markt korrigieren konnte. Kapitalismus ohne Umverteilung ist nicht akzeptabel für die Menschen. Das bedeutete weniger Ungleichheit, mehr soziale Sicherheit, progressive Besteuerung, kostenlose Gesundheitssysteme usw. Seit den 1970er Jahren sehen wir, das die Möglichkeit diese Forderungen durchzusetzen immer mehr zurückgeht. Denken sie nicht, dass hier nur die Krise wirkt. Diese Abbauprozesse, die hier stattfinden sind von Dauer. Wir haben die Kapitalmärkte soweit liberalisiert, dass diejenigen, die in Griechenland Steuern kassieren konnten mittlerweile in London sind.

Würden Sie sagen, dass in dieser Situation die Occupy Bewegungen eine Chance haben, eine wirkliche Veränderung durchzusetzen?

Unter dem Druck der Finanzmärkte und der Krise bedeutet Demokratie immer weniger. Und die Menschen sind in diesem Alltag gefangen. Sie werden auch dadurch unter Druck gesetzt, dass die Regierungen sagen, das machen wir nicht, und das auch nicht, damit die Zinsen auf unsere Schulden nicht wachsen. Die Finanzsysteme sind mittlerweile so komplex und abstrakt und undurchschaubar geworden, dass wenn man jetzt von den Leuten verlangt, dass jemand mit einer Alternative kommt, sie ganz erschrocken sind.

Wir haben bis jetzt über die West- und Südeuropäischen Länder gesprochen. Und wenn wir jetzt Mittel- und Osteuropa anschauen? Hat Polen, heute der größte Nutznießer des europäischen Budgets, ähnliche Probleme?

In Polen ist dasselbe Schicksal möglich wie in den Mittelmeerländern, nur zeitverzögert. Wenn sie in die 1980er Jahre zurückschauen, dann haben die Mittelmeerländer aus Brüssel laufend erhebliche Mittel bekommen, genau wie Polen jetzt. Dann kam aber 1989.Südeuropa konnte nicht mehr wachsen. Brüssel hat angefangen die Mittel nach Osteuropa zu schicken.Anfang der 2000er Jahre hat es dann im Mittelmeerraum, unter anderen durch die Währungsunion, eine Senkung der Zinsen auf Schulden gegeben. Die Idee war, dass man mit den Schulden ersetzen konnte, was man aus Brüssel nicht mehr bekommen konnte. Wenn Polen nicht dasselbe Modell widerholen möchte, müsste es, bevor es zu spät ist, strategisch anders über die Zukunft denken. Das heißt, die regionalpolitischen Förderungsmittel so einzusetzen, dass diese nicht nur konsumptiven Charakter haben. Wenn Sie das hinkriegen, dann wird Polen eine große Chance haben. Aber es wird schwierig. Und man muss schnell denken, denn die Europäische Union wird in Kürze den gesamten Balkan aufnehmen und die Mittel dorthin transferieren. Wenn Polen dies nicht tut, wird in dem Moment, wenn die Polen diese Mittel zurückgeben, Angst, Schrecken und Elend ausbrechen.

 

Special Reports / Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Es wird Zeit, dass wir der globalen Wirtschaft die Stirn bieten

Richard Sennett · 5 March 2013
Richard Sennett im Gespräch mit Jakub Krzeski

Jakub Krzeski: In ihrem Buch „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“, das unlängst in Polen erschien, beschäftigen Sie sich vor allem mit dem institutionellen Mangel an Respekt gegenüber dem Individuum. Hintergrund ihrer Überlegungen ist das US-amerikanische Sozialsystem und nicht der europäische Kontext. Wie stellt sich dieses Thema aus der Sicht der Staatsschuldenkrise im Euroraum dar?

Richard Sennett: Überlegen Sie nur einmal, wie man versucht, die griechische Finanzkrise zu erklären. Man sagt, dass die Griechen ihre Steuern nicht zahlen, dass sie von der Schattenwirtschaft abhängig sind und sich auf die staatlichen Sozialleistungen verlassen. Man verwendet kulturalistische Argumente, um die dortige Finanzkrise zu erklären und die Unterdrückung der Ärmsten und Schwächsten zu legitimieren. Die Tatsache, dass jemand Grieche ist, stellt für die Banken einen ausreichenden Grund dar, ihn schlecht zu behandeln. Als ein Beispiel können hier die Äußerungen von Angela Merkel dienen. Wenn sie sagt, die Griechen müssten härter arbeiten, um die Krise zu überwinden, nimmt sie die Banken damit de facto aus der Verantwortung. Genau das meine ich, wenn ich von einem institutionellen Mangel an Respekt rede.

Man kann aber doch argumentieren, dass die Deutschen hart arbeiten und gewissenhaft ihre steuerlichen Pflichten erfüllen – und im Gegenzug wird ihnen das Geld aus der Tasche gezogen, damit andere ihre Schulden bezahlen können. Aus dieser Sicht ist Merkels Ungeduld gegenüber Griechenland doch verständlich.

Ich kann solche Argumente nur sehr schwer nachvollziehen. Ich denke, dass es sich die Deutschen sehr einfach machen. Zum Glück denken nicht alle so, wie Sie es schildern, aber in dieser Haltung äußert sich ein gewisses Gefühl einer kulturellen Überlegenheit, um es einmal milde auszudrücken. Dabei sind weder die Deutschen noch die Griechen für die Krise verantwortlich. Wenn man schon jemanden dafür zur Verantwortung ziehen möchte, dann die Banken. Goldmann Sachs, die ungeheure Summen an den griechischen Schulden verdient haben. Wenn ich Grieche wäre, würde ich niemandem etwas zahlen. Ich sehe keinen Grund, warum ein Volk, das von seiner eigenen Elite und von den Bankiers über den Tisch gezogen wurde, die Schulden einer reichen Klasse von Kapitalisten begleichen sollte.

Wenn eine Rückzahlung der Schulden nicht infrage kommt, wie kann man dann die Wirtschaft wieder in die Spur bringen?

Eine institutionelle Lösung wäre, verstärkt auf kleine Unternehmen zu setzen und nicht auf große internationale Konzerne. Die globale Wirtschaft von den Finanzmärkten abzukoppeln. Das ist nicht sehr wahrscheinlich, aber wenn wir das Ausmaß der Finanzspekulationen begrenzen, könnten wir damit eine gewisse Stabilität herstellen. Das Problem ist, dass wir es zusätzlich mit einer Krise des Kapitalismus an sich zu tun haben. Institutionen wie die Weltbank lassen sich nicht davon überzeugen, dass es unbedingt notwendig ist, den Finanzkapitalismus einzudämmen und ihm ein sozialeres Antlitz zu verleihen.

Sie selbst glauben nicht an die Wahrscheinlichkeit institutioneller Reformen – können wir also damit rechnen, dass es in Zukunft keine weiteren Erschütterungen der weltweiten Finanzmärkte mehr geben wird?

Es sieht ganz so aus, als würden wir es in nächster Zukunft mit weiteren Zusammenbrüchen zu tun bekommen. Wir haben noch mindestens fünf Jahre der Krise vor uns, bis sich ein breiter gesellschaftlicher Widerstand gegen solche Vorgänge wie zuletzt in Griechenland regen wird. Was mich bei dieser ganzen Krise am meisten beschäftigt, ist die Frage, warum es heute so schwer ist, die Menschen zu Protestkundgebungen zu mobilisieren. Die ganzen Occupy-Bewegungen sind zwar wirklich schön, aber bisher doch ein Phänomen mit einer sehr begrenzten Reichweite, dabei müssten wir längst zu wirklich radikalen Mitteln greifen. Wir müssten die Bankiers ins Gefängnis stecken. Sie haben schließlich ein unvorstellbares Unrecht begangen, und doch versuchen die Menschen ständig, das alles zu rationalisieren und sich einzureden, dass es eben so kommen musste.

Das ist ein ziemlich extremer Standpunkt, ich denke einmal, sie sprechen von einem bestimmten Kreis von Personen, denen man eine juristische Schuld nachweisen könnte … Ich würde vorschlagen, dass wir die Situation einmal aus einer weiteren Perspektive betrachten. Könnten Sie vielleicht versuchen, eine Landkarte der sozialen Ungleichheiten im heutigen Europa zu zeichnen?

Ganz sicher würde sich meine Landkarte kaum mit der vorherrschenden Meinung decken. Also der Unterscheidung zwischen dem reichen Norden – Deutschland, Skandinavien, Großbritannien und Frankreich – und den ärmeren Nachbarn im Süden. Diese Karte ist falsch. Es reicht nicht, einfach nur das Wohlstandsniveau und das Bruttoinlandsprodukt miteinander zu vergleichen. Für eine solche Darstellung sind wesentlich differenziertere und subtilere Methoden notwendig. In vielerlei Hinsicht ist Großbritannien heute eine ungleichere Gesellschaft als Spanien.

Es ist schwer vorstellbar, dass ein Land wie Spanien, das seit Jahren in der Krise steckt und in dem die Arbeitslosenquote bereits bei fast 25 Prozent liegt, zurzeit eine gleichere Gesellschaft sein soll als Großbritannien. Wie ist das möglich?

Wenn wir auf soziale Ungleichheiten zu sprechen kommen, sehe ich die größte Bedrohung im Problem des Humankapitals, also der Chancengleichheit. Glauben Sie es mir oder nicht, aber ein junger Mensch in Großbritannien, der gerade sein Studium abgeschlossen hat und seine ersten Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt sammelt, hat wesentlich geringere Aussichten, eine seiner Ausbildung entsprechende Anstellung zu finden, als in Spanien. In Spanien gibt es trotz der dramatischen Jugendarbeitslosigkeit nach wie vor eine Beziehung zwischen der beruflichen Ausbildung und der Chance auf eine angemessene Beschäftigung. Dagegen wird die Kluft im Humankapital in Großbritannien und den USA immer größer.

Warum ist das so?

Das britische und US-amerikanische Bildungssystem ist darauf ausgerichtet, die Menschen auf eine Tätigkeit in jenen Berufen vorzubereiten, die diese ganze neoliberale Maschinerie in Gang halten. Man hat dabei übersehen, dass das Outsourcing in Entwicklungsländer nicht vor den attraktiveren Arbeitsplätzen haltmachen wird, und geglaubt, dass diese schon irgendwie in Europa bleiben werden. Das war eine katastrophale Fehleinschätzung. Dies wird zum Beispiel in der Computerbranche sichtbar. Es gibt bei uns eine ungeheure Zahl von Studiengängen, in denen junge Leute zu Programmierern ausgebildet werden. Doch anstatt ihnen anschließend eine Arbeit zu geben, ist es wesentlich rentabler, einen indischen oder israelischen Informatiker anzustellen. Das schlägt sich nicht in der Qualität nieder, sondern ist einfach viel günstiger. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich in Ländern wie Brasilien, Indien, der Türkei und China eine Klasse hochqualifizierter Spezialisten herausgebildet, die Europa zuarbeiten, aber nicht in Europa arbeiten. Zusätzlich wird bei uns ständig das System der Überwachung von Arbeitnehmern ausgebaut, um die Qualität ihrer Arbeit zu kontrollieren. Die Arbeitgeber haben Angst, dass die Menschen einfach eine ruhige Kugel schieben, wenn man ihnen zu viel Freiraum lässt. Also werden sie wöchentlich und immer öfter sogar täglich kontrolliert.

Sie zeichnen da ein sehr pessimistisches Bild. Es lässt sich kaum bestreiten, dass wir immer mehr auf uns selbst angewiesen sind. Was können wir also tun?

Ich setze meine ganze Hoffnung auf die Zivilgesellschaft. Denn den Glauben daran, dass die Politiker eines Tages beginnen könnten, sich um das Wohl der einfachen Leute zu sorgen, habe ich längst verloren.

Und was ist mit der Europäischen Union? Wäre es nicht ihre Aufgabe, eine solche Gesellschaft zu schaffen?

Darüber streite ich mich schon seit vier Jahren mit den Menschen in den EU-Institutionen. Sie finden die Idee toll, aber tragen überhaupt nichts zu ihrer Umsetzung bei. Vom Prinzip her hätte die EU nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, eine solche Verantwortung zu übernehmen – bisher jedoch ist ihre passive Haltung lediglich ein weiterer Beleg dafür, dass sich die Politik immer weiter von den Menschen entfernt.

Wo können wir also nach Inspirationen suchen?

Wir sollten aus den Erfahrungen lernen, die die Menschen in Mittelosteuropa zur Zeit des Kommunismus gemacht haben. Sie haben es verstanden, ihre Lebensbedingungen selbst zu verbessern, trotz aller Widrigkeiten und vor allem ohne die Hilfe der Politik. Jetzt, da wir einem neuen Herren dienen, jener kapitalistischen Bestie, stehen wir vor genau derselben Notwendigkeit. Wir müssen uns selbst um uns kümmern, weil die Regierungen sich von dieser Aufgabe zurückgezogen haben. So wie es in den Achtzigerjahren galt, sich dem Staat zu widersetzen, um eine Zivilgesellschaft zu schaffen, ist heute, dreißig Jahre später, die Zeit gekommen, der globalen Wirtschaft die Stirn zu bieten.

Die heutige Situation unterscheidet sich diametral von der Erfahrung des Kommunismus zum Beispiel in Polen …

Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel geben. Ich war seinerzeit sehr aktiv in den amerikanischen Gewerkschaften tätig. Diese Institutionen haben nicht nur für eine bessere Bezahlung ihrer Mitglieder gekämpft, sondern auch für ihre sozialen Belange. Sie haben eine medizinische Versorgung auf die Beine gestellt, eine Betreuung von Kindern berufstätiger Mütter und auch eine Betreuung älterer Menschen. Wenn solche Institutionen die Notwendigkeit erkennen, über ihre traditionelle ökonomische Rolle hinauszugehen und sich in gleichem Maße um die alltäglichen Probleme ihrer Mitglieder zu kümmern, werden wir eine wirkliche Chance zur Stärkung und Erneuerung der Zivilgesellschaft erhalten.

Special Reports / Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Ein gespaltenes Europa?

Jacek Saryusz-Wolski · 5 March 2013
Im geopolitischen Sinne bildet sich vor unseren Augen eine Union der zwei Geschwindigkeiten und zwei Legitimitäten heraus.

Wird dieser Prozess nicht aufgehalten, wird sich um die Eurozone, die die Integration vertieft, ein Ring aus den übrigen Mitgliedsländern bilden, die mit dem davoneilenden Zentrum nicht mehr mithalten können.

Das Vertrauen wieder aufbauen

Der wirtschaftliche Kollaps hat das Ungleichgewicht und die Schwächen der europäischen Konstruktion enthüllt. Er hat auch die Ausmaße der Wohlstandsstaaten enthüllt und zwingt dazu, diesen Wohlstand zu revidieren. Die Strukturreformen, die die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft sowie ihre Innovativität beeinflussen, sind notwendig, wie schmerzhaft sie auch immer sein mögen. Sie bedeuten ganz und gar nicht ein Abwenden von der Legitimität der EU, die auf Wohlstand basiert, sondern ihre Neudefinierung und die Einführung von Regelungen, die einhaltbar sind, ohne dass die Gesamtkonstruktion in Gefahr gerät.

Jahrelang haben die europäischen Gesellschaften mehr ausgegeben als sie eingenommen haben, während die Politiker die verantwortungsvolle Verwaltung öffentlicher Gelder auf dem Altar des Wahlkampfes opferten. Der Wille, den Wünschen der Gesellschaft und dem Versprechen eines allgemeinen Wohlstandes gewachsen zu sein, hat in vielen Ländern zu einer Überschuldung von Staat und Banken geführt- dies ist die Antithese zur Sorge um das Gemeingut.

Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen Europa zu kämpfen hat, ist es oft schwer, die negativen Folgen langjährigen verantwortungsloser Entscheidungen von Mitgliedsländern, Banken und den Bürgern selbst von reinen EU-Maßnahmen zu unterscheiden. Insbesondere, weil auf das symbolische „Brüssel“ oft die Schuld für Phänomene geschoben wird, auf die Brüssel im Grunde keinen Einfluss hatte. Diese Verformung der Rolle der EU ist besonders in der entstellten öffentlichen Debatte in Großbritannien zu sehen, sie kommt aber auch in anderen Ländern vor, unter anderem in Polen.

Ein gutes Funktionieren der neuen Konstruktion der Wirtschafts- und Währungsunion in der Zukunft (hoffentlich erweitert auf alle Mitgliedsstaaten, die dies wollen), in ihren neuen Dimensionen wie die Fiskalunion, die Bankenunion, die wirtschaftliche und politische Union, wird ein wichtiges Legitimationselement des europäischen Projektes sein. Dann wird neben der formalen demokratischen Legitimation, die auf demokratischen Entscheidungsprozeduren basiert, deren wichtigste Stütze und Hoffnung das Europäische Parlament ist, noch einmal die sogenannte Output-Legitimation an Bedeutung gewinnen, sprich die Fähigkeit des europäischen Systems, Sicherheit und Wohlstand zu garantieren.

Das Zentrum entfernt sich

Auf diese Weise wird als Konsequenz der Krise oder vielleicht dank der Krise die mögliche weitere Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses skizziert. Leider ist dieser Prozess nicht frei von Schwachpunkten. Er kann dazu führen, dass ein halbherziges Europa entsteht, das gespalten ist, teilweise flach und territorial reduziert. Deutlich präsent sind nämlich die Absichten, zu einem kleinen karolingischen Europa zurückzukehren, sich zurückzuziehen von der Erweiterung zugunsten einer engeren Integration im Rahmen der Eurozone selbst, hauptsächlich in Westeuropa. Die Wiederherstellung der Teilung Europas in die Eurozone und die übrigen Mitgliedsländer, stellt derzeit die größte Gefahr dar.

Beunruhigend ist die wachsende Solidarität der Eurozone auf Kosten der allgemeinen Solidarität in der EU. Sie stellt die Integrativität und die Legitimation der gesamten Gemeinschaft infrage. Unterdessen denkt man in manchen Kreisen der sogenannten alten EU immer häufiger darüber nach, separate Institutionen für die Eurozone zu gründen und ihr das Recht auf Selbstbestimmung und ein separates Budget zu gewähren. Eine Spaltung kann also Institutionen mit grundlegend gemeinschaftlichem Charakter betreffen, indem sie zwei diametrale Solidaritätslevel sowie zwei divergente ökonomische Zielrichtungen hervorbringt – die der Eurozone und die schwächere, eingeschränkte, die weniger ausgerichtet ist auf beispielsweise Sozialfragen innerhalb der 27, bzw. bald schon 28 Staaten.

Im geopolitischen Sinne bildet sich jedoch vor unseren Augen eine Union der zwei Geschwindigkeiten und der zwei Legitimierungen heraus. Wenn dieser Prozess nicht aufgehalten wird, wird die Eurozone, die die Integration vorantreibt, bald von einem Ring umgeben sein, bestehend aus den übrigen Mitgliedsländern, die mit dem davoneilenden Zentrum nicht mehr mithalten können.

Die Perspektive eines gespalteten Europas, mit einer doppelten Legitimation, birgt die Gefahr, dass sich zwei verschiedene Varianten herausbilden für die Umlegung dieser Werte auf konkrete Entscheidungen, die gemeinsam getroffen werden. Polen steht heute vor einer fundamentalen und strategischen Wahl – entscheiden wir uns für die Peripherie oder für den Kern der europäischen Integration; geben wir uns zufrieden mit einer Legitimation, die auf die „Brüssel-Gelder“ reduziert ist, die nebenbei gesagt zusammenschrumpfen werden, oder suchen wir sie im europäischen zivilgesellschaftlichen Modell sowie im gemeinsamen Wertekanon?

Special Reports / Der Traum vom Wohlfahrtsstaat

Wenn kein Sozialstaat, was dann?

Łukasz Pawłowski · 5 March 2013
Von allen Seiten hören wir, dass das bisherige Modell des Sozialstaates, das nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa aufgebaut wurde, Veränderungen erfordert.

Als während der Eröffnungszeremonie zu den Olympischen Sommerspielen im Olympiastadion in London plötzlich Dutzende als Krankenschwestern verkleidete Schauspielerinnen auf den Rasen liefen und ihre kleinen Patienten bettfertig machten, lobten die Zuschauer nicht nur in Großbritannien die Veranstalter für die schöne Hommage an das britische Gesundheitswesen, die durch die Blume an den britischen Wohlstandsstaat gerichtet war. In Wirklichkeit aber war nicht nur diese Szene, sondern die gesamte Zeremonie eine Hommage an ein Großbritannien, das inzwischen fast der  Vergangenheit angehört. In den idyllischen englischen Landschaften ist nach der Zeit der Imperialmacht die Zeit – so der Regisseur des Spektakels Danny Boyle – zum Abschied vom Wohlfahrtsstaat gekommen, einem weiteren Element der britischen Identität.

Von allen Seiten hören wir, dass das bisherige Modell des Sozialstaates, das nach dem zweiten Weltkrieg in Westeuropa aufgebaut wurde, Veränderungen erfordert. Wie nämlich soll man einen starken Staat aufbauen, der nach dem Ausgleich gesellschaftlicher Unterschiede strebt, wenn der Einfluss der Politiker auf das Schicksal der Länder zurückgeht, weil internationale politische und wirtschaftliche Institutionen immer mehr zu sagen haben; wenn die Gesellschaften immer unterschiedlicher werden, was wiederum die soziale Solidarität schwächt; wenn die demografischen Zahlen zeigen, dass die Aufrechterhaltung der Sozialfürsorge auf dem derzeitigen Niveau nicht möglich ist? Seit Jahren wird eine Frage immer wieder gestellt: Wie den immer größer werdenden Staat mit dem – von schließlich fast allen politischen Kräften geschätzten – Ideal der individuellen Freiheit und der Selbstverwirklichung in Einklang bringen?

Ein Teil der auf diese Weise an die Wand gedrückten Linksliberalen antwortet, die einzige Lösung sei die Rückkehr zur aktiven Bürgergesellschaft, die Entmachtung der zentralen Institutionen und ihre Übergabe an die möglichst niedrigste Ebene: an starke, von unten organisierte gesellschaftliche Gruppen. Eine solche Lösung soll zumindest in der Theorie eine Antwort sein auf die Mehrheit der zuvor erwähnten Phänomene, die das bisherige Modell des Sozialstaates untergraben. Erstens führt eine solche Lösung zu Einsparungen, weil der bürokratische Apparat verkleinert wird. Zweitens gibt sie angesichts der wachsenden Unterschiede der modernen Gesellschaften den lokalen Strukturen die bei der schnell wechselnden Zusammensetzung und für die Lebensbedingungen lokaler Gemeinschaften notwendige Flexibilität. Drittens führt die Aktivierung der Bürger auf lokaler Ebene zum Wiederaufbau zerrissener gesellschaftlicher Bindungen und Hilfsnetzwerke. Im Endeffekt schafft es neue Möglichkeiten für die Pflege der jüngsten und ältesten Gemeinschaftsmitglieder, und kann dabei zumindest teilweise zur Änderung ungünstiger demografischer Trends beitragen. Und viertens gibt diese Lösung dem Volk die Macht, dem Individuum mehr Freiheit, und sie macht den Staat nicht nur kleiner, sondern auch transparenter. Gleichzeitig gestattet sie der Linken, dem Vorwurf zu entgehen, sie würde einen zu großen und „überfürsorglichen“ Staat bauen.

Alle oben aufgeführten Argumente sind in Großbritannien auf besonders fruchtbaren Boden gefallen. Ein Teil der dortigen Linken, der enttäuscht ist von der Niederlage von Tony Blairs „drittem Weg“ hat diese Argumente unterstützt, obwohl sie von David Cameron stammten, dem Leader der Konservativen Partei, der mit dem Motto „Aufbau einer großen Gesellschaft“ (Big Society) in die Parlamentswahlen ging. Noch 2010 hatte der ehemalige Abgeordnete der Labour Party und Professor der Universität in Oxford,David Marquand, in  Kultura Liberalna den „kritiklosen Etatismus“ seiner früheren Gruppierung angegriffen. Den Regierungen Blair und Brown warf er vor, einen „zwanghaften Sozialstaat zu schaffen, der dem Individuum um keinen Preis die geringste Selbständigkeit gestatten will“. Er verteidigte Cameron, indem er behauptete, dessen Appell sei ein interessanter Gedanke „auf der Suche nach einem Weg, der die individuelle und die soziale Sichtweise verbindet“, und nicht nur ein angenehmer Deckmantel für die radikalen Kürzungen von Sozialausgaben und für die Entlastung der staatlichen Schultern, von denen die Verantwortung für die Geschicke der Gesellschaft genommen wird. Obwohl viele Sympathisanten der britischen Linken und Liberalen bereits damals Big Society für eine umgearbeitete Version des Anti-Etatismus von Margaret Thatcher hielten, sah Marquand in den Reden von Cameron den Einfluss des klassischen britischen liberalen Gedankens, der gerade in der Stärkung der lokalen Gemeinschafen die Möglichkeit zur Verbindung der individuellen Freiheit mit gesellschaftlicher Harmonie und notwendiger Flexibilität für die Anpassung an die sich verändernden Lebensbedingungen sah. Marquand ist wie der Autor des vorliegenden Textes der Meinung, dass anstatt sich auf die Aushängeschilder von Parteien zu konzentrieren, dieser neuen Macht Gelder für die Verwirklichung von Wahlverspechen gegeben werden sollten.

Zwei Jahre später und nachdem Hunderte Millionen Pfund aus dem Budget gestrichen wurden, ist die Idee vom Aufbau eines neuen Wohlfahrtsstaates auf den Fundamenten der Big Society keinen Millimeter weitergekommen. Der Staat zieht sich aus immer mehr Bereichen zurück und hinterlässt im Gegenzug nichts. Die Träume der dem Etatismus abgeneigten Linksliberalen, geringgeschätzt von der Konservativen Partei, landen zum wiederholten Mal in einem ideellen Gefrierschrank. Der Leader der Labourparty hatte seinen Kampf gegen die Krise bereits auf dem – notabene konservativen – Ideal der allgemeinnationalen, und nicht lokalen Solidarität aufgebaut.

Wer auch immer diese lokalen Ideale wieder ans Tageslicht holt, muss die Grenzen zwischen lobenswerter Aktivität von unten und der bequemen Entscheidung, die Menschen sich selbst überlassen, besser definieren.

Die Niederlage von Big Society in Großbritannien sollte nicht nur für die britische, sondern auch die europäische Linke eine Lehre sein. Sie könnte auch für die polnische Linke eine Lehre sein, wäre da nicht die Tatsache, dass die polnische Linke, oder zumindest ihre Repräsentation im Parlament, nicht nur keine schlüssige Gesellschaftsvision für die Welt nach der Krise erarbeitet hat, sondern eine solche große Erzählung nicht einmal zu kreieren versucht. Die linken Politiker die seit Jahrzehnten in der polnischen Politik unterwegs sind – wenn auch seit fast zehn Jahren in der Opposition – sind immer weniger an Ideen, dafür immer mehr an einem zeitweiligen politischen Spiel interessiert.

Special Reports / Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien

Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien

Karolina Wigura · 18 December 2012

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[ Wersja polska / polnische Version ]

Sehr geehrte Damen und Herren,

1936 brannte ein architektonisches Wunderwerk nieder, der Kristallpalast in London. Die aus Gusseisen und Glas errichtete Konstruktion war eine der größten Attraktionen der englischen Hauptstadt. Vor einigen Jahren verglich Peter Sloterdijk, der bedeutendste lebende deutsche Philosoph, die Europäische Union mit ebenjenem Kristallpalast.

In seiner berühmten Metapher wertete Sloterdijk die Einigung des alten Kontinents als Versuch der Errichtung einer Wohlstands- und Sicherheitssphäre, einer immunologischen Schutzzone zur Abwehr von Krankheiten und Bedrohungen.

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Special Reports / Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien

Die Europäische Union ist ein Club der gedemütigten Imperien

Peter Sloterdijk · 18 December 2012
Wir sind an Bord eines Schiffes gegangen, dessen Kapitäne im Streit miteinander liegen, und niemand weiß, welcher Kurs eingeschlagen werden wird, sagt Peter Sloterdijk, einer der wichtigsten Philosophen unserer Zeit, im Gespräch mit Karolina Wigura

Karolina Wigura: Wer ist ein guter Europäer?

Peter Sloterdijk: Ich kann Ihnen sagen, wer kein guter Europäer war. Wie Sie sicher wissen, versetzte die polnische Kavallerie im Jahr 1683 bei Wien der türkischen Armee den  entscheidenden Schlag. Die Polen retteten die katholische Identität dieser Region. Ohne sie wäre Österreich früher oder später islamisiert worden und das restliche Europa hätte sich in ernsthaften Schwierigkeiten befunden. Angeblich soll Ludwig XIV. sich bei der Nachricht, dass die Polen zusammen mit den Österreichern die Türken aufgehalten hatten, für drei Tage in seinen Gemächern eingeschlossen und vor Wut geweint haben. Und das, obwohl er selbst römisch-katholischen Glaubens war. Er war kein guter Europäer! Das beweist, welch langen Weg wir seit dieser Zeit zurückgelegt haben.

KW: In der Tat, ich kann mir den französischen Präsidenten kaum weinend vor Wut vorstellen, weil sich zum Beispiel erwiesen hat, dass die Wirtschaft Polens sich gut auf die Wirtschaftssysteme der Nachbarländer auswirkt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass das westliche Europa nicht in Enthusiasmus verfällt, wenn Polen den Willen äußert, mit den Staaten der Eurozone am selben Tisch Platz zu nehmen. Sogar in der derzeitigen Krise.      

PS: Ja, denn auch wenn die Europäer nach 1945 unter starken Druck geraten waren, ihre Situation zu begreifen, standen sie zunächst vor einem Fiasko. Nach 1945 gab es kein Europa. Es gab nur im europäischen Gebiet angesiedelte historische Akteure; keine Europäer, sondern die Erben unterschiedlicher nationaler Imperialismen. Das Europa der Vorkriegszeit war ein merkwürdiges Konglomerat von sechs, vielleicht sieben hauptsächlich auf der Grundlage von Nationalstaaten organisierten Imperialismen. Darunter waren heute vollkommen in Vergessenheit geratene Imperialismen, wie der belgische. Wenn wir heute „Belgien“ sagen, denken wir nur an Schokolade und das Chaos im dortigen Parlament. Kaum jemand erinnert sich, dass der belgische König im Jahr 1900 die Herrschaft über ein Gebiet von zwei Millionen Quadratkilometern innehatte! Im 19. Jahrhundert wollten die Deutschen ebenfalls ein Imperium errichten, ähnlich ging Katharina die Große aus Russland und auch andere vor. Eine solche Agglomeration konnte keine kohärente Einheit bilden, weder in politischer noch in religiöser Hinsicht. Später richteten die beiden Weltkriege den Kontinent zugrunde. Europa ist das Ergebnis einer Explosion, es ist ein Club der besiegten Imperien. Seine psychopolitische Analyse müsste bei dem grundlegenden Wort Demütigung begonnen werden.

KW: Sie haben jedoch gesagt, die Europäer hätten ihre Situation nicht begriffen.

PS: Als die Europäische Union entstand, anfangs als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, setzte man sich ganz minimalistisch das Ziel, dass jeder Staat in Ruhe seine Kriegswunden lecken können sollte. Die Folge war, dass jeder seine eigenen postimperialistischen Träume träumte, anstatt richtige programmatische Arbeit zu leisten, die vonnöten war, wenn Europa zu einer neuen Art politischer und zivilisatorischer Gemeinschaft werden wollte. Es wurde nur unentwegt über Frieden und Freiheit geredet, über Einheitlichkeit und Verschiedenartigkeit, man vertraute darauf, dass Politik und bürgerliches Engagement sich aus der Eintönigkeit heraus herstellen ließen. Deshalb ist es uns nicht gelungen, den Amerikanern den großen Gründungsmythos wieder zu nehmen, den sie Europa ganz einfach gestohlen hatten.

KW: Sie meinen den Aeneas-Mythos, nicht wahr?

PS: Richtig, den Mythos von Aeneas, dem Sohn eines trojanischen Prinzen und Sohnes von einem Geliebten der Venus. Die Götter führten ihn von Osten nach Westen, damit er im Latium eine Stadt namens Rom gründete. Der erste Römer war ein Trojaner – das ist ein eigentümliches Paradox. Er ließ alles zurück und begann ganz von vorn. Ich nenne das den Mythos der zweiten Chance. Die Europäer, die sich selbst besiegt hatten, die der Tod, die Gegner, die Geschichte besiegt hatte, erhielten eine solche Chance nach dem Krieg. Europa sollte ein Kontinent der Regeneration sein. Eine Chance auf die „Emigration“ aus den engen nationalen Identitäten in eine weiter gefasste – die europäische.

KW: Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, die Amerikaner hätten den Mythos gestohlen?

PS: Auf jedem amerikanischen Dollar ist ein Zitat aus Vergil zu finden. Das heißt, dass bereits die Iren, die die amerikanische Küste im 18. Jahrhundert erreichten, den Mythos der zweiten Chance im wörtlichen Sinne mit ihrem Körper und ihrer Seele personifizierten. Nach 1945 hingegen übernahmen die USA zusätzlich das, wovon die ganze gedemütigte Familie der europäischen Imperien träumte: Sie wurden zu einer Weltmacht. Um überhaupt irgendetwas damit zu machen, hätten die Europäer laut darüber sprechen müssen, das verkünden müssen, was ihnen gegeben worden war, denn der Mythos der zweiten Chance ist in Wirklichkeit ein europäischer Mythos und kein amerikanischer. Das hätte eine antidepressive und lebensspendende Wirkung gehabt. Es hätte die Europäer von Portugal bis Polen von dem gemeinsamen Projekt überzeugt.

KW: Über Ihre Interpretation des Aeneas-Mythos habe ich mit Bassam Tibi gesprochen, einem syrischen Politologen, der einige Jahrzehnte in der BRD verbracht hat. Er sagte mir, dass seiner Meinung nach die Realität der echten europäischen Immigranten nicht beneidenswert sei, auch wenn die Metapher von der „Emigration nach Europa“ Ihnen selbst als einer aus Westdeutschland stammenden und dort aufgewachsenen Person anziehend erscheinen möge. Ich persönlich meine, dass dieser oder auch jeder andere Mythos richtig interpretiert werden würde und wir den Amerikanern nichts wegnehmen müssten, wenn es für die Europäer überzeugende nicht-ökonomische, nicht-politische Grundlagen für die EU gäbe.  

PS: Sie haben recht, und genau aus diesem Grund befinden wir uns heute in einer solch unglücklichen Lage. Die Europäische Union ist theoretisch eine Art politischer Union, einer Währungs- und quasi-zivilisatorischen Union, aber in erster Linie ist sie ein Konsum- und Sicherheitsverband. Wir haben sogar eine neue Form des Kapitalismus erfunden, einen eigentümlichen Kreditismus, dessen Mechanismus auf Zinsen und nicht auf Kapital beruht. Wir alle führen ein Leben getrieben von Zinsstress, das ist eben der europäische Way of Life. Die EU war von Anfang an auf Geld gegründet und nicht auf ein historisches Schuldgefühl oder eine Verantwortung für die Vergangenheit. Wir haben nicht einmal bemerkt, wie sich die Transformation von Schuld in Schulden vollzogen hat.

KW: Währenddessen haben die drei Antlitze der Krise, über die laut gesprochen wird – die wirtschaftliche, die politische und die Krise der Eurozone – die Situation offenbart. Gibt es eine Chance auf die Wiederherstellung der europäischen Solidarität? In einem Ihrer letzten Bücher, „Du mußt Dein Leben ändern“, schreiben Sie in der Sprache der Biologie und der kulturellen Evolution über dieses Thema…  

PS: Als Gott Adam und Eva erschuf, wollte er keine Deutschen, Polen oder Amerikaner. Nicht, weil sie ihm nicht gefallen würden, sondern weil die Deutschen zu viel sind, die Polen zu viel sind. Die Nation, das ist zu viel. Menschen sind, nun ja, Tiere, die für die Gesellschaft von maximal hundert anderen Individuen geschaffen sind. Das sind so viele, wie jeder von uns mit bloßem Auge erfassen, mit denen er in regelmäßigem direkten Kontakt stehen kann. Erst die kulturelle Evolution hat uns urbanisiert, nationalisiert, zu Millionen zusammengeschlossen. Und weil diese riesigen Gemeinschaften für Menschen etwas Unnatürliches sind, wird ihre Existenz künstlich aufrechterhalten, indem man ihre Temperatur mit verschiedenen Methoden erhöht. Nationen sind Fieber-Kollektive. Bereits vom Morgen an haben sie eine Temperatur von gut 37 Grad. Ihr Verhalten hängt davon ab, ob diese Temperatur an dem bestimmten Tag steigt oder fällt. Starke feindselige Gefühle oder Paranoia können die Temperatur sehr rasch ansteigen lassen.

KW: Und Solidarität nicht?

PS: Eine Gruppe von hundert Personen, in der alle in direktem Kontakt miteinander stehen, braucht ganz einfach keine Solidarität. Vielleicht geht ab und zu eine Gruppe von Männern auf die Jagd und ist ein paar Tage nicht da, aber wenn sie zurückkommen, sehen die Männer ihre Frauen und Kinder, und alle sind wieder fast ununterbrochen zusammen. Da aber schon jemand aus dieser Gesellschaft nach außerhalb geht, bringt er auch die Nachricht mit, dass es noch andere Stämme gibt. Und dann stellt sich vielleicht heraus, dass es auf der Welt nicht nur hundert Menschen gibt, sondern viertausend, vielleicht sogar etwas mehr. Solange ein Stamm isoliert von den anderen lebt und den Begriff des Unterschieds nicht kennt, ist ihm der Begriff der Solidarität fremd. Wir beginnen ihn erst zu verwenden, wenn die Solidarität selbst zu einem Problem zu werden droht…

KW: Wenn die Nationen Fieber haben, warum ist dann die Europäische Gemeinschaft gerade einmal warm?

PS: Wir sind an Bord eines Schiffes gegangen, dessen Kapitäne im Streit miteinander liegen, und niemand weiß, welcher Kurs eigentlich eingeschlagen worden ist. Selbst wenn wir für das Schiff unser gemeinsames Geld geben, werden wir wahrscheinlich nicht entscheiden können, wohin wir fahren wollen. Aber vielleicht zeigt sich das mit der Zeit. Das vereinte Europa ist nur eine Agglomeration vieler sehr unterschiedlich großer Gemeinschaften. Nicht nur der Osten und der Westen unterscheiden sich stark voneinander. Südeuropa ist eine Wirklichkeit für sich, die mit den Realien des Nordens nichts gemein hat. Das ist in der Zeit der Finanzkrise besonders deutlich zu erkennen, aber in Wahrheit haben wir es auch früher schon gesehen, wenn wir ihren und unseren Lebensstil, ihre und unsere Weltsicht betrachteten. Seit der EU-Osterweiterung sind diese Unterschiede noch stärker, der ganze Organismus erinnert eher an ein heterogenes Patchwork als an ein Imperium oder eine in sich geschlossene Kultur. Wenn man Europa auf irgendeine Weise positiv beschreiben kann, dann erinnert es eher an ein großes Edukationsprojekt. Das Problem dabei ist, dass der Einsatz darin Überleben oder Untergang ist, Leben oder Tod. Und es gibt keinen Lehrer. Einige haben dessen Rolle schon übernehmen wollen, aber es ist ihnen nicht geglückt. Auch ich habe im Übrigen versucht, mich an dieser großen europäischen Didaktik zu beteiligen. Jetzt habe ich damit aufgehört, da ich keine Möglichkeit mehr zum sinnvollen Gespräch mit den Europäern sehe. Die Projekte, die hinter den Namen von Städten wie Brüssel oder Straßburg stehen, sind zu komplex, als dass eine solche Didaktik gelingen könnte.

KW: Und zu komplex, als dass die EU weiterhin bestehen könnte?

PS: Wissen Sie, wie der Wilde Westen zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aussah? Ein bunter und gefährlicher Haufen Siedler, Revolverhelden, Viehtreiber. Erst später erschienen die Sheriffs, kamen in Kutschen die Rechtsgelehrten gefahren. Sie personifizierten den Staat. Und genau diese Situation haben wir heute in Europa. Hier gibt es außerordentlich unterschiedliche Staatskulturen. Frankreich, der wohl etatistischste Staat dieser Welt. Die Deutschen mit ihrer Tradition der Staatsgewalt, die sich in der Rolle der Universalschuldigen etwas zu wohlfühlen. Die Polen mit ihrem Staat, den es nicht gab. Die Spanier, die Portugiesen, wo der Staat immer noch etwas anderes ist. Die Schweiz, in der der Staat als direkte Emanation der Gesellschaft verstanden wird. Und in dieser Situation kommen die Brüsseler Beamten und wollen eine einheitliche Ordnung erzwingen. Das wird noch sehr viel Zeit brauchen.

KW: Vielleicht sollten wir mit der Reflexion in kleinerem Umfang beginnen? Zum Beispiel, warum die Deutschen und die Polen so viele Verständigungsschwierigkeiten haben?

PS: Weil wir inkompatible Ängste haben. Und jeder unsere eigene Paranoia hegen. Das erschwert die Kommunikation sehr. Die Polen haben eine sehr starke antisowjetische, oder antirussische, Paranoia. Das ist aus offensichtlichen historischen Gründen so. Warum aber in Polen die Sache mit der Katastrophe in Smolensk noch immer nicht abgeschlossen ist, warum immer noch gestritten wird, wer wirklich für diese Katastrophe verantwortlich ist – das, glauben Sie mir, versteht nicht nur kein Deutscher, sondern niemand in ganz Westeuropa. Oder Jarosław Kaczyński und seine berühmte Behauptung, dass es ohne den Angriff der Deutschen auf Polen im Jahr 1939 heute 60 Millionen Polen gäbe und euer Land deswegen eine stärkere Position in der Europäischen Union hätte… Kaczyński wollte die Proportionen der politischen Repräsentation in den europäischen Institutionen neu bemessen, indem er Lebende und Tote mit einrechnete. Das sagt viel über Polen und über euren ganz spezifischen Wahnsinn aus, mit dem ihr wirklich großzügig umgeht.

KW: Sie sprechen von den Spielarten der polnischen Paranoia, beschränkten sich aber lediglich auf zwei Beispiele. Und was ist mit den deutschen Ängsten?  

PS: Wir haben andere paranoische Komponenten. Am meisten fürchten wir uns vor dem Unsichtbaren. Darum ergehen wir uns auf wahrhaft perverse Weise genüsslich in Reden über Epidemien, Terrorismus und Kernenergie. Die letztere übrigens, die bis vor Kurzem in den Kraftwerken auf die friedlichste Weise genutzt wurde, ruft heute bei den Deutschen mehr Sorge hervor als die russischen oder amerikanischen Atomsprengköpfe… Obwohl die Statistiken besagen, dass in den letzten Jahren aufgrund von Störungen in diesen Kraftwerken eine, vielleicht zwei Personen in ganz Europa gestorben sind. Jährlich kommen mehr Menschen durch Blitzschlag um, angeblich sogar zwölf Personen! Es sieht also danach aus, als hätten die kraft des Schengen-Abkommens geöffneten Grenzen nur zu einer teilweisen Annäherung der Nationen geführt. Wir haben unsere Ängste nicht untereinander ausgetauscht. Aber das kann sich noch ändern – wenn bis zu den Polen vordringt, dass sich Wahnvorstellungen exportieren lassen. Darin sind die Deutschen zum Beispiel Meister.

KW: Und was könnten die Polen nach Europa exportieren?

PS: In Polen gibt es etwas, das ein Westeuropäer selbst unter den gläubigsten Katholiken nicht erleben würde. Es gibt bei euch Intellektuellenkreise, die die Grenze zwischen Kirche und Nation aufheben möchten. Bei euch gibt es den Begriff einer religiösen Gemeinschaft, einer Brüderschaft, die der Struktur einer Familie oder eines Clans sehr nahekommt, die grandiose Phantasie einer homogenen Gesellschaft.

KW: Ich nehme an, Sie spielen auf die in Polen traditionelle Wortverbindung „Polak-katolik“ [Pole=Katholik] an. Dazu muss ich Ihnen jedoch sagen, dass die Vorstellung einer homogenen Gesellschaft bei den Polen, selbst den sehr gläubigen, eher ein Schaudern hervorruft, da sie sich nur zu gut an den Kommunismus erinnern. Womit Sie allerdings recht haben, ist, dass es in Polen einen gewissen Wunsch nach der Rückkehr zu einer mythischen Brüderschaft, einer Gemeinschaftlichkeit gibt. Des Weiteren wichtig für unsere Identität sind in den letzten Jahren aber auch Diskussionen über die Vergangenheit, die die traditionelle viktimistisch-heroische Vorstellung der Polen von sich selbst etwas aufbrechen: Jedwabne, also das Symbol für die dramatischen polnisch-jüdischen Beziehungen während des Krieges, das polnisch-ukrainische Verhältnis, sogar das Verhalten der Polen gegenüber den nach dem Krieg vertriebenen Deutschen…     

PS: Es wäre wunderbar, wenn ihr etwas von diesen Debatten über die Grenze hinaus exportieren könntet. Die Deutschen haben sich geradezu beunruhigend gemütlich in ihrer Rolle des Universalschuldigen eingerichtet. Die Österreicher und die Griechen exportieren das Ressentiment nach Europa. Die Ungarn – jedenfalls die antieuropäisch eingestellten – das aggressive Ressentiment. Ich kann daher nun endlich auf die Frage antworten, die Sie mir ganz am Anfang gestellt haben. Ein guter Europäer ist der, der begreift, worin seine Demütigung besteht und der seine Konsequenzen daraus zieht. Ihr Polen könnt solche guten Europäer sein. Dank eures Katholizismus und eurer historischen Traumata könnt ihr schon heute als ordentlicher Neurotiker in den Club der gedemütigten Imperien eintreten.

Special Reports / Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Karolina Wigura · 30 October 2012

Sehr geehrte Damen und Herren,

die „Krise“ war einst das täglich Brot östlich der Berliner Mauer – heute ist sie in Europa allgegenwärtig. Man könnte ironisch fragen: Ist nun auch das letzte Überbleibsel des kalten Krieges verschwunden? Haben wir uns an die permanente Krisen-Rhetorik gewöhnt?

Für den Anfang nehmen wir einmal an, dass in Europa eine dreifache Krise herrscht. Die erste war die internationale Rezession, mit der wir uns seit 2008 herumschlagen. Die zweite war die allgemeine Krise der politischen Führung in den demokratischen Staaten, die sich nicht nur in der Vereinten Gemeinschaft wahrnehmen lässt. Die dritte Krise sind die gewaltigen Probleme, mit der die Eurozone heute zu kämpfen hat.

Obwohl der Lebensstandard in vielen europäischen Ländern auf einem hohen Niveau geblieben ist, gibt es Stimmen, die behaupten, dass das Leben in der Europäischen Union immer mehr an einen Alptraum erinnert. Es genügt mit den Einwohnern der Länder zu sprechen, die von englischsprachigen Ländern beleidigend „PIGS“ (für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien) genannt werden, um sich davon zu überzeugen, dass an dieser Behauptung eine Menge dran ist.

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Special Reports / Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Die neue deutsche Radikalität

Ivan Krastev · 30 October 2012
Oft wird vergessen, dass das politische System der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf der Angst vor Totalitarismus aufbaut, sondern auch auf der Angst vor Demokratie: Schließlich hatte Hitler freie Wahlen gewonnen. Das ist der Grund dafür, dass die Furcht vor Populismus und Extremismus in der Politik in Deutschland stärker ist als anderswo.

Die Ordnung des Kalten Krieges stützte sich auf vier Staaten, über die sich wohl alles sagen lässt, außer, dass sie normal sind. Das waren die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten, Deutschland und Israel. Das Ende des Kalten Krieges bedeutete für sie einen Versuch der Normalisierung. Russland hat sie nicht ohne Probleme vollzogen – heute jedoch, mag einem Russlands Normalität gefallen oder nicht, gibt es in diesem Staat nicht viel Außergewöhnliches, und er will auch keine solche Rolle spielen. Etwas anders sieht es bei den Vereinigten Staaten und Israel aus. Die Normalisierung der USA ist nicht gänzlich möglich, denn noch immer sind sie einer der wichtigsten Punkte auf der heute multipolaren Weltkarte. Israel hingegen könnte, wollte es Normalisierung einführen, damit sein eigenes Überleben unmöglich machen.

Am schnellsten und mit den geringsten Schwierigkeiten hat sich Deutschland normalisiert. Seine Normalisierung beruht paradoxerweise zum Großteil auf der Beschränkung von Demokratie. Oft wird vergessen, dass das politische System der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf der Angst vor Totalitarismus aufbaut, sondern auch auf der Angst vor Demokratie: Schließlich hatte Hitler freie Wahlen gewonnen. Wir wissen das jedoch nur theoretisch, während Deutschland diese Erfahrung tatsächlich gemacht hat. Aus diesem Grund ist die Furcht vor Populismus und Extremismus in der Politik in Deutschland stärker als anderswo. Aus dem gleichen Grund garantiert das deutsche Grundgesetz solchen Institutionen die meisten Rechte, die nicht durch freie Wahlen entstanden sind: der Bundesbank und dem Verfassungsgericht.

Aus all diesen Gründen ist Deutschland heute in der Lage, der Europäischen Union weder die Übernahme der Vormachtstellung, noch das Verlassen der Eurozone anzubieten, sondern Demokratie, die allerdings noch eingeschränkter wäre, als in Deutschland selbst. Im Grunde ist das in der EU herrschende politische System für Deutschland aus dieser Sicht am besten geeignet. Dahinter steht etwas äußerst Radikales, was sich leicht übersehen lässt. Denn der Vorschlag Deutschlands besteht darin, ökonomische Entscheidungen außerhalb des Bereiches zu treffen, in dem Entscheidungen unter Beteiligung der Wähler getroffen werden.

Woher kommt so ein Vorschlag? Während man in den Neunzigerjahren der Meinung war, Polen und andere Länder der Region sollten eine Transformation ihres politischen Systems nach dem Muster von Spanien in den Siebzigerjahren durchlaufen, ist man heute gegensätzlicher Ansicht. Angesichts des Schweigens von Paris und London ergreift Deutschland die Initiative und sagt: „Das, was wir im Süden vorhaben, ist nichts anderes als die Transformation von Mittelosteuropa. Da gibt es nichts zu befürchten: die Bewohner von Polen und Tschechien haben gestreikt, aber die Demokratie hat überlebt. Das Drängen auf Reformen, die die Europäische Union durchgeführt hat, waren in keiner Weise ein Grund für die Delegitimisierung von demokratischen Institutionen. Im Gegenteil, die verbliebenen Institutionen wurden gestärkt.“

Deutschland ist auch deshalb fest überzeugt von der Richtigkeit des Sparprogramms und der Beschränkung der Demokratie in Bezug auf Griechenland – und das wird oft vergessen –, weil es Transformationserfahrungen mit der DDR hat. Obwohl Deutschland oft Arroganz vorgeworfen wird, ist es wahr, dass es die Mehrheit der Beschränkungen, die es anderen vorschlägt, zuerst sich selbst auferlegt hat.

Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass Berlin davon überzeugt ist, dass eine tiefer gehende Demokratisierung der EU keine gute Idee sein muss. Aus kürzlich durchgeführten Untersuchungen geht hervor, dass die Deutschen gern überschüssiges Geld beispielsweise hungernden Kindern in Afrika oder ganz einfach armen Nachbarn zukommen lassen würden. Wesentlich weniger sind sie geneigt, den Griechen zu helfen. In diesem Sinne hat die Bundesrepublik recht, dass europäische Solidarität leichter auf der institutionellen Ebene durchzuführen ist.

Zum Schluss möchte ich auf das zurückkommen, was ich bereits angeführt habe: dass der Standpunkt Deutschlands radikal ist. Eine der wichtigsten Eigenschaften der modernen Politik war bisher, dass sie die wirtschaftlichen Interessen von Individuen und Gruppen betraf. Alfred Hirschman definiert Fortschrittlichkeit als ein Spiel der Leidenschaften und Interessen, das darin besteht, die Sprache der Leidenschaften in die Sprache von Interessen zu übersetzen, und sie dann in der politischen Domäne zu platzieren und zu verhandeln (über Leidenschaften als solche ließe sich kaum diskutieren). Wenn wir annehmen, dass ökonomische Entscheidungen außerhalb der Politik getroffen werden können, stellt sich die Frage, was dann noch für die Politik übrig bleibt, außer natürlich Identitätsinteressen, die gefährliche extremistische Konnotationen haben.

Special Reports / Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Ohne ein starkes Deutschland ist die Stabilität Europas gefährdet

Clyde Prestowitz · 30 October 2012
Deutschland muss mehr Verantwortung für die Europäische Union übernehmen. Dabei denke ich erstens an die Unterstützung der Bankenunion, zweitens daran, dass endlich die denominierten Staatsanleihen in Euro mit gemeinsamen Garantien akzeptiert, und drittens andere Länder in Richtung eines wirklich integrierten Finanzmarktes innerhalb der Eurozone geführt werden müssen.

Leider sieht die Wirklichkeit anders aus. In einem gewissen Sinne spielt Deutschland im Vereinten Europa schon heute die Rolle des Hegemonen. Deutschland ist in diesem Europa der stärkste Staat und kommt wirtschaftlich am besten zurecht. Dies bedeutet jedoch keine Allmacht. Die Bundesrepublik mag das einflussreichste Land sein, aber sie ist weit entfernt von der Rolle des EU-Diktators. Aus diesem Grund bin ich nicht der Meinung, dass diejenigen, die auf die historische Gefahr hinweisen, die mit einem erstarkenden Deutschland zusammenhängen, Recht haben. Wesentlich ungünstiger wäre ein Zusammenbrechen der Eurozone. Davor sollte man sich fürchten, schließlich könnte dies die schlimmsten Folgen haben. Die Rezession, die Krise, ja selbst ein Krieg und Massen an Flüchtlingen könnten wieder nach Europa kommen – dann wäre die Stabilität des gesamten Kontinents gefährdet.

Trotz seiner einflussreichen Rolle hat sich Deutschland bisher keiner einzigen der von mir aufgezählten Aufgaben angenommen. Beunruhigend ist auch, dass die Bundesrepublik den Eindruck macht, als würde sie die Sparpolitik in Bezug auf die Peripherieländer weiter verfolgen wollen. Diese Idee hat keine Zukunft, sie führt lediglich zur Vertiefung der dort sowieso bereits vorhandenen Armut.

Berlin sollte sich darüber klar werden, dass die Existenz einer gemeinsamen europäischen Währung für Deutschland von Vorteil ist: ohne sie könnte heute nicht die Rede sein von einer großen Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Exportes. Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, dass Deutschland die Eurozone verlässt, wenn der Euro sich dadurch nicht im Verhältnis zur Mark revalorisieren würde, und die Bundesrepublik dadurch nicht in Rezession käme. Oder anderes gesagt: Der politische Bruch in Gestalt des Zerfalls der Eurozone könnte am Ende zu einer noch tieferen sowohl wirtschaftlichen als auch politischen Krise führen.

Die Ironie des Schicksals besteht darin, dass Berlin heute gebeten wird, in Europa die Führung zu übernehmen. Einige Länder flehen Angela Merkel regelrecht an, die Staatsanleihen zu übernehmen. Sie ist jedoch nicht gewillt, dies zu tun. Schauen wir einmal, wie das am Beispiel Griechenlands aussehen würde. Die Griechen beklagen sich, weil Deutschland dazu drängt, eine strenge Finanzpolitik einzuführen. Doch auf diese Weise erweitert die Bundesrepublik ihre Rolle als Hegemon gar nicht! Berlin ist nicht bestrebt, ein integriertes EU-Finanzsystem und die Staatsanleihen in Euro zu akzeptieren, die die Griechen so sehr brauchen. Im Moment sind letztere enttäuscht, denn der Prozess der Europäisierung wurde faktisch gestoppt. Deutschland festigt seine führende Rolle nicht nur nicht, sondern ist darüber hinaus auch nicht in der Lage, seine Rolle in einem breiteren Kontext wahrzunehmen.

Ihr Europäer steht heute vor einer sehr schwierigen Wahl. Für welchen Weg ihr euch entscheidet, wird jedoch nicht von Deutschland abhängen. Innerhalb des kommenden Jahres müsst ihr alle zusammen entscheiden, ob ihr ein vereinigter, starker politischer Organismus sein wollt, was wohl im Hinblick auf die Zukunft das beste wäre, oder eine Gruppe kleiner Länder, die zwar unabhängig sind, aber keine große Bedeutung haben.

Special Reports / Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Europa braucht Demokratie, keine Vormachtstellung

Karolina Wigura · 30 October 2012
Wir haben es in Europa mit einer regelrechten Palette an Krisen zu tun, die uns nicht alle ausreichend bewusst sind.

Lautstark diskutieren wir über die Krise der politischen Führung, über die Wirtschaftskrise und die Krise der Eurozone. Dennoch sind nicht sie es, die unterm Strich die dramatischsten Folgen haben können. Zwei Krisen – die des europäischen Gedächtnisses und die der Legitimierung der Europäischen Union – können wesentlich bedeutsamer werden als die Rolle der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Jahren.

In den Diskussionen zum Thema Zukunft des Euro vergessen wir recht häufig, dass die gemeinsame Währung im Vereinten Europa als ein Mittel zur Integration, und nicht als ihr Ziel, eingeführt wurde. Das Ziel der Integration war seit Anbeginn das Bedürfnis nach Garantie dafür, dass der deutsche Totalitarismus keine Chance hat, wiedergeboren zu werden. Mit anderen Worten: das Wesen der europäischen Integration und ihre stärkste Legitimation war Jahrzehnte lang die Angst vor der Vergangenheit.

In den europäischen Nationalstaaten, die trotz der Krise weiterhin demokratisch und relativ wohlhabend sind, ist das Gedächtnis heute zusammengeschrumpft auf ein Handvoll einfache Stereotypen. Ein Beispiel sind die Griechen, die beim Protest gegen den Besuch von Bundeskanzlerin Merkel in ihrem Land ihren stereotypen Vorstellungen der Deutschen als Nazis Raum gegeben haben, indem sie auf Transparenten Hackenkreuze und „Frau Merkel RAUS” gezeigt haben. Viele Menschen sagen, wenn sie hören, dass die Bundesrepublik entweder die Eurozone verlassen oder eine Vormachtstellung in der Europäischen Union übernehmen könnte: „Weder das eine noch das andere darf zugelassen werden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt schmerzlich, dass sowohl ein allzu starkes Deutschland, als auch ein Deutschland, das nicht in die europäische Zusammenarbeit eingebunden ist, für andere gefährlich werden kann.“ Dies hat nicht allzu viel zu tun mit der heutigen Realität, mit dem Zustand der deutschen Demokratie, dem Respekt für Frieden, und noch weniger mit der Einstellung der Deutschen selbst zu diesen Möglichkeiten.

Weil die Zahl der Zeugen, die sich an den braunen Totalitarismus, und derer, die sich an den roten Totalitarismus erinnern, immer kleiner wird, halten die neuen Generationen der Europäer die ursprüngliche europäische Legitimation nicht für überzeugend. Das gleiche lässt sich von den Minderheiten sagen, beispielsweise von der türkischen, oder der chinesischen, deren Vertreter – obwohl sie sich oft als Europäer empfinden – die Geschichte der Totalitarismen nicht als ihr eigenes Erbe empfinden. Die jungen Europäer hingegen – und darauf weist in den letzten Monaten Jürgen Habermas immer wieder hin, sind frustriert und fühlen sich von den politischen EU-Eliten verdrängt. Daher beispielsweise die Anti-ACTA- und die Occupy-Bewegung. Immer deutlicher ist zu sehen, dass sich die europäische Demokratie auf die Perspektive der Nationalstaaten beschränkt oder auf gut funktionierende, aber festgefahrene und bürokratische EU-Institutionen, angesichts derer beispielsweise Referenden den Eindruck machen, als wären sie den Bürgern als Sicherheitsventil hingeworfen.

Robert Dahl hat einmal gesagt, dass nationalübergreifende Institutionen meistenteils undemokratisch sind. Und auch, dass die Europäische Union lediglich der Versuch ist, für eine Übergangszeit eine Demokratie zu schaffen. Wohlgemerkt: Demokratie für eine Übergangszeit. Das heißt, dass diese Demokratie auf Zeit ist, dass sie per definitionem einem Wandel unterliegt. Im Jahr 1963 schrieb Robert Schuman über die Ziele der Europäischen Union folgendes: „Europa – das ist die Einführung einer allgemeinen Demokratie in der christlichen Bedeutung dieser Worte.“ Trotz dieser Vorboten Schumans ist Demokratie in der Europäischen Union ein Versprechen geblieben. Es ist so weit gekommen, dass sie ein Versprechen bleiben darf. Ganze Jahrzehnte lang war die Demokratie keine Legitimation Europas, es sei denn es ging um die Demokratie von Nationalstaaten.

Heute muss laut und deutlich gesagt werden, dass die Europäische Union neue Legitimationen braucht. Legitimationen, die in der Lage sind, die jungen Generationen einzubinden, sonst werden diejenigen, die diese Gemeinschaft aufgebaut und ein Land nach dem anderen in sie aufgenommen haben, niemanden haben, dem sie diese Macht weitergeben können.

Die neuen Legitimationen sollten sich vor allem durch drei Elemente auszeichnen. Erstens das Element einer gemeinsamen Erzählung. Eine, die gestattet, die derzeitigen Misserfolge einzubinden in eine Erzählung über die Entwicklung der europäischen Union, und die diese Misserfolge nicht für eine Niederlage hält. Die Europäische Union ist ein Organismus, der schon oft gehört hat, dass sein unausweichliches Ende bevorsteht. Heute, so wie all die Jahre seit der Existenz der EU, sind dies recht verbreitete Worte. Eine gemeinsame Erzählung würde eine Aussage über die Krise in einen umfassenderen Prozess der Entwicklung der Europäischen Union integrieren.

Das zweite Element wäre eine neue, föderalere Gestalt der EU, die nicht auf der Grundlage des Modells der Bundesrepublik Deutschland, und auch nicht der Vereinigten Staaten beruhen würde. Es wäre dies eine neue Form der Föderation, die auf der doppelten Staatsbürgerschaft des Nationalstaates, der weiter besteht und ein wichtiges Element unserer Identität ist, und des europäischen Staates bzw. der europäischen Föderation aufbauen würde.

Drittens ist der demokratische Bestandteil enorm wichtig. Es geht darum, außer den nationalen Volksabstimmungen, Abstimmungen auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Und weiter um die Ermöglichung der Teilnahme der Bürger am Entscheidungsprozess auf jeder seiner Etappen. Es gibt auch rein soziologische Tools, wie deliberative Umfragen oder andere Elemente der deliberativen Demokratie. Sie bestehen darin, dass Elemente der direkten Demokratie in das sehr repräsentative, sehr bürokratische, sehr steife System, das uns zur Verfügung steht, eingeführt werden.

Ohne eine solche neue Legitimation, wird das Interesse der kommenden Generationen der Europäischen Union nicht als abstraktes Projekt, sondern als realer Raum des guten Lebens, mit den Generationen, die die EU geschaffen haben, verschwinden. Wird der Wandel in diese Richtung nicht schon bald nach der Zivilisierung des Vereinten Europas beschleunigt, bleiben lediglich Scherben zurück, die im Höchstfall noch für die Archäologen der Zukunft interessant sein werden.

Special Reports / Soll sich Deutschland für die Europäische Union aufopfern?

Die Königin Europas ist ohne Nachfolger

Gertrud Höhler · 30 October 2012
Jakub Stańczyk im Gespräch mit Prof. Gertrud Höhler, der Autorin des 2012 erschienenen, bekannten Buches ”Die Patin”

Jakub Stańczyk: Angela Merkel ist heute die wichtigste Frau in Europa, wenn nicht gar in der Welt. Benutzt sie ihr Frausein als politisches Instrument?

Gertrud Höhler: Merkel begann ihre Karriere gerade deshalb mit so großem Erfolg, weil sie eine Frau war. Es ging um den Sturz von Kohl. Alle Männer in der unmittelbaren Umgebung des Bundeskanzlers wollten seinen Rücktritt, aber waren zu feige, um die Sache in die eigene Hand zu nehmen. Sie hingen an ihm, schämten sich und hatten Angst davor, irgendetwas zu unternehmen. Merkel hingegen vermochte es, schlichtweg zu sagen, dass sie mit Kohl nichts gemein haben will. Auf eben diese Weise vollzog sie eine Beschleunigung ihrer Karriere.

War sie stets so radikal?

Nein, denn damals tat sie ganz einfach etwas, was Frauen oftmals tun. Ähnlich wie in Partnerschaften, wo die Frauen es sind, die sich häufiger dafür entscheiden, den Partner zu verlassen. Und in diesem Sinne ist Merkel eine typische Frau. Aber sie instrumentalisiert ihr Frausein nicht. Sie lehnt es überhaupt ab, irgendeinen Unterschied zwischen den Geschlechtern herauszukehren. Der Spiegel hat sie einmal gefragt, ob sie große Unterschiede zwischen Männern und Frauen sehe. Sie sagte – ja. Aber bereits sechs Jahre später stellte sie fest, dass es diese überhaupt nicht gebe. Der schockierte Redakteur konnte sich noch an die frühere Antwort erinnern und fragte, ob diese Unterschiede tatsächlich nicht vorhanden seien. Sie sagte ihm, dass es vielleicht einen Unterschied gebe – Männer haben eine kräftigere Stimme. Dies war natürlich ein Seitenhieb auf Schröder, der in der Öffentlichkeit auch mal schreien konnte.

Und Merkel spricht so leise?

Wenn sie an den Rednerpult tritt, hat man sogar das Gefühl, dass sie am liebsten überhaupt nichts sagen würde. Sie spricht nur aus zwanghafter Notwendigkeit, aber dies resultiert daraus, dass sie sich in keinster Weise festlegen möchte. Sie hat ihre eigene Philosophie, die man wie folgt ausdrücken könnte: Sage nie einen Satz, den man dir einst vorhalten könnte. Aber dies könnte genauso gut eine männliche Eigenschaft sein.

Europa wird heute jedoch hauptsächlich von Männern regiert. Wie würden sie Frau Merkel als Politikerin im Vergleich zu anderen Staatsoberhäuptern einschätzen?

Sie versucht, persönlich keinerlei Entscheidungen zu treffen. Sie fährt lediglich auf Konferenzen und wacht darüber, dass bestimmte Vereinbarungen vollzogen werden und dass die Medien dies mit der Feststellung quittieren, dass hervorragende Entscheidungen gefällt wurden und die Königin Europas – das ist sie – die maßgebliche Entscheidungsträgerin gewesen ist. Die wichtigsten Entscheidungen werden hingegen unter dem Druck der verschuldeten Staaten getroffen. Man sendet ihnen Geld, aber leistet ihnen keine strukturelle Hilfe. Man gibt Kredite, aber sagt nicht, für was diese Gelder bestimmt sein sollen. Monti und Rajoy sahen ihre Chance bei der jüngsten ESM-Sitzungsrunde, als Merkel hinausging, um sich für zwei Stunden schlafen zu legen. Als sie fort war, trafen sie die Entscheidungen hinter ihrem Rücken… Merkels unglaubliche Vorsicht hängt in gewisser Weise mit ihrer nüchternen Weltsicht zusammen. Sie ist unberechenbar. Menschen, die mit ihr arbeiten, wissen, dass sie jede Position wechseln wird. Denn heute sagt sie etwas und morgen das Gegenteil.

Einerseits sagen Sie, dass Merkel sich durchschlagen kann und ihre Konkurrenz zu besiegen versteht. Andererseits sei sie unfähig, Entscheidungen zu treffen. Geht das vielleicht Hand in Hand?

Ja, natürlich. Es gibt nur niemanden, der diese Inkohärenz in ihrem Verhalten wahrnimmt. Darum habe ich das Buch geschrieben. Denn niemand sieht, dass keine einzige Entscheidung von ihr stammt. Sie verlangsamt das Tempo und bringt Veränderungen zum Stillstand – und die Deutschen sind entzückt, dass noch nichts endgültig beschlossen wurde. Ein paar Wochen später fällt die Tür ohnehin ins Schloss, aber das bekommen die Menschen dann nicht mehr mit. Merkel möchte ganz einfach so lange wie möglich an der Macht bleiben. Im Gegensatz zu ihr opferte Schröder sein Amt für ein politisches Ziel, das seine eigene Kariere kostete. Er wollte den Sozialstaat leistungsfähiger machen und Arbeitslosigkeit reduzieren. Die positiven Effekte seiner Politik sind in Deutschland bis heute erkennbar. Eine solche Situation ist für Merkel unvorstellbar. Und der Sicherheitsinstinkt von uns Bürgern wird permanent eingeschläfert, da Merkel die Ereignisse für ihre Zwecke weniger dramatisch darstellt als sie es in Wirklichkeit sind.

In ihrem Buch gehen Sie noch weiter, sie nennen ihren Politikstil autokratisch. Das klingt sehr stark. Hat die Bundeskanzlerin diesen Tadel verdient?

Merkel praktiziert autoritäre Führung. Autoritär ist gerade ihr Schweigen, die fehlende Kommunikation, die ihren Regierungsstil kennzeichnet. Dabei herrscht die Überzeugung, dass man keine Fragen stellen darf. Wenn diese Fragen auftauchen, antwortet Merkel, dass die von ihr vorgeschlagene Lösung ohne Alternative ist. Und Schluss. Darüber hinaus ändert sie Gesetze von einer Stunde zur anderen. Sie hat keinen Respekt vor dem europäischen und deutschen Recht. Das beste Beispiel ist der regierungsamtliche Umsturz in der Energiepolitik. Merkel hatte bislang völlig unjuristische Gründe für diesen Wandel: Sie wollte die Grünen schwächen, indem sie deren Postulate übernahm. Das ist ein durchdachtes Programm zur Verwischung der Grenzen zwischen den Parteien, um der parlamentarischen Demokratie zu schaden.

Sie stellen sehr gewagte Thesen auf, geben aber kaum Beispiele dafür.

Bitte sehr, die kann ich Ihnen gerne geben, was die Manipulation der Parteien angeht. In den Jahren, in denen Merkel gemeinsam mit der SPD in der Großen Koalition regiert hat, hat sie im Namen der CDU Auffassungen übernommen, die rein sozialdemokratisch sind. Die SPD konnte nichts dagegen einwenden, da es sich um ihre Ideen handelte. Die Sozialdemokraten wurden also geschwächt, obwohl die CDU daraus keineswegs gestärkt hervorging. Die Grünen haben sich bis heute noch nicht davon erholt, wie Merkel sie im Bereich der Energiepolitik quasi-enteignet hat. Lediglich den Liberalen – und das ist interessant – mit denen Merkel seit 2009 regiert, hat sie bislang nichts weggenommen. Aber Merkel regiert, ohne die Freiheit wirklich zu respektieren. Im Parlament heben alle einmütig die Hand, was herrlich anzusehen ist. Aber dieses System ist keine Demokratie mehr. Die Opposition hat zunehmend geringere Möglichkeiten des Widerspruchs. Wer nicht mit Merkel übereinstimmt, wird heftig am Ärmel gezupft und darauf hingewiesen, dass er den ”Ernst der Lage” nicht verstanden hat.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist bislang nicht geändert worden, die staatlichen Institutionen funktionieren weiterhin – und dennoch sind Sie der Ansicht, dass Deutschland keine Demokratie mehr ist? Welches sind eigentlich die Regierungsmethoden von Angela Merkel, die Sie für totalitär oder zumindest autoritär halten?

Merkel hat zum Beispiel die Mehrheit bei der Bundespräsidentenwahl mehrfach geschickt manipuliert. Sie hat dafür gesorgt, dass die von ihr gelenkten Leute dieses höchste Amt im Staate übernahmen. Denn sie steht nach unserer Verfassung nicht über diesem Amt. Sowohl bei Köhler als auch bei Wulff war dies der Fall. Erst nachdem letzterer ”abgeschossen” wurde, konnte die FDP als kleinerer Koalitionspartner die Kandidatur von Gauck durchdrücken. Dies gelang deshalb, weil Merkel die Situation nicht richtig eingeschätzt hat. Sie meinte, dass es Gauck nicht gelingen werde, angesichts der anfangs eher geringen Unterstützung dennoch Präsident zu werden. Derartige Manipulationen sind deutliche Anzeichen dafür, dass etwas Beunruhigendes geschieht. Wir Deutsche haben bereits zwei Diktaturen erlebt. Man darf nicht vergessen, dass Systemwechsel jedes mal ein anderes Gesicht zeigen. Bereits heute wandern die besten Leute und starke Firme aus dem Lande ab. Es bleiben lediglich die ewigen Ja-Sager zurück, der Raum für echte Diskussionen wird immer kleiner. Schon bald könnte deutlich werden, dass Deutschland sich in derselben erbärmlichen Lage befindet wie diejenigen Länder, die heute von uns Hilfe erhalten. Wir versprechen mehr als wir einhalten können.

Es fällt schwer, das zu glauben. Die deutsche Wirtschaft ist doch sehr stark und kann noch viel aushalten!

Auch in Deutschland schwächelt die Konjunktur. Merkel meint, dass sie diese Entwicklung mit staatlichen Subventionen verdecken kann. Die Subventionen werden natürlich von unseren Steuern bezahlt, obwohl wir Bürger immer weniger im Geldbeutel haben. Der radikale Umbruch in der Energiepolitik führt zu immer höheren Stromrechnungen, was vor allem die kleinen Leute hart trifft, die nicht über allzu viel Geld verfügen. Unsere Wirtschaft gerät in zunehmende Abhängigkeit vom Staat. Die Energiekonzerne machen hohe Verluste, und Merkel lähmt den Wettbewerb durch Stattsdiktate. Zahlreiche Beobachter vermuten, dass in dem Augenblick, in dem sich herausstellt, wer letztendlich zu den Verlierern in Europa gehört, Frau Merkel ein Amt in Brüssel übernehmen wird. Dann wird es ihr gleichgültig sein, wie Deutschland in Europa funktioniert.

Sind Sie der Meinung, dass Merkel also eine Gefahr darstellt, die man beseitigen müsste? Aber wer sollte nach ihr die Macht übernehmen?

Merkel hat keinen Thronfolger. Das kommt bei Herrschern häufig vor. In diesem Fall haben wir es jedoch mit einer Situation zu tun, in der alle jungen, ambitionierten und entwicklungsfähigen Leute die politische Bühne bereits verlassen haben. Nun, es gibt David McAllister, den Ministerpräsidenten von Niedersachsen. Er ist sehr jung und könnte ganz anders regieren. Und da ist Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière, der Merkel ersetzen könnte. Ich sehe ihn allerdings nicht in der Rolle eines echten Siegers. Als Kanzler würde er wahrscheinlich so regieren wie Merkel. Was den SPD-Kanzlerkandidaten anbelangt, so glaube ich nicht, dass da auch nur irgendeiner mit Erfolg gegen Merkel antreten könnte. Möglich wäre allenfalls eine gemeinsame Koalition von CDU und SPD, in der der SPD-Kandidat nicht Kanzler wäre, sondern natürlich Merkel selbst. In den letzten Jahren haben wir jedoch derart große Veränderungen erlebt, dass sich kaum etwas vorhersehen lässt.